Predigt über Johannes 21, 15-19 von Klaus Pantle
21,15

Predigt über Johannes 21, 15-19 von Klaus Pantle

„Take this waltz, it's all that there is“ (Leonhard Cohen)

1
Noch einmal offenbart sich der Auferstandene. Den sieben Jüngern, die am See von Tiberias in Galiläa eine Nacht lang ohne Erfolg versucht haben zu fischen, erscheint er im Morgengrauen. Ohne dass die ihn erkennen, gibt er ihnen den entscheidenden Tipp zum Erfolg. Als die Jünger nach vollendetem Fischzug ans Ufer kommen, erwartet er sie am Kohlefeuer mit Fischen und Brot und lädt sie zum Mahl:
Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er antwortet ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe!
Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er antwortet ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Hüte meine Herde!
Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und antwortet ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Herde!
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.
Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde.
2
Als alles vorbei ist, schüttet Lou mit einem traurigen Grinsen Margot, als sie gerade unter Dusche steht, noch ein letztes Mal ein Glas kaltes Wasser über den Kopf. Er zeigt ihr das leere Glas und sagt: „Mit 80 wollte ich Dir sagen, dass ich das die ganze Zeit war.“ Margots allmorgendliche unfreiwillige warm-kalte Wechseldusche lag also nicht an einer defekten Wasserleitung, wie sie immer geglaubt hatte. Diese kalte Dusche gehörte zu den Liebesspielen, die die beiden während ihrer fünf Jahre gemeinsamen Lebens gespielt hatten. Wie sich das eben so abspielt zwischen sich liebenden Erwachsenen: Da gibt es intime Dialoge in Babysprache, die für Außenstehende peinlich klingen mögen, da macht man sich ironische Komplimente, die nur der bzw. die andere richtig versteht, und man sagt im Laufe der Jahre zueinander: „Ich liebe dich“ in geschätzten 99 verschiedenen Tonfällen. Wobei man dieses „Ich liebe dich“ auch ohne Worte sagen kann, zum Beispiel durch einen morgendlicher Guss eiskalten Wassers über den Kopf.
Wenn man Lou und Margot, die beiden Endzwanziger in Sarah Polleys Geschichte „Take This Waltz“, beobachtet in ihrem alltäglichen Umgang miteinander, wenn man sie feiern sieht inmitten ihrer vielen Freunde, dann denkt man: Was für ein glückliches Paar! Das sind sie auch. Jedenfalls eine Zeit lang. Doch irgendwann sind die Liebeserklärungen und die Komplimente nicht mehr ganz echt, irgendwann geraten die beiden aus dem Takt und reagieren nicht mehr wie erwartet auf die Stichworte des anderen. Diese Beziehung, die sich über Jahre hinweg gefestigt und eingespielt hatte in einem Schwebezustand zwischen zärtlicher Aufmerksamkeit und Routine, gerät aus dem Gleichgewicht. Margot hält auf einmal auch ein anderes Leben für möglich. Ohne es zu wollen, verliebt sich in Daniel, den sie im Flugzeug kennengelernt hat und der zufällig in ihrer Nähe wohnt. Er scheint der Gegenentwurf zu Lou zu sein, und die sich anbahnende Beziehung zu ihm eröffnet ihr ein anderes Leben im Konjunktiv. Zugleich funktioniert sie als Lackmustest, als Indikator für alles Falsche, Eingefahrene und Leere, das es in ihrem gemeinsamen Leben auch gibt. Unaufgeregt wird in dieser Geschichte deutlich, wie willkürlich und unberechenbar Sehnsucht sein kann und wie das Leben manchmal spielt, wie es mit seinen Akteuren spielt. Denn manchmal kommt es anders als man denkt, und alle „Ich liebe dich“-Beteuerungen werden Makulatur, obwohl sie in dem Moment, in dem sie ausgesprochen wurden, echt waren. „Und ich dachte, du wirst bei mir sein, wenn ich sterbe“, sagt Lou zu Margot, nachdem sie ihm eröffnet hat, dass sie ihn verlassen wird. Manchmal ist die Liebe eben „nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne Grund, sie überfällt uns und verwundet uns.“ (Byung Chul Han). Und so stellt sich in unserem zwischenmenschlichen Leben immer wieder die Frage, wie haltbar einmal ernsthaft ausgesprochen Sätze wie: „Ich liebe dich!“ sind. Oder anders herum gefragt: Wie es um ihr Verfallsdatum steht.
3
Wenn es eine Frage gibt, die uns im Innersten berührt, dann ist es die Frage: „Hast du mich lieb?“ Wer hat mich je danach gefragt? Was habe ich darauf geantwortet? Was dachte ich bei meiner Antwort und was fühlte ich, was fühlte ich im Innersten? Wen habe ich jemals gefragt: Hast du mich lieb? Welche Antwort habe ich darauf bekommen? Welche habe ich gehört? Und was hat diese Antwort in mir ausgelöst?
Jesus stellt Petrus diese Frage gleich dreimal hintereinander: Hast du mich lieb? Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als bettle der, der da fragt, geradezu um die Liebe des anderen. Fast könnte man auch geneigt sein, hinter der dreimaligen Wiederholung einen satirischen Zug zu erkennen. Oder man will dem Fragenden sagen: Jetzt glaub ihm halt! Was soll er denn sonst noch sagen, dass du ihm glaubst? Es ist der Gefragte, der in einem Mitleid erregen kann, weil er so unter Druck gesetzt wird. Dem wird es irgendwann tatsächlich zu viel. Dass Jesus mit seiner schlichten Antwort: „Du weißt, Herr, dass ich dich lieb habe“ nicht zufrieden ist, macht ihn traurig. Wie soll er ihm denn noch die Glaubwürdigkeit seiner Liebe beweisen? „Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe.“ Was soll er sonst tun, als den Ball geradezu demütig zurückspielen?
Der Dialog entwickelt sich nun aber anders als nach dem erwartbaren Muster: „Hast Du mich lieb?“ „Ja.“ „Ich dich auch.“ Statt des „Ich dich auch“ erteilt Jesus Petrus einen Auftrag: „Weide meine Schafe.“ Ihm geht es zumindest nicht nur um ein affektives Gefühl, oder um eine intime Liebesbezeugung. Die Liebe, die Jesus sucht, drückt sich aus in Petrus Sorge und Fürsorge für die Freunde. Die christliche Gemeinde, die sich in ihrem Repräsentanten Petrus gespiegelt sieht, teilt ihre Liebe zu Jesus aus durch ihr Leben für andere und mit anderen.
4
Jede/r, der die Bibel und ihre Passionsberichte kennt, weiß um die Vorgeschichte dieser beiden. Zu offenkundig sind in diesem Dialog und an den Umständen, unter denen er geführt wird, die Anspielungen an das, was bisher geschah: Petrus war der erste Jünger, den Jesus einst direkt von seiner Arbeit auf dem Fischerboot weg berufen und der sich spontan zur Nachfolge entschieden hatte. So gesehen waren Jesus und Petrus alte und ziemlich beste Freunde. Petrus war derjenige, der Jesus beim Letzten Abendmahl, kurz vor dem Gang nach Gethsemane, fragte: „Herr, warum kann ich dir diesmal nicht folgen?“ Und dann aus vollem Herzen sagte: „Ich will mein Leben für dich lassen.“ Jesus entgegnete ihm: „Du willst dein Leben für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast.“ (13,37f.). An einem anderen Kohlefeuer als dem, an dem sie nun am See Tiberias sitzen, im Hof von Hannas und Kaiphas, wurde Jesu Prophezeiung wahr: Petrus verleugnete den gefangenen besten Freund, den vom Tode bedrohten Geliebten, dreimal (17,12-27). Johannes verschweigt die Reaktion des Petrus, als dieser den Hahn krähen hörte. Es ist Matthäus, der sie schildert: „Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.“ (Mt 26,75). Derjenige, der hier an diesem Kohlefeuer am See Tiberias gefragt wird: „Hast du mich lieb?“, der hat den, der da fragt, bereits mehrfach verraten, allen Liebes- und Treuebekundungen zum Trotz.
5
Vermutlich ist Verrat eine unvermeidliche Kehrseite der Liebe. Vielleicht ist in dieser Welt zwischen uns starken/schwachen Menschen perfekte Liebe unmöglich. Es gibt keine Liebe ohne kleinere und größere Verrate. Jesus scheint das zu wissen.
Und auch Petrus scheint sich dessen bewusst zu sein. Er weiß sich trotz seines Versagens in der Liebe seines Herrn und Freundes Jesu geborgen. Durch alle Verratserfahrungen hindurch hat er im Blick auf Jesus immer die Erfahrung gemacht: Liebe ist die Antwort! Nicht die Frage! Denn vorweg in ihrer gemeinsamen Geschichte, vor allen gelungenen und halbgelungenen menschlichen Liebesbemühungen, galt die unverbrüchliche Zusage: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn dahin gab, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben“ (3,16).
Liebe ist etwas, das Menschen versprechen, aber nicht halten können. Man kann/muss es wollen, aber dann kommt es manchmal anders als man denkt oder eigentlich will. Liebe ist etwas  so Kostbares wie Zerbrechliches. Der Auferstandene und Petrus wissen das. Petrus ist kein strahlender Glaubensheld. Petrus ist ein Mensch – ein Mensch wie du und ich – ein Mensch mit ambivalenten Zügen. Dieser ambivalenten Figur traut Jesus eine Menge zu. Durch diesen Dialog bringt Jesus ihm bei, was Hirte sein bedeutet: im biblischen Sinne Hüter seines Bruders sein (Gen. 4,9) – Hüter/in seiner Freundinnen und Freunde werden. Die Verantwortlichkeit rührt nicht von der Brüderlichkeit, sondern die Brüderlichkeit ist der Name für die Verantwortlichkeit für den Anderen, die jenseits meiner Freiheit liegt (Emanuel Lévinas). Jesu Erbe, so zeigt diese Szene, wird verwaltet in der Gemeinschaft der Liebenden und Verletzten, der Gebrochenen und Wiederauferstandenen. Jesu Erbe wird verwaltet von denen, die sich um das Kohlenfeuer am See Tiberias versammelt haben und es wird verwaltet in all den gegenwärtigen Gemeinschaften der Liebenden und Verletzten, der Gebrochenen und Wiederauferstandenen, die sich in allen möglichen Kirchen, Hütten und Baracken auf der ganzen Welt in Jesu Namen versammeln. Die Liebe, die vor Jesus erfragt wird, muss weder heldenhaft noch übermenschlich sein. Sie kann gebrochen sein und manchmal halbherzig. Spontan und überfließend kann sie sein, genauso wie untreu und reuevoll. Vielleicht macht gerade das die menschliche Liebe zur Liebe: dass sie so unfertig ist, dass sie so inkonsequent und dann doch auch wieder so eindeutig und stark sein kann.
6
Liebe muss nicht schützen vor einem bitteren (irdischen) Ende. Liebe ist immer bedroht. „Die Liebe ist kein langer, ruhiger Fluss. Sie kann unsere Körper biegen, ihnen gewaltige Qualen bereiten“ (Alain Badiou). Vielleicht ist davon in dem irritierend schweren Satz Jesu die Rede, in den sein Gespräch mit Petrus mündet: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.“ Im Erzählzusammenhang verweist dieser Satz auf das Martyrium am Kreuz, das Petrus als Konsequenz seiner Liebe noch bevorsteht. Aber davon losgelöst steckt in diesem Satz auch eine Lebenswahrheit, die überzeitlich ist und gilt, gerade auch in Zusammenhang mit der Liebe.
Liebe ohne Zweifel und Krisen, Liebe ohne Irrwege und Umkehr gibt es nicht. „Liebe in ihrer Geschichte von untreuer Treue sich und anderen gegenüber kann zu nicht frei gewählten Verpflichtungen und letztlich bejahten Konsequenzen führen, die juvenilen Idealen von Freiheit und Selbstbestimmung widersprechen.“ (Gerhard Marcel Martin). Alle, die lieben, müssen diesen Weg durchschreiten.  Das gilt nicht nur für die vergleichsweise jungen Liebenden wie Margot, Lou und Daniel aus „Take this Waltz“, von denen eingangs die Rede war. Unser (Liebes)Leben spielt nicht nur im Dreivierteltakt und lässt uns nicht nur in den Himmel hineintanzen. Manchmal lässt es uns auch durch Abgründe taumeln. Aber das in de Himmel hineintanzen gehört glücklicherweise gelegentlich auch dazu.