Predigt beim Festgottesdienst zum Reformationsjubiläum am 31. Oktober 2017 in der Schlosskirche in Wittenberg
Liebe Gemeinde,
der Evangelist Matthäus berichtet davon, dass Jesus Jünger aussendet ihn die Welt. Sie sollen vom Glauben erzählen und er gibt ihnen geradezu praktische Tipps, wie sie sich verhalten sollen. Aber er macht auch deutlich, dass sie Schwierigkeiten erleben werden. Dabei ermutigt er sie, keine Angst zu haben, sondern sich zu Gott zu bekennen. Hören wir den Predigttext für den heutigen Reformationstag, der ein so besonderer ist. Er steht im Matthäusevangelium, im 10. Kapitel, die Verse 26b bis 33:
Lesung
Drei Themen möchte ich mit Blick auf den Text aufgreifen.
Zuerst: Das Ringen um Wahrheit.
Manchmal könnten wir derzeit ja verzweifeln an all dem Hype um so genannte „Fake news“. Stimmt nun, was Donald Trump getwittert hat oder stimmt, was eine Kongressabgeordnete sagt? Ist es wahr, dass vom Dieselskandal die VW Manager schon lange wussten, oder waren sie so überrascht wie die überrumpelten Autokäufer? Immer öfter höre ich: Denen da oben glaub ich gar nichts mehr! Oder: Die Zeitungen schreiben doch nur, was sie wollen.
Da klingt es ja geradezu beruhigend, wenn Jesus in diesen Bibelversen erklärt: Nichts ist verborgen, was nicht offenbar wird und nichts ist geheim, was man nicht wissen wird! Ja, sicher, er meint damit den Glauben. Die Jünger sollen ermutigt werden, dass sich am Ende der Tage zeigen wird: Der Glaube an Jesus ist der rechte Weg zu Gott, Jesus lässt uns die Wahrheit über Gott erkennen. Jesus ermutigt diejenigen, die ihm nachfolgen wollen, dazu zu stehen, sich zu diesem Glauben zu bekennen, auch wenn es schwierig wird im Leben.
Um solche Wahrheit in Glaubensfragen ging es auch dem Reformator Martin Luther vor 500 Jahren. Als er für seine Vorlesungen intensiv die Bibel gelesen hat, wurde ihm immer mehr klar: Es stimmte schlicht nicht, was seine Kirche behauptete. Die Kirche kann nicht die Strafe für Sünden im Fegefeuer gegen die Zahlung von Geld verkürzen. Davon fand er nichts in der Bibel. Darüber wollte Luther diskutieren. Und deshalb hat er 95 Thesen verfasst und an die Tür der Kirche angeschlagen, die damals hier, an dieser Stelle stand. Vielleicht hat er die Thesen auch nur verschickt, das mag sein. Wir haben weder Beweisfotos noch ein Youtubevideo von der Situation. Aber ob angeschlagen oder nicht, die Thesen schlugen ein wie der Blitz. Wie konnte ein kleiner Professor aus Wittenberg wagen, die Lehre der Kirche anzuzweifeln?
Wahrheit wurde so zur Machtfrage. Denn trotz aller Widerstände legte Luther nach: Was ist mit dem Zölibat? Auch davon ist in der Bibel nichts zu finden! Oder: Wenn Christus unter uns präsent ist, warum brauchen wir dann einen Papst als seinen Stellvertreter? Warum soll Leben im Kloster ein besseres Leben vor Gott sein, als Leben mitten in der Welt, in der Familie, als Handwerker? Wo steht denn das geschrieben? Mit solchen Fragen hat Luther eine Auseinandersetzung angetreten, die die Kirche, aber auch ganz Europa, ja die Welt verändern sollte.
Dabei lag ihm daran, dass alle sich an diesem Streit um die Wahrheit auch beteiligen können. Darum hat er die Bibel in die deutsche Sprache übersetzt und Schulen für alle gefordert. Wahrheit ist nie ein Besitz, den ich habe, sondern wir alle je einzeln und auch eine Gemeinschaft hat, um Wahrheit zu ringen. Unsere evangelische Kirche ist deshalb eine, in der nicht ein Bischof, eine Pfarrerin oder eine Glaubenskongregation entscheidet, was richtig oder falsch ist. Nein, wir diskutieren darüber, alle miteinander. Evangelische Synoden beispielsweise sind zusammengesetzt aus Männern und Frauen, Jungen und Alten, Ordinierten und Laien. Jeder und jede hat da das gleiche Stimmrecht. Und da kann es vorkommen, dass jemand aufsteht und sagt: Ich sehe das anders. Das ist gut, das ist wichtig. Die Gemeinde ist bei uns keine schweigende, sondern sie kann, darf, ja soll sich beteiligen.
Das ist gar nicht immer so leicht auszuhalten. Manchmal schreiben mir Menschen, jetzt sollte aber jemand mal ein Machtwort sprechen. So viele Meinungen, da muss einmal ein echtes Basta! her. Wahrheit aber klärt sich, indem ich mein Gewissen je neu an der Bibel orientiere. Das war Luthers Grundsatz. Und so steht die Bibel im Mittelpunkt unseres Glaubens, wir bringen sie je neu in einen Dialog mit unserem Kontext und versuchen, Wegweisung für uns zu finden.
Der zweite Aspekt: Glaube fordert Bekenntnis
In der Geschichte der letzten hundert Jahre haben in Deutschland Menschen immer wieder ihr Bekenntnis zum christlichen Glauben. Ich denke beispielsweise an einen Mann im christlichen Widerstand gegen das Hitlerregime: Friedrich Weißler. Er war Bürochef der Bekennenden Kirche. 1936 gibt er einen kritischen Text, der den Antisemitismus, die Unterdrückung der Kirche und die Konzentrationslager benennt, an Freunde aus der internationalen Ökumene weiter. Der Text wird in der New Yorker Herald Tribune abgedruckt. Dem Nazi-Regime passt das gar nicht, will es doch in diesem Jahr mit den Olympischen Spielen in Berlin international glänzen. Weißler wird verhaftet, er erhält wenig Unterstützung seiner Kirche, seine Frau und seine Kinder bleiben ungeschützt, ohne Hilfe zurück. Ganz anders wird es wenig später bei Martin Niemöller sein, der große Solidarität erfährt. Lag es daran, dass seine Familie jüdischer Herkunft war? Spielte das auch in der Bekennenden Kirche eine Rolle? 1937, vor 80 Jahren also, wird Weißler ins Konzentrationslager Sachsenhausen überführt und als „Jude“ von SS-Männern innerhalb weniger Tage zu auf brutalste Weise zu Tode geprügelt. Die Täter erklärten, sie meinten, einen „Juden“ erschlagen zu dürfen. Weißlers Vater war zum Christentum übergetreten…
Wir können aber auch manches Schicksal in der DDR-Zeit in Erinnerung rufen. Konfirmation oder Jugendweihe? Das konnte darüber entscheiden, ob jemand studieren durfte, einen Arbeitsplatz erhielt. Eine schwere Frage, die viele Familien zerrissen hat. Im Westen ließ es sich da wesentlich leichter leben mit dem christlichen Glauben.
Heute gibt es in ganz Deutschland rein rechtlich Freiheit in Sachen Glauben. Aber manchen fällt es trotzdem schwer, sich als Christ bzw. Christin zu outen, weil das fast peinlich erscheint. Hast du das nötig? Wir leben doch in einem Zeitalter, in dem die Naturwissenschaft alles erklären kann. Ein bisschen Spiritualität ja, Gott an sich, okay, vielleicht. Aber konkreter Glauben an Jesus Christus, vielleicht gar Mitglied in der Kirche? Also ich weiß nicht, das ist mir ein bisschen eng, heißt es dann.
Ich bin in diesem Jahr oft gefragt worden: Was würde Martin Luther dazu sagen? Das kann ich oft nicht beantworten! Von Fracking, homosexuellen Lebenspartnerschaften oder Embryonenforschung hatte er keine Ahnung. Aber er wäre schockiert, wie wenig vom Glauben die Rede ist in unserem Land. Wettern würde er wahrscheinlich von dieser Kanzel: „Macht‘s Maul auf! Tretet fest auf!“. Er könnte nicht verstehen, dass wir manchmal so stumm sind, weil für ihn die Lebensfragen doch immer mit dem Glauben zusammenhingen. Luther hat am Ende die Kirchen und die Welt verändert, aber zuallererst ging es ihm um den Glauben. Darum sollten die Menschen doch ringen!
Das gilt umso mehr, als wir in einem Land leben, in dem jeder Mensch in Fragen des Glaubens frei ist. Ja, ich weiß, der um sich greifende neue Antisemitismus stellt diese Glaubensfreiheit manches Mal in Zweifel. Und ja, der Islam ist zum innenpolitischen Kampfthema avanciert, Muslime werden beschimpft. Und es stimmt auch, dass die Frage, wo Christen politisch stehen sollten in der Flüchtlingsfrage, strittig ist. Aber unser Recht und Gesetz garantieren die Freiheit zu glauben, anders zu glauben, nicht zu glauben. Deshalb müssen wir auch für diese Freiheit kämpfen. Und wenn wir an Jesus Christus glauben, dürfen wir das doch nicht verstecken! Christen in Ägypten riskieren ihr Leben, wenn sie einen Gottesdienst besuchen. Hindus in Indien versuchen, Konversion zu einem anderen Glauben unter Strafe zu stellen. In Saudi-Arabien oder dem Iran sind Christen für ihren Glauben mit dem Tode bedroht.
Kurzum: In unserem Land ist ein Bekenntnis zum christlichen Glauben heute keine Heldentat. Umso mehr sollten wir uns ermutigt fühlen, damit nicht hinter dem Berg zu halten, so sehr andere uns auch belächeln oder gar beleidigen mögen dafür. Das gilt gerade auch, wenn beispielsweise Herr Hampel, Bundesvorstandsmitglied der AfD unter dem Gejohle seiner Parteimitglieder zum Austritt aus der Kirche aufruft. Im Grunde macht ein solcher Vorgang klar, dass die Christen heute in Deutschland wissen, wo sie zu stehen haben. Das Volk Gottes hängt für uns eben nicht an Herkunft oder nationaler Identität, sondern es existiert als Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern über nationale Grenzen hinweg. Da ist ein „frei Bekenntnis“ heute gefragt.
Das Reformationsjubiläum hier in Wittenberg war gerade auch deshalb ein Fest, weil wir das erlebt haben in diesem Sommer. Christinnen und Christen aus Tansania und Brasilien, Korea und den Philippinen, aus Mexiko und den USA und aus ganz Europa haben mit uns gefeiert. Sie alle waren begeistert von der Gastfreundschaft der Wittenberger, niemand wurde ausgegrenzt. Damit hat das Jubiläum 2017 einen ganz anderen Akzent gesetzt als die deutsch-national geprägten Jubiläen 1817 oder 1917. Und das ist in einer Zeit, in der rückwärtsgewandte Nationalisten neue Grenzen setzen wollen, ein ganz besonderes, ein sehr klares Signal. Es knüpft an das Erbe der evangelischen Kirchen in der DDR an, die sich für Offenheit, Meinungsfreiheit und Gewaltfreiheit stark gemacht haben.
Und drittens: Die Reformation geht weiter, auch fünfhundert Jahre nach Luthers 95 Thesen.
Ich bin in diesem Jahr auch oft gefragt worden, wo denn die Reformation weitergeht. Was sind denn die Themen heute?
Das eine ist sicher die Weitergabe des Glaubens. Gerade in Ostdeutschland, aber längst auch an vielen Orten in Westdeutschland sind Christen in der Minderheit. Ich finde, wir haben hier im Sommer dafür gute Modelle erprobt. Denken wir an die Abendandacht auf dem Marktplatz. Erst waren es immer nur vier oder fünf, mal zehn Menschen, die teilgenommen haben. Am Ende waren es 250 bis 300. Ein Mann sagte mir, ohne das Lied „Jeder Mensch braucht einen Engel“ mochte er den Tag nicht mehr beschließen. Vielleicht ist das der Weg in die Zukunft: Kleine öffentliche Formen der Spiritualität.
Oder ich denke an die Begegnungsstätten. In der Denk-Bar, bei Maultaschen bei den Württembergern, im Gasthaus Ökumene kamen Menschen bei Essen und Trinken zusammen und haben über Gott und die Welt geredet – das ist niedrigschwellig, vielleicht die Form, in unserer Zeit und Gesellschaft im besten Sinne missionarisch zu sein. Weil, so habe ich gelernt, missionarisch sein bedeutet, so zu leben, dass andere dich fragen, warum du so lebst. Luther kannte ja solche Tischgemeinschaft als Ort des guten Gesprächs. Zu seiner Zeit hat er die Tischreden wohl meist selbst gehalten. Aber es entspricht seiner Theologie, dass alle sich beteiligen können.
Gelernt haben wir bei all den Gesprächen auch: Es geht in einer säkularen und zunehmend multireligiösen Gesellschaft darum, die eigene Wahrheit zu bekennen, ohne anderen abzuerkennen, dass sie ihre Wahrheit gefunden haben. Wir können nur verhindern, dass Kriege geführt werden um religiöse Fragen, wenn wir sagen: Ich habe meine Wahrheit im Glauben gefunden. Jesus ist für mich der Weg zu Gott. Aber ich respektiere, dass andere Menschen eine andere Wahrheit über Gott für sich erkennen oder eben auch ohne Gott leben. Auch das haben wir in Wittenberg erlebt in diesem Sommer. Es gab eine große Bereitschaft zum Respekt voreinander. Ich denke an den Freitag, als wir im nachgebauten House of One morgens eine christliche Andacht, mittags ein muslimisches Freitagsgebet und abends das erste Shabbat Shalom seit 75 Jahren in dieser Stadt gefeiert haben. Das war bewegend. Und ich dachte: Ja, wir können als religiöse Menschen in Frieden miteinander leben. Wittenberg im Reformationssommer 2017, das war ein ökumenisches, internationales Fest der Beteiligung, des interessierten Gesprächs und des respektvollen Umgangs miteinander. Das wird den Menschen im Gedächtnis bleiben, die dabei waren.
Der Streit um die Wahrheit, das Ringen um das rechte Bekenntnis, sie sind auch in unserer Zeit aktuell, das ist sehr klar geworden. Aber das ist ja nicht belastend, sondern für die Kirchen der Reformation Teil des Christseins. Es gibt keine vorgefertigten unhinterfragbaren Antworten der Kirche oder anderer Obrigkeiten, das hat uns Martin Luther gelehrt. Jeder und jede (!) darf nachlesen in der Bibel, mitdenken, sich beteiligen, das ist reformatorisch. Und genau so werden sich unsere Gemeinden auch erneuern, indem sie nicht neue Regeln und Formen von oben erwarten, sondern vor Ort erproben, wie das Wort Gottes lebendig werden kann bei ihnen.
Zuletzt:
Martin Luther hat gesagt „Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade. Und solche Zuversicht macht fröhlich, mutig und voll Lust zu Gott und allen Geschöpfen.“ Das ist eine großartige Zusammenfassung der Lebenshaltung eines Christenmenschen bis heute, finde ich: Fröhlich, mutig und voll Lust zu Gott und allen Geschöpfen. Wenn wir unsere Kirche und unser Glaubensleben heute reformieren, dann wohl auch dahin, dass das sichtbar wird. Also lasst uns diesen Reformationstag feiern und diese Haltung zeigen. Das wird dann auch andere anstecken: Fröhlich, mutig und voll Lust zu Gott!
Amen.