Predigt über Hiob 14,1-6 von Tobias Geiger
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Predigt über Hiob 14,1-6 von Tobias Geiger

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Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr, 11.11.2012: Hiob 14, 1-6
 
Vor ein paar Tagen sagte mir jemand: »Den November sollte es eigentlich gar nicht geben«. Manche Menschen haben Angst vor diesem letzten Monat im Kirchenjahr. Kurze Tage und lange Nächte drücken aufs Gemüt. Viel Regen und Nebel und wenig Sonnenschein. Die Blätter fallen von den Bäumen, wir sehen kahle Äste und abgeerntete Felder. Im November sind die ernsten Themen dran: Allerheiligen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Gedenken an die Verstorbenen. Es geht um die Vergänglichkeit des Menschen, um Trauer und Tod. Und so wurde bei der Einteilung der Predigttexte für diesen Sonntag ein Abschnitt aus dem Buch Hiob ausgewählt. Hiob – das schwere Buch der Klagen und des Leidens. Hiob – die Geschichte eines Menschen, der ein Unglück nach dem anderen erlebt. Hinter dieser Auswahl steht die Einsicht, dass unser Glaube auch Trauer und Leid aushalten muss. Oder anders gesagt: Genau wie der Frühlingsmonat Mai gehört auch der trübe November in den Jahresablauf hinein. Ich lese den Predigttext aus Hiob Kapitel 14:
 
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Doch du tust deine Augen über einen solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer! Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann: so blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.
 
Hiob – sein Name ist in den  so genannten Hiobsbotschaften zum Sprichwort geworden. Hiob lebte glücklich und zufrieden, er war reich und wohlhabend, er glaubte an Gott und galt als fromm. Und dann trifft ihn eine Hiobsbotschaft nach der anderen: Sein Besitz wird gestohlen und vernichtet, seine Kinder verunglücken tödlich, er selbst leidet an den Schmerzen einer Krankheit. Hiob ist am Boden zerstört – geschlagen vom Schicksal, geschlagen von Freunden, die ihn belehren statt trösten; geschlagen von Gott, der ihn ins Unglück gestoßen hat. Auch seine Frau wendet sich von ihm ab. »Willst du immer noch an Gott glauben?« fragt sie ihn. »Verfluche ihn, bevor du selbst sterben wirst.« Aber Hiob lässt sich von Unglück und Leid nicht niederschlagen. Hiob frisst sein Elend nicht in sich hinein. Sondern er redet mit Gott. Er klagt ihn an und verlangt Rechenschaft. Zwei Dinge sind es, die Hiob Gott im Predigttext vorhält:
 
Schau ihn dir an, den Menschen, die Krone der Schöpfung. Er wird geboren, er lebt und er stirbt – und das soll alles gewesen sein? Der Mensch ist vergänglich und sterblich. Hiob gebraucht das Bild einer Blume, die aufblüht und schon bald wieder verwelkt. Das hebräische Wort für Blume kann auch Krone bedeuten. Heute hat einer die Krone auf dem Kopf und ist stolz auf seine Karriere – und morgen wird er in den Vorruhestand geschickt. Heute gesund und voller Lebensfreude – morgen krank und verzweifelt. Was bleibt von unserem Leben, von unserer Arbeit und Mühe? »Der Mensch flieht wie ein Schatten und bleibt nicht«, sagt Hiob. Weder Faltencreme noch Medizin können verhindern, dass wir alt werden. Wie eine Blume verwelken, wie ein Blatt vom Baum fallen – das ist unser Schicksal. Doch für uns Menschen folgt auf den Winter kein neuer Frühling. Wer gestorben ist, kehrt nicht mehr zurück. 20 Jahre lang erinnert ein Grabstein an unseren Namen – dann wird abgeräumt und wir sind vergessen. Ganz brutal spricht Hiob von unserer Vergänglichkeit und klagt Gott dafür an. So hat der Schöpfer uns geschaffen – er ist schuld daran, dass wir sterben müssen. 
 
Und das ist noch nicht alles: Dieses kurze und düstere Leben wird von Gott noch zusätzlich verdunkelt. Wie eine finstere Wolke schwebt er über uns Menschen. Keine Sekunde lässt er uns aus den Augen; wir stehen unter sei­nem Urteil. Der Humorist Eugen Roth (1895-1976) hat diese Erfahrung in einem Gedicht beschrieben:
 
Ein Mensch, der recht sich überlegt,
dass Gott ihn anschaut unentwegt,
fühlt mit der Zeit in Herz und Magen
ein ausgesprochnes Unbehagen.
Und bittet schließlich Gott voll Grauen,
nur fünf Minuten wegzuschauen.
 
Auch Hiob verzweifelt unter diesem strengen Blick. »Du hast recht, Gott«, so schreit er heraus, »ich bin nicht rein. Ich gebe zu, dass ich ein Sünder bin. Keiner kann immer alles richtig machen. Schon von unseren Eltern haben wir nichts anderes gelernt als zu sündigen.« Hiob gibt zu: Ich bin schuldig. Aber er verlangt mildernde Um­stände. Hat nicht Gott uns so geschaffen, weiß Gott nicht längst, dass wir vor seinem Urteil nicht bestehen können? Und dann richtet Hiob an Gott eine ungeheure Bitte: »Schau weg, Gott. Lass mich in Frieden. Wenn ich schon sterben muss, dann will ich wenigstens die paar Jahre hier auf der Erde meine Ruhe haben.« Hiob vergleicht sich mit einem Tagelöhner, der den ganzen Tag lang schuftet und rackert und wenigstens nach Feierabend einmal Luft holen und durchatmen möchte.
 
Vielleicht atmen Sie jetzt auch tief durch. Steht so ein Text wirklich in der Bibel drin? Wird nicht Sonntag für Sonntag etwas ganz anderes von den Kanzeln gepredigt? Stimmt es denn nicht, dass Gott uns seine Nähe verspricht, dass wir in die Gemeinschaft mit ihm eingeladen sind? Hiob will von Gott genau das Gegenteil. »Lass mir meine Ruhe« – wie sehr muss Hiob gelitten haben, dass er so bitter wird. Wie tief muss seine Verzweiflung sein, dass er jedes Vertrauen zu Gott verloren hat. »Geh weg von mir, Gott, ich kann nicht mehr glauben« – Hiob hat keine Hoffnung mehr.
 
Man kann jetzt einwenden, dass wir es besser als Hiob wissen. Und auch Hiob weiß es ja am Ende besser. Durch seine Klage und durch Gottes Antwort findet er zu dem Vertrauen zurück, dass er in seiner Verzweiflung verloren hat. »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt« – auch dieses Bekenntnis lesen wir im Hiobbuch. Und doch müssen wir diese harten Worte aushalten. Alles ist vergänglich – das ist die bittere Erkenntnis unseres Predigttextes. Unser Leben und unser Glaube sind begrenzt. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass wir in jeder Lebenslage voller Gottvertrauen sind. Nein, es kann auch Zeiten geben, wo wir Gott nur noch wegschicken wollen, wie Hiob das getan hat. Doch dann ist es ganz wichtig zu sehen, wie Gott auf die Worte Hiobs reagiert. Gott nimmt ihm sein Denken und Reden nicht übel. Gott nimmt es keinem Menschen übel, wenn er ehrlich ist. Gott erträgt die bitteren Worte und Gott trägt Hiob in seiner Verzweiflung. Und Gott trägt nicht nur Hiob, sondern alle, die wie er nicht mehr glauben können. Und von Hiob können wir etwas Wichtiges lernen. Wir sollen uns eingestehen, dass wir Grenzen haben. Unser Leben in seiner Vergänglichkeit ist durch den Tod begrenzt. Aber auch unsere Kraft und unsere Liebe und unser Verstehen sind nicht grenzenlos. Wir Menschen stoßen an Grenzen; wir können nicht alles, was wir wollen. Nehmen wir zum Beispiel unsere Aufgabe als Eltern: Wir möchten, dass  unsere Kinder einen guten Weg ins Leben gehen. Und doch geben wir ihnen auch einiges mit an Fehlern und Schwächen, denn unsere Erziehung hat ihre Grenzen und ihre Schattenseiten. Hiob sagt es in aller Härte: »Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen?«. Ich denke, hier liegt ein ganz entscheidender Grund, warum wir Kinder taufen lassen. Weil wir als Eltern Grenzen haben, erbitten wir für sie Gottes Segen. Taufe heißt: Wir geben zu, was wir nicht können – aber wir halten unsere Kinder Gott hin und bitten um seine Hilfe. Nicht nur die Vergänglichkeit begleitet unser Leben, sondern auch Gott will unser Begleiter sein. Die Taufe ist sein Versprechen, dass wir in seiner Gemeinschaft leben können. Und dieser Gott hält es auch aus, wenn Hiob ihm die Gemeinschaft aufkündigt. »Schau weg, Gott, lass mich in Frieden« – und Gott wird diese Bitte auf seine Weise erhören. Nein, er wendet sich nicht ab von Hiob und seinem Elend. Gottes Augen sehen die Unruhe und das Leiden an der Vergänglichkeit. Gottes Ohren hören das Klagen und Seufzen und die hilflose Wut. Gottes Herz ist offen für das Leiden des Menschen. Gott hat verstanden, was Hiob ihm mit seiner bitteren Anklage sagen will. Hiob hat Recht, wenn er die Vergänglichkeit des Lebens beklagt. Deshalb setzt Gott nicht nur eine Grenze, sondern gibt uns auch ein Ziel. In aller Unruhe dieses Lebens sollen wir Ruhe finden. Dazu überschreitet Gott die Grenzen und wird selbst Mensch. Der Schöpfer lässt sich ein auf die Bedingungen der Schöpfung, er nimmt die Vergänglichkeit unseres Lebens auf sich. Durch Jesus Christus lässt Gott uns ausrichten: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Ruhe werdet ihr finden für eure Seelen.« Und Gott gibt Hiob Recht mit seiner Klage über die übermenschliche Verantwortung. Es ist wahr: Wir haben keine Chance, es Gott Recht zu machen. Aber Gott geht nicht herunter mit seiner Forderung. Er sagt nicht: »Dann nehme ich es nicht mehr so genau mit Gut und Böse, mit Unrecht und Schuld.« Nein, Gott sagt: »Ich nehme es auf mich; ich tue das, was ihr Menschen nicht fertig bringt.« Und auch diese Botschaft steckt in der Taufe drin. Das Untertauchen im Wasser ist ein Zeichen für das Sterben. Christus stirbt am Kreuz für Sünde und Schuld – in der Taufe stirbt ein Mensch symbolisch, um danach neu mit Gott zu leben. Und in Christus erfüllt Gott tatsächlich den Wunsch Hiobs. »Blicke doch weg, Gott« – ja, Gott schaut weg von uns Menschen, von unserer Sünde und Schuld, von der Vergänglichkeit unsers Lebens. Gott schaut auf Christus, den Anfang der neuen Schöpfung, der der Menschheit das Heil Gottes bringt. Durch Jesus Christus sind wir bei Gott angesehen, in seinem Namen brauchen wir keine Angst vor dem Urteil Gottes zu haben. In die Welt der Vergänglichkeit und des Todes scheint das helle Licht der Verlässlichkeit und der Treue Gottes. Daran glauben wir bei der Taufe, daran erinnern wir uns, wenn im November die Gedenktage kommen. Die Klage des Hiob ist nicht das letzte Wort. Und wie gut, dass der Ewigkeitssonntag kommt mit der Botschaft der Hoffnung. Wie gut, dass wir Advent feiern dürfen in der Erwartung des kommenden Heils. Wie gut, dass wir an Weihnachten wieder vor dem Wunder der Menschwerdung Gottes stehen. Wir sind eingeladen, diesen Weg mitzugehen und neu zum Glauben zu finden.
 
Tobias Geiger, Pfarrer in Sielmingen
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