Zeichensprache – Predigt über Matthäus 12,38-42 von Wolfgang Vögele
12,38-42

Zeichensprache – Predigt über Matthäus 12,38-42 von Wolfgang Vögele

Da antworteten [Jesus] einige von den Schriftgelehrten und Pharisäern und sprachen: Meister, wir wollen ein Zeichen von dir sehen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. Die Leute von Ninive werden auftreten beim Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona. Die Königin vom Süden wird auftreten beim Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen; denn sie kam vom Ende der Erde, Salomos Weisheit zu hören. Und siehe, hier ist mehr als Salomo. (Mt 12,38-42)

Liebe Schwestern und Brüder,
ein Zeichen, das die Wahrheit bestätigt, fordern die Schriftgelehrten. In der Zeichenwelt der Gegenwart würde ihre Forderung belächelt. Ein Zeichen kann keine Wahrheit mehr verbürgen. Die Menschen haben ihre Gier nach Zeichen verloren, sind ihrer müde geworden. Weil die Zeichen überall warten und die Aufmerksamkeit der Passanten bombardieren, lösen sie keinen Reiz mehr aus. Niemand kann den ablenkenden, aufreizenden, aufregenden Zeichen entkommen: im Bahnhof, in der Straßenbahn und in der S-Bahn, in der Fußgängerzone und im Supermarkt. „Fahr mich, rase mit mir“, brüllt der coole Typ aus der Autowerbung alle Passanten an. „Riech mich und verschenke mich“, flüstert die nur halb bekleidete Dame aus der Parfümanzeige. „Iss mich“, quengelt der Hamburger aus der Werbung für die Schnellimbisskette. „Zieh mich an“, sagen der Anzug und das Kostüm aus dem Kaufhausschaufenster und die leblosen Puppen in der Dekoration machen dazu ein gleichgültiges Gesicht. „Besuche mich, ich gebe dir den Kick“, schreit das Plakat mit der Werbung für das Rockkonzert.
Alle gleichzeitig sagen diese verlockenden Werbezeichen: Kauf mich! Sei du selbst! Fühle dich gut! Wir helfen dir dabei, dich gut zu fühlen! Wenn du mich kaufst, findest du zu dir selbst. Anzeigen buhlen um Aufmerksamkeit, wollen den eiligen Passanten und die gelangweilte Betrachterin ablenken und umpolen. Am Anfang dieser besseren Welt steht ein Einkauf, aber das damit verbundene Glücksversprechen lösen die verkaufenden Konzerne häufig nicht ein. Fußgängerzonen halten auch andere, weniger aufdringliche Zeichen bereit: „Komm zu mir und bete“, läuten die Glocken des Kirchturms. „Diskutiere mit uns und beteilige dich“, sagt der Rathausturm. „Sei vorsichtig und beachte die Regeln, damit du im Verkehr nicht verletzt wirst“, sagen Tausende von Verkehrsschildern.
Die Menge der werbenden Zeichen in der symbolischen Welt von Straßenbahnfahrern, Shoppern und Reisenden ist so groß, dass viele am liebsten die Augen und Ohren verschließen würden, um sich den Verlockungen von Parfüm und PS nicht mehr auszuliefern. Viele Passanten sind längst betäubt und gesättigt, sodass die einfache Werbung „Anreiz – Reaktion – Kauf“ nicht mehr funktioniert.
Darum müssen die Reize, die mit den Zeichen verbunden sind, gesteigert werden. Besonders abgeklärt gehen dabei die Werbekampagnen des Modelabels Bennetton vor. Eines der harmloseren Werbeplakate zeigte einen schwarzen ölverschmierten Vogel in einer ebenso schwarzen, öligen Brühe. Nur die Augen des Vogels schimmerten in einem ungesunden, brennenden Rot. Das Bild des Vogels war mehr als eine Darstellung, es war ein Zeichen. Aber das Zeichen des armen Vogels zielte nicht auf Umweltkatastrophen und ökologisches Bewusstsein. Es zielte auf dem Umweg über Ablenkung und Entrüstung auf Kleidungsstücke und Mode. Denn auf dem Plakat prangte auch das bekannte grüne Logo des Modeherstellers. Wer für die Umwelt eintritt, der sollte Jacken und Socken von Bennetton kaufen.

Auch wenn es sich um einen psychologischen Trick handelt, das Zeichen des ölverschmierten Vogels kommt dem Zeichen des Jona schon näher als die chaotische Überfülle der Werbeplakate in einer Fußgängerzone.
Passanten, Schüler, Konfirmandinnen, Angestellte, Arbeiter – alle leben eingehüllt in einer symbolischen Zeichenwelt, der sie nicht entkommen können. Zeichen verweisen über sich selbst hinaus auf etwas Anderes, Unbekanntes, Geheimnisvolles. Die Realität von Dingen und Sachzwängen wird überschritten, hin auf das eigene Begehren. Das klingt schon nach Religion. Denn nicht nur die Werbeagenturen steuern mit Zeichen das Begehren der Menschen, auch die Religionen setzen Zeichen: hörbare Zeichen wie die Glocken des Kirchenturms und sichtbare Zeichen wie das Kreuz am Wegesrand oder die violette Fahne, die vor der evangelischen Kirche hängt.
Jede Stadt und jede Fußgängerzone ist ein Sammelsurium von Zeichen, das die meisten Passanten gar nicht mehr beachten. Das eine Zeichen der Werbung haben sie schon viel zu oft gesehen, das andere Zeichen der Religion interessiert sie erst gar nicht. Der Überfülle von Zeichen begegnen die Passanten mit Abstumpfung. 

In Jesu Geschichte fordern die Gegner ein Zeichen. Doch sofort ist klar: Das ist nur ein Trick, mit dem sie den Prediger aus Nazareth überführen wollen. Sie wünschen ihre eigene Meinung bestätigt. Jesus durchschaut das. Und darum gibt er auch ein Zeichen, nicht nur den Pharisäern und Schriftgelehrten, auch seinen Jüngern, die ihn umgeben und dem Volk, das die Szene beobachtet. Das Zeichen antwortet auf die Aufmerksamkeit der neugierigen Menschen. Ein Zeichen braucht Aufmerksamkeit. Eine Werbung, die niemand beachtet, ist nichts wert.
Aber das Zeichen Jesu unterscheidet sich von den vielen Zeichen der Werbung, die Bedürfnisse wecken und Kauflust anregen sollen. Jesu Zeichen befriedigen weder Erwartungen noch Bedürfnisse, sondern sie überraschen die Zuhörer, weil sie sich so ungewöhnlich und verquer in ihr Bewusstsein einprägen. So auch in diesem Fall. Das Zeichen verrät ein Geheimnis, das die Menschen, die vor Jesus standen, so noch nicht kannten. Und trotzdem bleibt es rätselhaft.
Jesus spricht vom Zeichen des Jona. Die Menschen, die diesem Streitgespräch zuhörten, kannten die biblischen Hintergründe. Sie wussten um die Propheten, die nicht nur zu den Menschen gesprochen hatten, sondern ihre Botschaften von Gott auch in Zeichenhandlungen gekleidet hatten. Aber zu diesen Propheten, die mit Zeichenhandlungen arbeiteten, gehörte Jona gerade nicht. Es ist interessant, dass Jesus seine Gegner nicht direkt ansprach: Hört mal, ich weiß, dass ihr mich reinlegen wollt. Ich habe es gemerkt. Stattdessen gab er eine indirekte Antwort, die auf das erste und das zweite Hören geheimnisvoll blieb.

Der Prophet Jona, der vor seiner Prophetenaufgabe auf ein Schiff im Mittelmeer geflohen war, musste drei Tage lang im Bauch des Fisches ausharren. Dann spuckte der Fisch ihn wieder auf den Strand, damit er den Auftrag Gottes erfüllen konnte, so die märchenhaft schöne Geschichte.

Die Leser des Matthäusevangeliums hören diese Stelle vom Ende der Passionsgeschichte her. Drei Tage lag Jesus tot in der Grabeshöhle, bevor den Frauen, darunter Maria Magdalena der Auferstandene erschien. Konnten die Jünger diese Anspielung auf Kreuz, Tod und Auferstehung verstehen? Konnten die Pharisäer und Schriftgelehrten das begreifen? Das Zeichen des Jona bleibt im Kontext der Geschichte rätselhaft, und auch für die Leser, die das Ende des Evangeliums kennen, bleiben Zweifel. Denn die Wirklichkeit der Auferstehung überschreitet die Grenzen der Wirklichkeit, wie wir sie tagtäglich erleben.

Der Prophet Jona sollte den Menschen in Ninive im Auftrag Gottes den Untergang als Strafe für begangene Fehler verkünden. Aber Jonas Predigt zeigte Wirkung – und das überraschte niemanden mehr als den Propheten selbst. Zuerst war er vor seiner Aufgabe davongelaufen, dann löste er sie außerordentlich erfolgreich. Die angekündigte Katastrophe Gottes ging nicht über Ninive nieder, stattdessen sahen die Menschen ein, dass sie in der Vergangenheit falsch gehandelt hatten. Und sie taten Buße. Gott war von dieser Buße der Menschen in Ninive so beeindruckt, dass er seine Entscheidung revidierte und die Stadt samt den Menschen verschonte. Jesus führt die Stadtbürger Ninives als Beispiel an: Sie, die Gottes Namen vorher nicht kannten, ließen sich auf die Predigt seines Propheten ein und taten Buße. Wieviel mehr sollten sich diejenigen daran halten, die den Namen Gottes, seine Gebote und Verheißungen kennen!

Als dritte Person erwähnt Jesus die Königin „vom Süden“, die Königin von Saba. Die Königin besuchte Salomo, den königlichen Friedensstifter Israels, bewunderte seinen Tempel und ließ viele Geschenke überreichen (1Kön 10,1-13). Es ist nicht entscheidend, dass sie Salomo bewunderte, das könnte reine diplomatische Höflichkeit gewesen sein. Jesus nimmt diesen Besuch der Königin auf, weil sie in ihrer Dankesrede die Erfolge Salomos auf Gott zurückführte. Sie sagte: Es ist wahr, was ich in meinem Lande gehört habe von deinen Taten und von deiner Weisheit. Und ich hab's nicht glauben wollen, bis ich gekommen bin und es mit eigenen Augen gesehen habe. […] Gelobt sei der Herr, dein Gott, der an dir Wohlgefallen hat, sodass er dich auf den Thron Israels gesetzt hat! Weil der Herr Israel lieb hat ewiglich, hat er dich zum König gesetzt, dass du Recht und Gerechtigkeit übst. (1Kön  10,6-10*) Darin gleicht die Königin von Saba den Bürgern von Ninive: Sie spürt genau, wenn sie es zu tun hat mit Gottes Barmherzigkeit und der Weisheit der Menschen, die sich daraus ergibt.

Liebe Schwestern und Brüder, das merkwürdige Zeichen des Jona verweist auf zwei Geheimnisse. Das erste Geheimnis liegt in der Person Jesu. Am Anfang der Passionszeit kann das nicht deutlich genug betont werden: Er wird leiden. Ihm steht eine lange Zeit der Angst, der Schmerzen, des Verlustes von Freundschaft bevor. Am Ende wird er einen qualvollen Tod am Kreuz sterben, nachdem man ihn in einem römischen Schauprozess verurteilt hat. Und dennoch steckt in diesem langen Weg des Leidens eine Hoffnung, die über Jona hinausgeht: Gott wird sich mit dem Sterben und dem Tod Jesu nicht abfinden. Passion und Ostern sind aufeinander bezogen. Das eine ist das Geheimnis des anderen – und umgekehrt.

Das zweite Geheimnis steckt im Glauben derjenigen, die gar nicht mit den biblischen Geschichten aufgewachsen und groß geworden sind. Die Bürger Ninives und die Königin von Saba mit ihrem Gefolge erkennen die Weisheit, die Barmherzigkeit und die Gnade Gottes, obwohl ihnen dazu vermeintlich die Voraussetzungen fehlen.

Die beiden Geheimnisse lassen sich so auf den Punkt bringen: Manchmal verbirgt sich in unendlichem Leiden eine Barmherzigkeit, die kein Mensch für möglich gehalten und die sich dennoch Raum verschafft. Und – das andere Geheimnis – manchmal wächst Glauben in Menschen, bei denen das niemand (als letztes die Frommen) für möglich gehalten hätte.

Langsam wächst im staunenden Hörer und Leser das Gefühl dafür, dass das Zeichen des Jona in die Gegenwart hineinleuchtet. Glaubende und Gemeinde rechnen damit, dass ihr Leben und Zusammenleben von einem großen Geheimnis umgeben ist. Man kann dieses Geheimnis die Barmherzigkeit oder die Gnade Gottes nennen. Christen hoffen darauf. Sie hoffen darauf, dass sich in Zukunft erfüllt, was in der Auferstehung Jesu schon damals Gegenwart geworden ist.

In der Passionszeit denken wir darüber nach, dass im Leiden eine verwandelnde Kraft liegt, die viele auf den ersten Blick nicht wahrnehmen. Wer krank ist oder leidet, der kann die Erfahrung des Jona machen: Hoffnung in aller Hoffnungslosigkeit, Rettung unter Umständen, in denen die nüchternen Realisten schon längst aufgegeben haben, weil die mehrfache vernünftige Berechnung ihrer Zukunftsaussichten immer zu einem negativen Ergebnis führt.
Und zuletzt: Gottes Gegenwart im Leiden und im Geheimnis zeigt sich oft nicht in der Gemeinde selbst, sondern bei anderen, bei denen niemand damit gerechnet hat. Zum Heiligen Geist gehört ein Moment der Überraschung. Darum geht es: mit dem Pickel des Glaubens die dicke, längst geronnene Schicht aus schaler Vernunft, Sachzwängen und pragmatischer Einsicht zu durchbrechen und jenseits dieser Kruste Gottes Zeichen dort zu entdecken, wo kein Glaubender sie vermutet hat. Das ist das Zeichen des Jona: Gottes Heil ist dort zu finden, wo niemand es erwartet. Das ist das Geheimnis von Jonas Zeichen.
Glauben heißt: täglich mit dem Geheimnis Gottes zu leben. Amen.