Den leeren Raum füllen - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Kathrin Nothacker
16,5-15

Den leeren Raum füllen - Predigt zu Johannes 16,5-15 von Kathrin Nothacker

Samirs Eltern sind kurz vor seiner Geburt aus dem Libanon geflohen. Die Familie lebt in Deutschland. Samir erlebt eine Kindheit wie andere Kinder: er wächst in einer behüteten Familie auf. Deutsche und libanesische Kultur vermischt sich. Als er acht Jahre alt ist, verschwindet sein Vater von einem Tag auf den anderen. Er ist vom Erdboden verschluckt. Die Schlüssel hat er zuhause am Schlüsselbrett gelassen. Er hat nichts mitgenommen. Morgens aus dem Haus gegangen, am Abend nicht mehr nach Hause gekommen. Für immer verschwunden.

Das spurlose Verschwinden des Vaters prägt sich tief in Samirs Kinderseele ein. Alles um ihn herum atmet den Geist und die Erinnerungen an den Vater. Der Verlust wiegt schwer. Das Weggehen fühlt sich an wie ein immerwährender Verrat. Die Fragen drehen sich im Kreis. Die Antworten fehlen. Samir ist traumatisiert.

 

Weggehen heißt Abschied, Verlust, Trauer, Traurigkeit – manchmal Trauma. Weggehen bedeutet für die Gehenden und die Zurückbleibenden meistens nichts anderes als Schmerz.

Jesus sagt:

Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. [...] Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er's nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird's von dem Meinen nehmen und euch verkündigen. (Joh 16, 5-15)

 

Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.

 

Liebe Gemeinde, wenn wir jetzt die Kirche verlassen würden, auf die Straße gingen und die vorbeikommenden Menschen fragten, was es denn mit dem christlichen Pfingstfest auf sich habe, ich weiß nicht, welche Antworten wir bekämen. Ob überhaupt eine. Wenn wir dann sagen würden, Pfingsten feiere das Weggehen Christi und das Kommen des Geistes, würden uns Menschen vielleicht wirklich fassungslos anschauen.

Aber genau das ist es, was wir an Pfingsten feiern: Christus geht weg und der Geist der Wahrheit, der Geist des Trostes kommt. Mit Jesu Weggehen, mit der Tatsache, dass er sich den Menschen nach seiner Auferstehung entzieht, öffnet sich erst einmal ein großer, leerer Raum. Es ist ein Trauma.

Jesus, der wie kein anderer mit den Menschen unterwegs war, der Blinde sehend und Lahme gehend gemacht hat, der Tote und Totgesagte ins Leben zurückgeholt hat, der zu den „Outcasts“ gegangen ist und seinen schlimmsten Feinden vergeben hat – man hat ihn zum Schweigen gebracht, seine Spuren verwischt, seine sterblichen Überreste verscharrt.

Manche haben dann erzählt, er sei auferstanden, sie haben ihn gesehen, Gott habe ihn ins Leben zurückgeholt. Mit manchen habe er danach das Brot geteilt, anderen seine Wunden gezeigt.

Aber nur manchen. Viele spüren Leere, Verlassenheit, Trauer. Da ist ein großer leerer Raum.

Wie bei Samir. Nach dem Weggang des Vaters trösten ihn nicht die Freunde, nicht der väterliche Freund, nicht die Mutter. Der Vater fehlt. Er hat ihm erzählt von den Zedern des Libanon, er hat ihm die Lieder seiner eigenen Kindheit vorgesungen, er hat mit ihm Schiffe aus Walnussschalen gebastelt und sie auf das imaginäre Mittelmeer geschickt. Niemand und nichts kann den Vater ersetzen. Die Leere ruft ein Leben lang körperliche Schmerzen hervor.

 

Jesus sagt: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht

weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. (Joh 16,7)

Der Messias, der Heilsbringer geht, zieht sich aus dieser Welt zurück. Ein ungeheurer Gedanke. Unser Gott nimmt sich zurück und sagt: Im Loslassen werdet ihr stark sein, im Verlieren werdet ihr gewinnen, im Abschiednehmen Neues empfangen.

Das Neue ist der Geist der Wahrheit: Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. (Joh 16,13a)

 

Ein Raum öffnet sich, der durch Jesu Weggehen leere Raum füllt sich mit dem Tröstergeist, dem Geist der Wahrheit. Wie kann man diesen Geist verstehen, wie kann man ihn fassen? Vielleicht gar nicht. Vielleicht jeder und jede von uns ganz anders. Es ist wie mit unserem Glauben. Manchmal ist er stark und groß, manchmal ganz klein und verzagt, manchmal wissen wir nicht, was wir beten sollen, manchmal zweifeln wir an Gott und seiner Macht und manchmal durchströmt uns tiefe Gewissheit: Gott ist da und geht mit.

Der Geist der Wahrheit wird kommen und wird uns in alle Wahrheit leiten, so sagt es Jesus. Er wird den leeren Raum füllen, den wir mitunter schmerzlich empfinden: weil ein Mensch gegangen ist, den wir liebten, weil ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist, weil wir uns von einem Ort verabschieden müssen, der uns Heimat war, oder von Überzeugungen, die uns Sicherheit gaben.

Wahrheit hat in der Bibel etwas damit zu tun, dass ich mich auf etwas verlassen kann. Dass ich vertrauen kann, dass ich mich binde – an Christus und sein Wort. Es geht beim biblischen Wahrheitsbegriff nicht um etwas Absolutes, um etwas Objektivierbares. Nicht um eine nachprüfbare Übereinstimmung von Sachverhalt und Intellekt. Wahrheit ist Glaube und Treue, Freiheit und Bindung. Wahrheit ist Geschenk.

 

Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. (Joh 16,13a)

Pfingsten feiert das Kommen des Geistes. Und wenn es der Geist der Wahrheit ist, der kommt und um den wir bitten, dann gönnt er uns und allen anderen Wahres. Ich finde es in den Fundamentalismen unserer Zeit einen ungeheuer tröstlichen Gedanken, dass ich mit dem Geist der Wahrheit auch anderen Wahres gönnen kann. Ich kann und darf mich – Gott sei Dank – an Christus und sein Wort binden. An den Christus, der von sich selbst gesagt hat. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. (Joh 14,6a) Dieser Christus ist seit Pfingsten in Bewegung, zieht sich zurück, kommt wieder, geht mit. Ist selber der Weg. Auf ihn vertraue ich, an ihm halte ich fest – nicht an meinem eigenen Standpunkt.

Pfingsten, Fest des religiösen Besitzverzichts. Pfingsten gibt dem „Haben“ den Abschied und feiert die Offenheit für ein Leben mit dem Geist Gottes. Und diesen Geist besitzen wir nicht ein für allemal – wie manche meinen, die religiöse oder pseudo-religiöse Wahrheit zu besitzen – dieser Geist ist mit uns auf dem Weg, immer in Bewegung, immer im Werden, im Abschiednehmen und Wiederfinden, in der Leere und in der Fülle.

 

Martin Luther hat das Leben in Gottes Geist so beschrieben: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind’s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“

Zwanzig Jahre später macht sich Samir auf und reist in den Libanon, um das Rätsel des Verschwindens seines Vaters zu lösen. Er meint, im Land der Zedern eine Antwort zu finden auf die bohrende Frage, wo sein Vater hingegangen ist. Samir wird hineingenommen in eine verworrene Familiengeschichte und in das dramatische Schicksal des Nahen Ostens. Wäre der Vater nicht weggegangen, hätte er niemals verstanden, was das Heimatland der Eltern geformt und geprägt und verletzt hat. Wäre der Vater nicht weggegangen, hätte Samir nicht all die Menschen getroffen, die mit ihm verwandt oder seelenverwandt waren, nicht seine Großmutter und nicht seinen Bruder.

Samirs Geschichte ist übrigens nachzulesen in dem großen Roman von Pierre Jerewan: „Am Ende bleiben die Zedern“.

Weggehen heißt Abschied, Verlust, Trauer, Traurigkeit – manchmal Trauma. Weggehen bedeutet für die Gehenden und die Zurückbleibenden meistens nichts anderes als Schmerz. So habe ich anfangs gesagt.

Weggehen, liebe Brüder und Schwestern, liebe pfingstliche Gemeinde, heißt aber auch: Der leere Raum füllt sich mit dem Geist, dem Geist der Wahrheit, dem Tröster. Das Weggehen ist die Voraussetzung, dass Neues kommen kann: neue Erkenntnis, neue Menschen, neues Leben.

Möge Gottes Geist in unserem Leben einkehren, die leeren Räume füllen und die gefüllten leerfegen. Möge Gottes Geist uns beleben und erfrischen, uns trösten und erneuern.

Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist. Amen.