Vaterland und Muttersprache und das Unwort des Jahres – Predigt zu 1. Mose 12,1-4a von Silvia Mustert
12,1-4a

Vaterland und Muttersprache und das Unwort des Jahres – Predigt zu 1. Mose 12,1-4a von Silvia Mustert

Liebe Gemeinde,

das Vaterland verlassen. Das Land verlassen, in dem man von klein auf aufgewachsen ist. Du kennst jede Ecke, jede Straße, jeden Grashalm. Die Bäume, auf die du schon als Kind mit deinen Freunden geklettert bist. Vielleicht habt ihr gemeinsam Drachen steigen lassen. Ihr habt zusammen gespielt, gelacht, gestritten. Du kennst deine Freunde. Du kennst deine Verwandten. Sie kennen dich. Sie wissen, was dich ärgert. Und sie kennen das Lachen in deinen Augen, wenn du einen Schmetterling entdeckst.

„Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus“. Wie mag Abraham diese Aufforderung Gottes gehört haben, seine Heimat zu verlieren? Heimat, Vaterland, das ist der Ort, wo meine Muttersprache gesprochen wird. Muttersprache. Das ist die Sprache, mit der mich abends meine Mutter in den Schlaf singt. Muttersprache ist die Sprache, in der ich bete und fluche. Muttersprache bleibt die Sprache der Liebe und Zärtlichkeit. Zwei deutsche Worte, die uns an die Menschen binden, denen wir unsere Herkunft verdanken und die nächsten sind: Vater, Mutter. Zwei Worte, die zugleich in der deutschen Sprache bezeichnen, was Heimat ist: Vaterland und Muttersprache.

Vaterland und Muttersprache hinter sich lassen. Was würde mich dazu bringen, all das, was mein ganzes Leben ist, hinter mir zu lassen und aufzubrechen? Ein Aufbruch ins Ungewisse. Wo ich nicht weiß, ob ich wirklich an einem guten Ort ankomme. Wo ich nicht weiß, ob ich willkommen sein werde. Werde ich mich verständlich machen können? Weiß ich, ob ich diese Reise überleben werde? - Was würde uns dazu bringen, uns auf solch eine Reise ins Ungewisse aufzumachen?

Wir hatten schon das Gefühl, das Größte sei geschafft. Die großen Flüchtlingsunterkünfte in unserem Land sind kaum noch bewohnt. Nach dem Kraftakt 2015, als bisweilen täglich Platz für mehr als 10.000 Menschen gefunden werden musste, hatte sich die Lage 2016 entspannt. Und was die Unterbringung der Menschen angeht, sah es  endlich auch dort besser aus, wo die Lage besonders schwierig war: in den großen Städten. Wir hatten uns schon zurückgelehnt.

Und nun macht ein Wort wie „Asyltourismus“ die Runde. Er bringt eine Schärfe und einen Zwiespalt mit sich, deren Folgen wir nicht abschätzen können. Neue Hetze greift um sich, die Zeitung mit den vier großen Buchstaben mischt kräftig mit. „Asyltourismus“. Ein Wort, das höchstens zum „Unwort 2018“ taugt. 68,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht, die Hälfte davon Kinder. Sie machen sich nicht auf, um Land und Leute kennenzulernen. Ihr Gepäck ist nicht für 14 Tage gepackt, weil sie danach sicher wieder nach Hause reisen, wo während ihres Urlaubs die Blumen vom Nachbarn gegossen wurden. Sie fliehen vor Krieg, Verfolgung, Vergewaltigung. Sie tun es aus Not, die wir uns nicht vorstellen können. Nichts verbindet Flüchtlinge mit Touristen. Die Menschen, die die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer auf sich nehmen, sind mit einer großen Hoffnung unterwegs. Krieg, Gewalt, Armut lässt sie das Weite suchen. Niemand verlässt sein Vaterland und seine Muttersprache, wenn er nicht perspektivlos ist. Ja, und da gibt es auch Menschen, die verlassen aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat. Und ja, dass es diese Armut und ungerechte Verteilung der Güter gibt, hat direkt mit uns hier in Europa zu tun. Wir können uns nicht zurücklehnen. Wir können nicht so tun, als wäre das alles ganz neu, noch nie dagewesen. Und wir können nicht aufhören, in unseren Kirchen darüber zu sprechen.

Es gehört schon zu den Grundmotiven im Alten Testament: Die Rede von der Fremdlingsschaft. Das Volk Israel hat in seiner Geschichte von seinen Anfängen an immer wieder die Erfahrung gemacht, als Fremdling zu leben. Daraus wird die humanitäre Haltung abgeleitet, Fremdlinge nicht zu bedrücken. Wieder und wieder heißt es: „Ihr seid auch Fremdlinge in Ägypten gewesen“.

Abraham wurde zu einem Fremdling, als er sich aufmachte. Und doch gibt es einen großen Unterschied zwischen Abraham und den Flüchtlingen, die hier bei uns eine neue Heimat suchen. Bei Abraham stand am Anfang die Verheißung. Am Anfang waren da diese Worte: „Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (Gen 12,2). Gott will Abram dieses Land zeigen. Was für eine Verheißung! Es ist eine Verheißung auf Glauben hin. Abram hatte nichts als dieses Wort Gottes. Und doch macht er sich mit seiner Familie auf den Weg. Verheißungen entfalten eine große Kraft.

Mit welcher Verheißung machen sich die Flüchtlinge heute auf den Weg? Welche Verheißung ist so groß, dass sie dafür das Vaterland und die Muttersprache hinter sich lassen? Der Vater ist der, der dich bei der Hand nimmt und dich beschützt, wenn du Angst hast. Die Mutter nimmt dich in den Arm, wenn du weinst. Sie tritt für dich ein, wenn dir in der Schule Unrecht geschieht. Der Vater klebt das Pflaster auf die blutende Wunde. Solange sie leben, bleiben viele Eltern die engen Berater ihrer Kinder. Vater und Mutter sind tief in uns Bilder für ein geborgenes, beschütztes Leben. Deshalb gibt es auch kaum eine tiefere Verunsicherung, als wenn in diese elterliche Sphäre Gewalt einbricht. Oder wenn sie selbst gar zur Gewalt wird.
Wenn du erfährst, dass dein Vaterland nicht mehr dein Vaterland ist, weil es dich zu zerstören droht. Wenn du erfährst, dass die Muttersprache nicht mehr deine Sprache ist, weil nur noch Hass ihre Worte sind. Dann machst du dich auf den Weg. Dann machst du dich auf und folgst der Verheißung: nach Frieden, nach Geborgenheit, nach Sicherheit, nach Nahrung. Wer seine Heimat verliert, macht sich auf, um eine neue Heimat zu finden. Denn ohne diesen Ort, wo wir wissen, hier sind wir gewollt, können wir nicht leben.

Wir können in unserem Land auch nicht den Himmel auf Erden bieten. Aber wir haben die Pflicht, daran mitzuarbeiten, dass jene Verheißung, die die Menschen dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen, nicht unerfüllt bleibt. Und wir können an einer Haltung mitarbeiten. Uns wehren gegen eine Sprache, die Hass und Zwietracht säet. Unwörtern wie Asyltourismus widersprechen, die Menschen auf falsche Fährten bringen. Aufstehen gegen eine politische Haltung, die gefährliche alte Grenzen sichert. Tun wir es für uns und die Flüchtlinge.

Ich höre die Verheißung an Abraham mit neuen Ohren: was ist, wenn die Flüchtlinge Abraham sind? Sind dann nicht wir verflucht, wenn wir sie im Mittelmeer ertrinken lassen? Verlieren wir dann nicht unsere Seele? Und sind wir nicht gesegnet, wenn wir unsere Türen gastfreundlich öffnen? „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen 12,3). An unserem Umgang mit den Flüchtlingen entscheidet sich nach wie vor die Humanität Europas, ja auch, ob wir uns überhaupt in irgendeiner Form als christliches Abendland verstehen dürfen. Amen