Lass ihm noch ein Jahr - Predigt zu Lukas 13,1-9 von Christiane Borchers
13,1-9

Lass ihm noch ein Jahr - Predigt zu Lukas 13,1-9 von Christiane Borchers

Lass ihm noch ein Jahr

„Womit habe ich das verdient“, fragt sie sich. Sie ist krank, schwerkrank. Sie wird medizinisch behandelt. Die Behandlung ist nicht leicht auszuhalten. Sie fühlt sich hinterher schlecht und ihr ist übel. Sie hatte in den letzten zwanzig Jahren viel mit Krankheit zu tun. Deswegen musste sie ihren Beruf frühzeitig aufgeben. Sie hat ihren Beruf so gerne ausgeübt, fand Erfüllung in ihrer Tätigkeit. Sie hat sich auf ihrer Arbeitsstelle wohlgefühlt; zu den Arbeitskolleginnen und -kollegen hatte sie ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Sie war beliebt gewesen und hatte Kontakt zu den Menschen. Der Kontakt wurde nach und nach weniger, als sie ausschließlich zu Hause war. Er reduzierte sich mehr oder weniger auf die Familie und eine Freundin. „Womit habe ich das verdient?“ Um diese Frage kreisen sich ihre Gedanken. Sie hat gesund gelebt. Sie hat sich gut ernährt, sich bewegt. Sie war darauf bedacht, dass es ihrem Ehemann und ihrem Sohn gut geht. Zu ihrer Mutter hat sie ein gutes Verhältnis; ihre Brüder und deren Frauen, alle mögen sie gerne. Marlene ist eine herzensgute Frau, die es gerne mag, andere zu verwöhnen. Dabei hat sie auch sich selbst nicht vergessen, hat ihre Hobbys gehabt und gepflegt. Alles, aber auch alles, geht jetzt nicht mehr. Sie ist hilflos geworden. Dabei ist sie erst Mitte fünfzig. Sie kann es nicht begreifen, dass die böse Krankheit sie getroffen hat. Sie sucht nach Gründen, nach Erklärungen. Wenn sie wenigstens begreifen könnte, „warum“, dann würde sie vielleicht mit ihrer Situation besser fertig werden. Es muss doch einen Zusammenhang zwischen Krankheit und Schuld geben. Aber sie ist sich keiner Schuld bewusst.

Verdient hat diese Frau es gewiss nicht, dass sie so schwer krank geworden ist. Wir suchen nach Erklärungen, wenn großes Unglück oder schwere Krankheit uns treffen. Wir möchten wenigstens von ferne verstehen, warum es so ist, wie es ist. Dann könnten wir das Hadern und Zweifeln aufgeben. Dann könnten wir aufhören, uns den Kopf zu zermartern. Wir verstünden, warum uns dieser Schicksalsschlag getroffen hat. Tun und Ergehen ergäben einen Sinn. Wir suchen nach Antworten, möchten einen Sinn entdecken. Wir leiden daran, wenn wir keinen Sinn sehen.

Jesus befreit uns von diesen zermarternden Gefühlen und Gedanken. In Israel war der Gedanke verbreitet, dass jemand Schuld trägt, wenn ihn großes Unglück überkommt. „Du musst etwas Unrechtes getan haben“, werfen seine Freunde Hiob vor, „sonst würdest du nicht ein solch schweres Schicksal erleiden.“ Hiob ist sich keiner Schuld bewusst. Jesus stellt sich in diese Tradition. Niemand trägt Schuld an seinem eigenen schweren Schicksal. Aktuell wird Jesus berichtet, dass Pilatus eine Bluttat an einigen Leuten aus Galiläa angerichtet habe. Die besagten Galiläer waren nach Jerusalem gepilgert, um im Tempel zu opfern. Während sie das Opfer vollzogen, habe Pilatus sie durch seine Soldaten ermorden lassen. Pilatus hat ihr Blut mit dem Blut der Opfertiere vermischt, heißt es in der Bibel. Das löst Entsetzen aus. Die Hintergründe erläutert Lukas nicht. Ob diese Galiläer möglicherweise einen Aufstand gegen Rom geplant hatten und Pilatus den Aufstand im Keim ersticken wollte, oder ob sie arglose Pilger waren, die nur im Tempel opfern wollten, erfahren wir nicht. Auf jeden Fall erschreckt die Bluttat die Bevölkerung. Was erwarten diejenigen, die Jesus die Nachricht zugetragen haben? Dass er Stellung bezieht zu diesem furchtbaren Unrecht? Dass er das Gemetzel scharf verurteilt? Dass er über das begangene Unrecht klagt? Nichts von dem geschieht. Jesus hält den Katastrophentouristen, die ihm die Nachricht überbracht haben, den Spiegel vor: „Glaubt ihr, dass diese hingemetzelten Galiläer mehr gesündigt haben als andere? Ganz bestimmt nicht. Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen.“ Jesus erwähnt mit keinem Wort die Bluttat, nimmt die Nachricht von der Bluttat des Pilatus zum Anlass, um auf ihre eigenen Verfehlungen aufmerksam zu machen. Seht bei euch selbst hin, wie ihr lebt, wie ihr denkt, wie ihr handelt. Dient es dem Leben? Seht auf euch selbst, wie ihr Schuldzuweisungen macht, um euch selbst zu rechtfertigen. Seht auf euch selbst, wie ihr andere verurteilt, um selbst besser dazustehen. Ihr seid nicht weniger schuldig als die, die Unglück getroffen hat. Jesus fordert zur Selbstreflexion auf.

Mit einer zweiten Katastrophenmeldung warten sie auf. In der Stadt Siloah ist ein großes Unglück passiert. Ein mächtiger Turm ist dort in sich zusammen gestürzt und hat achtzehn Menschen unter sich begraben. Für die damalige Welt war klar: Diese achtzehn Menschen müssen Schuld auf sich geladen haben, sonst hätte Gott es nicht zugelassen, dass es gerade diese Menschen getroffen hat. Auch hier reagiert Jesus nicht auf das Unglück. Er warnt die Überbringer „Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr auch alle so umkommen.“ Die der Turm unter sich begraben hat, haben nicht mehr gesündigt als sie oder andere. Sie sind nicht deswegen erschlagen worden, weil sie es etwa verdient hätten. Niemand kann sagen, warum es diese Menschen getroffen hat und keine anderen.

Ich sehe sie vor mir, wie sie still werden und sich entfernen. Niemand braucht sich über andere zu erheben und ihnen Schuld zuzuschreiben, wenn diesen Leuten Schlimmes widerfährt. Das bedeutet aber auch: Niemand braucht sich selbst zu zerfleischen und bei sich selbst die Schuld zu suchen bei erfahrenem Unglück. Warum jemand schweres Unglück erleidet, weiß niemand. Warum jemand viel leiden und erdulden muss, steht nicht in unserer Hand, es sei denn, das Unglück ist von Menschen verursacht.

Jesus setzt den Tun-Ergehen-Zusammenhang außer Kraft, wo es um Schuldzuweisung geht; wo ein Mensch den anderen verurteilt. Er setzt den Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht außer Kraft, wenn es um die eigene Verantwortung im persönlichen und politischen Leben geht.

„Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle so umkommen.“

Ich behaupte: Das meiste Unglück, das in der Welt geschieht, ist von Menschen gemacht. Unterdrückung, Krieg, Flucht, Vertreibung, die Menschen ins große Unglück stoßen, beruhen auf Machtgelüsten weniger. Menschen können in ihrem eigenen Land nicht mehr leben. Sie können die Felder nicht bebauen, weil Bomben auf sie niederhageln. Sie müssen alles verlassen, weil sie Angst haben und nicht in Sicherheit wohnen können. An anderen Stellen auf der Erde bedroht die Klimaveränderung die Existenzgrundlage. Die Erwärmung der Erde hat katastrophale  Auswirkungen. Die Zonen, in denen das Land fruchtbar ist, werden geringer, die Pole schmelzen, der Wasserspiegel steigt, Inseln in der Südsee werden verschwinden. Verheerende Stürme nehmen zu. Zahlreiche Menschen sind schon jetzt existentiell von dieser Umweltkatastrophe betroffen. Die Umweltzerstörung macht auch vor den Tieren nicht Halt. Zahlreiche Tierarten stehen vor der Ausrottung. Die Erde, die uns ernährt und trägt, ist tausendfach gefährdet. Wir graben uns selbst das Wasser ab, setzen selbst die Axt an den Stamm.

„Hau ihn ab“, spricht der Besitzer des Weinberges zu seinem Gärtner. Der Feigenbaum trägt keine Frucht. Seit drei Jahren beobachtet der Weinbergbesitzer den Baum. Nicht ein einziges Mal hat er Frucht getragen. Der Weinbergbesitzer ist ein Geschäftsmann. Er will Ertrag. Wozu sonst hat er ihn pflanzen lassen. Der Feigenbaum ist unfruchtbar. Er nimmt den anderen Feigenbäumen die Kraft. Der fruchtlose Feigenbaum ist nutzlos, ein Schmarotzer, der das Wasser aus der Erde zieht. Unser Feigenbaum steht als Angeklagter da. Sein „Vergehen“ ist, dass er bisher keine Frucht getragen hat. Der Feigenbaum findet einen Fürsprecher. Der Arbeiter im Garten bittet um eine Gnadenfrist für ihn. „Gib dem Baum noch eine Chance. Warte noch ein Jahr. Ich will den Baum hegen. Ich will die Erde umgraben, düngen und wässern. Wenn er im nächsten Jahr keine Frucht bringt, hau ihn ab.“  Wir erfahren nicht, ob der Weinbergbesitzer sich auf diesen Vorschlag einlässt. Aber die Perspektive ist eröffnet, dass sich doch noch etwas zum Guten wendet. Der Baum bekommt eine Schonfrist. Mit der Unterstützung und Fürsorge des Arbeiters wird er womöglich doch noch Frucht bringen. Aber nicht nur der Feigenbaum bekommt eine Chance. Dem Weinbergbesitzer wird ebenfalls eine Chance eröffnet. Er muss nicht gnadenlos seinen wirtschaftlichen Profit durchsetzen. Dadurch, dass er diesem einen Feigenbaum noch eine Frist einräumt, wird er finanziell nicht ärmer. Er hat zwar einen geringen finanziellen Verlust, dafür aber einen großen Gewinn an Barmherzigkeit.

„Lass ihm noch ein Jahr!“ – Räume ihm noch eine Frist ein, gib ihm noch eine Gnadenfrist! Das heißt auf Buß- und Bettag übertragen: Kehrt um, lasst ab von zerstörerischen Werken. Hört auf mit Waffengerassel und Kriegsgeschrei. Hört auf, die Erde zu zerstören, hört auf, Menschen und Tieren ihre Existenzgrundlage zu rauben. „Buße tun“ ist bei uns nicht hoch im Kurs. „Buße tun“ verbinden wir mit Erniedrigung und Demütigung. Der Buß- und Bettag gerät immer mehr in den Hintergrund. Buße tun ist aus der Mode gekommen.  Vor 20 Jahren wurde er als Feiertag, an dem die Leute frei haben, abgeschafft. Seitdem feiern die Gemeinden den Buß- und Bettag an vielen Orten am Abend. Dem Buß- und Bettag ergeht es, wie dem Buße tun. Wer will schon einräumen, dass sein bisheriger Weg falsch war? Wer will schon zugeben, dass das, was er bisher propagiert hat, sich als nutzlos, gar schädlich erweist? Das Eingestehen von Fehlern wird als Versagen empfunden. Als Versager dastehen will niemand. Das gilt im persönlichen wie im politischen Bereich. Dabei wäre es überzeugender, eine Kurskorrektur vorzunehmen, wenn der Kurs nicht stimmt und in den Abgrund führt. Der verlorene Sohn kehrt um, als er merkt, dass er an seine Grenzen stößt und aus eigener Kraft nicht mehr weiter kann. Er besinnt sich auf das, was trägt und ihm eine Zukunft ermöglicht. „Buße tun“ ist ein umfassendes Umdenken, es ermöglicht einen Neuanfang und birgt eine neue Chance. Es ist noch nicht zu spät. Uns ist noch eine Gnadenfrist gegeben. Die Ernsthaftigkeit ist nicht zu übersehen. Die Frist läuft irgendwann ab. Die Erde kann nicht für immer der gewaltigen Zerstörungswucht standhalten. Kriege und Dürre machen die Erde unbewohnbar. Menschen, die ausschließlich auf Profit aus sind und keine Barmherzigkeit kennen, machen ein Gedeihen und Fruchtbringen zwischen den Menschen untereinander unmöglich. Wo wir aber Menschen nicht auf ihr Versagen festlegen, sie weder beurteilen noch verurteilen, bekommt die Menschlichkeit Raum. Wo wir uns nicht selbst zermartern,  gewinnt das Leben an Kraft. Wo wir uns fürsorglich kümmern, blühen die Erde und die Menschen auf und bringen gute Frucht. Vielleicht gibt Gott uns noch eine Gnadenfrist. Die Chance besteht. Amen. 

EG-Nr. 152: Wir warten dein, o Gottes Sohn