Wir müssen reden – vom Umgang mit Krankheit - Predigt über Joh 5, 1-16 von Bert Hitzegrad

Wir müssen reden – vom Umgang mit Krankheit - Predigt über Joh 5, 1-16 von Bert Hitzegrad
5, 1-16

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist! Amen!

 

Liebe Gemeinde!

In der Epistellesung (Jak 5, 15-16) hieß es: „Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie für ihn beten.“ Im Predigttext aus dem Johannesevangelium im 5. Kapitel geht es ganz konkret um Krankheit und Heilung:

Die Heilung am Teich Betesda

1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 

2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; 

3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.

5 Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. 

6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 

7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 

8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 

9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag. 

10 Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. 

11 Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! 

12 Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? 

13 Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.

14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.

15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. 

16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. 

 

Und Gott segne dieses, sein Wort an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden! Amen!

 

Liebe Gemeinde!

„Lasst uns doch nicht immer von Krankheiten sprechen …“ Kennen Sie das, dass man im Gespräch schnell an diesem Punkt angekommen ist? Fast jeder hat Grund zur Klage.

„Lasst uns doch nicht immer von Krankheiten sprechen …“ Imke klagt über ihren Bluthochdruck, Frank „hat Rücken“ und Nico ist auf dem Weg in die Diabetes. Es hätte ein schöner Abend werden können, doch dann sind die Krankheiten dran. „Lasst uns doch nicht immer von den Krankheiten sprechen“ meint Gabi, „damit können wir warten, bis wir alt sind.“

„Doch wir müssen davon sprechen, ich muss euch davon erzählen: Diese Woche kam die Diagnose! Ich habe Parkinson.“

 Schweigen in der Runde. Jens, der mit seinen Döntjes die Runde oft erheitert, kämpft offenbar mit den Tränen. „Doch, lasst uns davon erzählen, ich möchte davon erzählen!“

„Parkinson, das hat doch mit Zittern und so zu tun. Das sehe ich gar nicht bei dir!“ wendet Imke ein.

„Mir ist schon aufgefallen, dass du dich in letzter Zeit anders bewegst, langsamer, mit so steifen Bewegungen“, wendet Frank ein. „Und du hast mir neulich eine handschriftliche Nachricht zukommen lassen. Die konnte ich kaum lesen, weil sie so klein geschrieben war. Ich glaube, solche Symptome gehören zu Parkinson.“

„Parkinson, Parkinson! Was ist das eigentlich?“ will nun Jule wissen. „Morbus Parkinson, also die Krankheit Parkinson ist eine neurologische Krankheit.“ erklärt nun Jens sein Leiden.„So wie Alzheimer. Nervenzellen sterben ab, die entscheidend sind für den Bewegungsapparat unseres Körpers. Ein englischer Arzt namens James Parkinson hat die Krankheit im 19. Jahrhundert erforscht. Nach ihm heißt sie Parkinson. Im Deutschen hieß sie vorher Schüttellähmung wegen des Zitterns, es können aber auch Lähmungen auftreten.“

„Und was kann man dagegen tun?“ will Gabi wissen, die immer praktisch denkt. „Nicht viel. Zur Zeit nehme ich Medikamente ein, hoffe, dass die Symptome damit nachlassen. Es gibt auch die Möglichkeit einer OP am Kopf. Aber umkehren lässt es sich nicht …“ 

„Mensch Jens! Dich hat es ja ganz schön erwischt. Das war sicherlich ein Schock für dich als du die Diagnose bekommen hast!?“

„Hhmmmmm! Eigentlich hatte ich damit gerechnet. Ich hatte schon bei Google die Symptome gefunden … und da hieß es: Parkinson!“

Schließlich will Imke wissen: „Und nun: Wie gehst du damit um?

„Ich erzähle von der Krankheit“ erwidert Jens. „Werde ich gefragt, wie es mir geht, freue ich mich, dass jemand sich traut, auf mich zuzugehen. Wenn jemand mich fragt „Darf ich dir in den Mantel helfen?“ dann nehme ich inzwischen das  Angebot an! Es tut gut, wenn ich mit der Krankheit nicht allein bin!“

„Lass uns nicht über Krankheiten sprechen! Nein, wir müssen über Krankheiten sprechen.“ Krankheiten bestimmen das Leben vieler Menschen, Parkinson ist nur ein Beispiel. 40% der Deutschen sind chronisch erkrankt, sitzen in Wartezimmern, hoffen auf erfolgreiche Therapien, vielleicht auch auf ein Wunder. Für sie gilt nicht die klassische Lebenseinstellung „Hauptsache gesund“. Für sie gilt: „Ich lebe – ich lebe auch mit der Krankheit.“

Auch für die Bibel ist das wichtig. Da geht es ständig um Heilung und Heil für die Kranken. Es gehört zur Mitte des Wirkens und der Verkündigens Jesu. Im Neuen Testament gibt es mehr als 25 Heilungsgeschichten, in denen Jesus sich als heilender Arzt erweist, Menschen, die Kranken in ihrer Krankheit anspricht, Heilung an Leib und Seele schenkt.

Zu diesen Erzählungen gehört auch der Abschnitt aus dem Johannesevangelium. Er schenkt uns einen kleinen Einblick in das damalige Gesundheitssystem: Die Kranken stehen außerhalb der Gesellschaft, ganz konkret - draußen vor der Stadt am Schaf-Tor warten sie auf Genesung. Viele Kranke sind es mit unterschiedlichsten Diagnosen: Blinde, Lahme, Aussätzige … Wir können uns das Bild am Teich mit dem hoffnungsvollen Namen „Betesda – Haus der Barmherzigkeit“vorstellen – ein Wartezimmer voller Sehnsucht nach einem besseren Leben-- die Wunden, das Stöhnen, die Gerüche, das unmenschliche Warten … Einer dieser Leidenden wird herausgenommen aus der Masse der Kranken. Wir hören und lesen, dass er schon 38 Jahre krank ist, dass er liegen muss, dass er ohne Hilfe sich nicht bewegen kann … 

Ein ganzes Leben liegt schon hinter ihm, aber ist das ein Leben? Und so wartet er, wartet auf das Wunder, das Wunder des heiligen und heilenden Wassers, aber vor allem auch auf das Wunder, dass jemand sich für ihn interessiert, dass irgendjemand hilft, dass ihm jemand in seiner aussichtslosen Situation neue Perspektiven schenkt … Jesus wird sein Arzt. Das Warten hat ein Ende. Und der, der sich an keine Regeln oder Naturgesetze hält; der, der nur ein Gebot kennt – „Liebe Gott und liebe deinen Nächsten“ -, der benötigt kein Wasser, keine Trage, um den Kranken zum Teich zu tragen. Er braucht auch keine lange Anamnese und die Diagnose, die zur Therapie führt. Jesus wendet sich ihm zu und so heilt er die inneren Wunden, und schenkt dem neues Leben, der bisher am Leben nicht teilnehmen konnte.

Und der, der redet natürlich davon, wer ihn gesund gemacht hat. Er redet davon, weil er gar nicht anders kann und die Freude nach 38 Jahren zu groß ist, weil er die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben hatte, weil er den Glauben an die Menschen und an Gott verloren hatte. Doch diese eine Begegnung verändert sein Leben, diese eine Begegnung an einem Sabbat, zeigte ihm, dass Gott auf seiner / auf unserer Seite steht trotz Krankheit, Not und Leiden, ja gerade auf den krummen Wegen des Lebens.

Jens, der Parkinson-Patient, hat diesen Glauben, hat diesen Mut. Während einer Kur für Menschen mit seinem Krankheitsbild, besucht er am Sonntag den Gottesdienst. Es fällt ihm schwer, während des Abendmahls zu stehen. Ein älterer Herr hält seine Hand, die zittert. Es tut ihm gut, das Gebet für die Kranken zu hören und schließt gleich seine Familie mit ein, die ebenfalls mit der Krankheit leben muss.

Zum Schluss-Segen steht er wieder auf, etwas wackelig, etwas unbeholfen. Die Zeile „Der Herr schenke dir seinen Frieden“ tut ihm besonders gut. Nichts, aber auch gar nichts soll ihn von Gott trennen. Gott geht mit, ist da, hält die Hand, wenn sie zittert, hält ihn fest, wenn er fällt.  Beim Mittagessen in der Kurklinik erzählt er davon, dass er zum Gottesdienst in der Kirche war. Während er Mühe hat das Rindfleisch zu schneiden, erntet er Unverständnis: „Du gehst in die Kirche? Der liebe Gott hat dich doch mit deiner Krankheit vergessen. Warum musst du leiden?“ Beinahe lässt die aufgebrachte Nachbarin den Löffel für den Nachtisch fallen …

Und Jens antwortet, während er über den Pullover wischt, der etwas Tomatensauce abbekommen hat. „Meine Frage lautet: Warum leidet Gott mit mir? Und ich antworte: Weil ich ihm wichtig bin, auch wenn der olle Parkinson mich schüttelt oder lähmt. Er hält zu mir! Also: Lass uns nicht nur über Krankheiten sprechen, sondern auch über das, was uns Hoffnung und Zuversicht gibt. Wir sitzen doch gemeinsam im Wartezimmer der Sehnsucht!“

Amen

 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor i.R. Bert Hitzegrad

1.         Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Die Predigtsituation ist eine sehr persönliche. Ich habe primär nicht die Gemeinde im Blick, sondern zunächst mich selbst. Seit sechs Jahren begleitet mich die Diagnose Parkinson, die schließlich auch zur Pensionierung vor einem Jahr geführt hat. Mit einer guten Medikamentierung, Krankengymnastik etc. kann ich mit dieser Krankheit relativ gut leben. Der Ruhestand tut sein übriges. Diese Predigt ist ein Versuch, über die Veränderung nachzudenken, die diese Krankheit mit sich gebracht hat und nach einem tragenden Fundament zu suchen, während das Lebensgebäude zunehmend bröckelt.

2.         Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

Leitend bei der Predigtvorbereitung war die Frage: Was hilft mir in dieser Situation? Ich muss keinen anderen Menschen helfen, sondern brauche selbst Hilfe. Als Seelsorger und als professioneller Ratgeber bin ich selbst in der Situation, Seele und Leib versorgen zu lassen und das anzunehmen - also ein Testfall für das, was ich beruflich angeboten habe und was nun mein eigenes Leben trägt. Die Suche nach Antworten und der Versuch, Antworten zu geben haben mich in der Predigtarbeit vorangebracht. Das fiktive Gespräch über die Krankheit machte es möglich, das Thema in einer gewissen Lebendigkeit vorzustellen.

3.         Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten? 

Zwei tragende Brückenpfeiler habe ich festmachen können. Zum einen das Gespräch über die Krankheit = nicht verschweigen, sondern offen und ehrlich damit umgehen, nicht verdrängen, sondern immer wieder mit vertrauten Menschen sprechen. Zweitens: Eitelkeiten ablegen, Hilfe annehmen, wo Hilfe erforderlich ist und Hilfe angeboten wird. Persönliche Problematik bleibt für mich die Frage: Was tragen Heilungsgeschichten im Neuen Testament für die Erkrankten des 21. Jahrhunderts aus? Warten wir auch auf das große Wunder? Ist es Schuld/Sünde, die Leib und Seele erkranken lässt und von der nur Jesus befreien kann. Wenn das Leben so einfach wäre ...

4.         Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung? 

Zunächst eine wohltuende und wohlwollende Rückmeldung und eine Analyse, die dem Prediger und der Predigt mit ihrem Anliegen völlig gerecht wurde.  Coaching, auch wenn wenig Zeit blieb war eine große Hilfe, die schwergängigen Formulierung zu identifizieren und abstrakte Rede in eine erzählerische Form zu gießen, was der Predigt eine gewisse Leichtigkeit verleiht. DANKE! 

P.S.: Das Beispiel Parkinson ist sicherlich sehr engführend, kann aber leicht durch andere Erfahrungen und das Leben total umkrempelnde Diagnosen ersetzt werden. 

Perikope
26.10.2025
5, 1-16

Sehnsucht nach dem Leben - Predigt zu Joh 6,30-35 von Margitta Dümmler

Sehnsucht nach dem Leben - Predigt zu Joh 6,30-35 von Margitta Dümmler
6,30-35

Ich sehe oft um Mitternacht,
wenn ich mein Werk getan
und niemand mehr im Hause wacht,
die Stern' am Himmel an.

Dann saget, unterm Himmelszelt,
mein Herz mir in der Brust:
„Es gibt was Bessers in der Welt
als all ihr Schmerz und Lust."

Ich werf' mich auf mein Lager hin,
und liege lange wach,
und suche es in meinem Sinn,
und sehne mich darnach.

(1.+.4.+5. Strophe des Gedichts „Die Sternenseherin Lise“ von Matthias Claudius)

Laue Nächte, freier Himmel – gerade ist ja wieder die Zeit, in der man einfach draußen sitzen kann und den Sternenhimmel betrachten. Wann haben Sie das zuletzt getan? Und was haben Sie sich dabei gedacht? Das lyrische Ich der Sternenseherin Lise aus dem gleichnamigen Gedicht von Matthias Claudius, ist ergriffen von den Sternen, von der Welt und ihrer Weite. Und doch ahnt sie vielleicht, wenn sie in den Himmel blickt: Da ist noch mehr und ein Gefühl hält sich in ihr fest. Ein Gefühl, das leise flüstert und sanft weht. Sehnsucht. Von großen Geschichten murmelt, Helden vielleicht, fernen Zeiten und Orten oder einem Zuhause. Die Sehnsucht ist ein merkwürdiges Gefühl, irgendwie ziellos, und doch auf etwas gerichtet. Sie lässt Dinge erahnen und schmecken, als, wären sie schon da und lägen einem unmittelbar auf der Zunge. Sie kommt über einen und geht so ungewiss, wie sie eben kam. Und ich meine dabei nicht die Sehnsucht nach diesem oder jenem, einem schönen Urlaub oder einem Stück Kuchen, sondern eine Sehnsucht, dass da noch mehr ist. Ein Mehr voller Bedeutung und Sinn, dass die Welt wie sie hier eben ist oder nicht ist, nicht alles gewesen sein kann. Eine Stimmung, die einen vielleicht beschleicht, eben wenn man in den Himmel blickt, oder auf die Weite des Meeres.

Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, auf dass wir sehen und dir glauben? Was wirkst du?

31 Unsre Väter haben Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben steht: »Brot vom Himmel gab er ihnen zu essen.«
32 Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel.
33 Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.
34 Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.
35 Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.

Diese Zeilen unseres heutigen Predigttextes erzählen auch von einer Geschichte der Sehnsucht. Wir befinden uns unmittelbar nach der Speisung der 5000, die Umstehenden und die die dabei gewesen sind, haben gerade ein Wunder erlebt. Wie aus wenigen Broten und Fischen ein Mahl für so Viele werden konnte. Und trotzdem fragen Sie: Was für Zeichen kannst du uns geben, dass wir sehen und glauben? – Sie wollen mehr. Mehr von diesen Wundern, wie es damals mit dem Manna bei den Israeliten und Mose in der Wüste auch gewesen ist. Als die Israeliten vielleicht gerade in den Sternenhimmel blickten und plötzlich an einem so lebensfeindlichen Ort wie der Wüste schlechthin eine Oase vom Himmel fiel.

Ich kann diese Menschen, die Jesus dort trotzdem noch fragen, gut verstehen. Sie haben mit der Speisung der 5000 einen kleinen Happen geschmeckt und quasi an dem Vorhang der Welt vorbei gelinst und einen Blick auf göttliches Tun erhascht. Und jetzt flammt in ihnen eine Sehnsucht auf vielleicht, so ein mysteriöses Gefühl davon, dass man nur zu gerne den Vorhang ganz beiseite ziehen möchte, wenn man doch nur könnte!

Und Jesus? Er geht mit ihnen, er versteht ihre Sehnsucht, aber er setzt noch einen drauf. Denn ja Mose ist ein großer Held, aber all das Sehnen verweist doch letztlich nur auf Gott, oder? So ist es eben nicht Mose gewesen, der das Manna herbeigebracht hat, sondern Gott. Als die Israeliten in den Himmel blickten. Gott zeigte sich, in all seiner Zuwendung und Liebe in diesem Manna und es wurde den Israeliten zu mehr als nur bloßer Nahrung.

Das Brot, das sie erstmal nur überleben ließ an so einem Ort wie der Wüste, es wurde den Israeliten zu Mehr. Doch zu was? Zunächst einmal fühlt sich auch die Sehnsucht in mir bei Jesu Antwort angesprochen. Die Sehnsucht, dass Gott in Beziehung zu dieser Welt steht, dass uns kein grauer und trister Vorhang voneinander trennt, sondern dass er sich kümmert und sein Wirken sich wahrhaftig in der Welt zeigt. Dass es da ein Mehr gibt, in allen Buchstaben der Bibel, in unseren Kirchenmauern, Gemeinschaften und persönlichen Glauben. Ein Mehr als das Faktische. Eine lebendige Beziehung.

Denn dies ist das Brot Gottes, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben.

Dazu ist den Israeliten das Manna geworden, zu einer existentiellen und geistigen Speise. Einer Speise, die nicht nur dem Magen Frieden bringt, sondern dem ganzen Leib. Das Sein in Ruhe bettet. So ist es mit dem Brot, das vom Himmel kommt – von Gott – es gibt der Welt das Leben.

Und die folgende Frage der Umstehenden trifft mich sehr: Herr gibt uns alle Zeit solches Brot! Wenn es das gibt, dann wollen wir es haben! Ich glaube Jesus hat hier einen tief verankerten existentielle Sehnsuchtsnerv getroffen: Wer will nicht Leben? Wer will nicht, dass die Sehnsucht Wirklichkeit und konkret wird? Ein Leben in Fülle. Und ein vielfältiges Bild tut sich da bei mir auf: Das Bild von einer Speise, die so ein Leben schenkt, dass mein Herz mir in der Brust sagt: „Es gibt was Besseres in der Welt als all ihr Schmerz und Lust." Frieden, Ruhe, Geborgenheit.

Und Jesus antwortet auf die Frage der Umstehenden jetzt sicher anders als erwartet, wenn sagt: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.

Nie mehr hungern? Und nie mehr dürsten? Wie muss das in den Ohren dieser Menschen geklungen haben. In einer Zeit, in der die Grundstandards noch nicht so gesichert waren wie heute bei uns. Jesus weiß sicher um diese Dimension des täglichen Lebens, wenn er vom Hungern und Dürsten spricht. Und so sehr diese Dimension unbedingt dazu gehört, höre ich als moderner Mensch vor allem auch, den Wunsch nach Geborgenheit und Frieden, der gerade bei uns jetzt so groß ist. Ich höre, dass Jesus hier auch von dem tiefen Gefühl der Ruhe spricht, nie mehr nach etwas Verlangen oder Zehren zu müssen. Wenn alle Zweifel und die kleinen oder großen Stimmen des Strebens verstummt sind. Wenn tiefer Friede alle stürmischen Gedanken umwehend zur Ruhe bringt und weder Schmerz noch Lust noch eine Rolle spielen. Diese Ruhe, die ich hier in Jesu Rede vom Brot des Lebens erahne, sie ist wohl dann eine, die sich auf alles legt und Frieden bringt. Frieden mit der Welt, Frieden mit meinen Mitmenschen und Frieden mit mir.

Ein tröstliches Bild, das Bild dieser Sehnsucht. Die dann solche Fragen stellt, wie die Umstehenden es tun. An welchen Zeichen soll ich das alles erkennen? Woran kann ich mich festhalten? Und wie bekomme ich dieses Brot des Lebens?

Ich werf' mich auf mein Lager hin,
und liege lange wach,
und suche es in meinem Sinn,
und sehne mich darnach.

Wer zu mir kommt, der … höre ich es dann und fühle mich daran erinnert, dass Jesus nicht auf eine ferne Zukunft verwiesen hat, sondern auf alle Gegenwart der Worte: Ich bin das Brot. Das Leben geht bereits jetzt nicht allein im Vorhandenen auf. Jesus selbst ist für mich der Garant dafür. Wie er in dieser Welt selbst immer wieder davon sprach und darauf zeigte: Es gibt ein Mehr in der Welt als all ihr Schmerz und Lust. Wir sind mehr als eine reine Einbildung unserer Gehirne oder die Summe all unserer Taten. Als Kinder Gottes und seine Geschöpfe sind wir in all unseren Leben verbunden und verwoben mit Gott. Diesen Gedanken finde ich so tröstlich: In unserer Welt, in der sich das Leben so oft nach Zahlen, Summen und Erfolg bemisst, gibt es ein Lebendig-Sein, dessen Fülle wir uns nicht erst erarbeiten müssen. Dieses Leben ist bereits erfüllt in den Worten. Ich bin das Brot.

Ich sehe oft um Mitternacht,
wenn ich mein Werk getan
und niemand mehr im Hause wacht,
die Stern' am Himmel an.

Und wenn ich jetzt sehnsüchtig in den Himmel blicke und auf das Manna warte, dann sind es Jesu Worte, die wie Perlen vom Himmel herabfallen. Ich-bin-das-Brot-des-Lebens. Jedes einzelne, nehm‘ ich auf und halt es fest. Sie sind für mich bestimmt. Mein Leben ist jetzt. Nicht erst Morgen, oder an einem bestimmten Ort. Mein Leben in Fülle ist jetzt, mit jedem Schritt, den ich tue und Gedanken, den ich kommen und gehen lasse – bin ich verwoben mit Gott und diesem Mehr. Bei der Fülle des Tages und der Stille der Nacht, zwischen Arbeit und freien Tagen, kleinen und großen Werken. Jesu Worte sind für mich bestimmt, jetzt.

So verwoben mit den Sternen, blickt meine Sehnsucht auf Gott und er auf mich zurück. Ich bin das Brot – nimm hin uns iss – mit ihnen ist es mir, als ob alles schon nach Erfüllung schmeckt.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Margitta Dümmler

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Meine Gemeinde ist modern, dh. Mit Band und wenigen klassischen liturgischen Elementen. Die Gemeinde ist eher städtisch ausgerichtet, mit einem relativ hohen Akademiker Anteil. Der Gottesdienst findet immer um 10:45 Uhr statt und wg. Meiner halben Stelle dort, ist die Gemeinde es gewohnt, viele unterschiedliche Prediger*innen zu hören.


2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ohne es genauer benannt zu haben, das Bild in dem Wortspiel mit dem hebräischen Wort für Brot und Leben. Sowie meine momentane Arbeit an meiner Promotion zu dem Gefühl der Sehnsucht.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Gegenwart von Jesu Worten: Ich bin das Brot.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?

Ich schreibe immer ein bisschen, dann überarbeite ich das wieder und dann wieder. Ich denke der wichtigste Schritt ist dabei die Anschaulichkeit durch sprachliche Bilder, gerade bei der Sehnsucht.
 

Perikope
03.08.2025
6,30-35

Das Leben im Glauben ist und bleibt spannend - Predigt zu Joh 5,39-47 von Andreas Schwarz

Das Leben im Glauben ist und bleibt spannend - Predigt zu Joh 5,39-47 von Andreas Schwarz
5,39-47

„Heureka“.
So soll Archimedes von Syrakus im 3. Jahrhundert vor Christus gerufen haben. Und zwar, so berichtet die Anekdote, sei er nackt durch die Stadt gelaufen und habe immer wieder laut ‚Heureka‘ gerufen: Ich habe es gefunden. Denn seine physikalische Erkenntnis erlangte er, als er in der Badewanne saß.
Ich habe es gefunden.
Das ist das manchmal überwältigende Ziel einer Suche, nach einer Erkenntnis.

Ihr sucht in der Schrift.
Das ist wohl so bei uns.
Wir sind auf der Suche in der Schrift:
nach Trost, wenn wir traurig sind,
nach Hilfe, wenn wir gefordert werden,
nach Ruhe, wenn wir verunsichert sind,
nach Orientierung, wenn wir nicht wissen, wohin,
nach einer Antwort auf entscheidende Fragen.
Wie gern hätten wir eine solche Situation, das Entscheidende gefunden zu haben.
Es muss ja nicht in der Badewanne sein.
Und wenn doch, dann müsste ich nicht aufspringen, auf die Straße rennen und rufen: Heureka – ich habe es gefunden.
Aber zu finden, wonach ich suche, das wäre schon was.
So wie bei dem Wissenschaftler.
Wenn er es einmal gefunden hat, ist es ein Besitz.
Den hat man dann und kann ihn anwenden.
Immer wieder.
Man kann ihn sich bestätigen lassen.
Die Formel stimmt.
Sie passt.
Sie ist richtig.
Sie ist das Ziel, das einer erreicht hat.
Die Suche hat ein Ende.

Ihr sucht in der Schrift.
Ob wir so suchen?
So, dass wir hoffen, die Suche ist damit beendet?
Wir haben ein Ziel erreicht.
Wir haben ein für alle Mal den Trost,
die Hilfe, die Ruhe, die Orientierung, die Antworten.
Glauben wir, dass es das gibt?
Dass Glaube das bedeutet?
Ein Ziel zu erreichen?
Und dann ist alles klar und sicher und geklärt?
Dann haben wir den Standpunkt, nach dem wir uns sehnen.
Dann haben wir für alles das Rezept.
Wir wissen dann, was richtig und gut ist.
Vor allem wüssten wir, was zum Ziel führt?
Glauben wir, dass unser Suchen in der Schrift vorbei ist, wenn wir gefunden haben, wonach wir suchen?

Ihr sucht in der Schrift.
Das ist eine gute Idee.
Denn sie erzählt von Gott.
Dass er das Leben wollte und erschuf.
Wie er das Leben seiner Menschen sicherte.
Auch als sie aufhörten, nach ihm zu fragen.
Wie er sie in die Freiheit führte, obwohl sie immer wieder unzufrieden waren und sich beschwerten.
Zwischendurch dachten sie, er habe sie vergessen,
allein gelassen.
Als stehe er nicht zu seinen Zusagen, zu seinem Wort, das er Mose gegeben hatte.
Und dann erlebten sie, wie er seine Zusagen bestätigte und erneuerte, obwohl sie ihren Part niemals wirklich einhielten.
Die Schrift erzählt, wie Gott seine Menschen liebt und sich für sie einsetzt.
Sie erzählt, dass er sie niemals aufgibt,
dass er ihnen nahekommt, um sie wirbt und um sie kämpft.
Die Schrift erzählt von Gottes Herz, das geöffnet ist für uns.
Sie erzählt vom Leben.
Jetzt und in Zukunft.

Ihr sucht in der Schrift.
Das ist eine gute Idee.
Denn sie erzählt von Jesus Christus.
Von Gottes Weg des Lebens.
Jetzt und in Zukunft.
Das ist wunderbar.
Aber vielleicht nicht das, was wir gesucht hatten.
Zu einer Ruhe führt das nicht.
Schon gar nicht zu einem Besitz.
Als hätten wir etwas, das sich jetzt beliebig anwenden ließe. 
Als seien wir nun gerüstet für alle Lagen unseres Lebens.
Welche Frage auch immer sich uns stellt, 
wir hätten die Antwort.
Vor welches Problem auch immer wir geraten, 
wir hätten die Lösung.
Was immer jemand sagt oder tut, 
wir wüssten, ob es richtig oder falsch ist.
Als sei die Schrift eine Formelsammlung.
Unter dem Arm, in der Hand – sofort griffbereit, um auf alles zielsicher reagieren zu können.
Für mich – und gegebenenfalls gegen andere.
Die Schrift hilft uns nicht, wenn wir etwas anderes in ihr suchen und zu finden hoffen, als Jesus Christus.
Sie gibt uns keine Sicherheiten,
keine Lösungen,
keinen Besitz.
Schon gar nicht gibt sie uns Worte, die wir als Waffen gegen andere einsetzen.
Sie führt uns zu Jesus Christus.
Der hat immer und immer wieder Menschen in Frage gestellt und verunsichert.
Dann, wenn sie meinten, sicher zu sein,
Bescheid zu wissen,
urteilen zu können.
Von einem scheinbar sicheren Standpunkt aus.

Ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.
Nein, nicht um Wissen geht es.
Nicht um geistigen, ethischen, moralischen Besitz.
Sondern um die Liebe Gottes.
Wie Jesus sie gelebt hat.
Die war oft genug überraschend.
Unverdient ist sie immer wieder.
Widerspruch ruft sie hervor.

Wie kannst du nur?
Weißt du nicht?

An der Liebe Gottes entzündet sich der Widerspruch gegen Jesus Christus.
Ist das zu verstehen?
Der Gelähmte lag da, konnte sich nicht rühren.
Wartete auf Heilung, 38 Jahre lang.
Aber niemand war für ihn da.
Jeder war sich selbst der Nächste.
Bis Jesus kam und ihn heilte.
Unseliger Weise war es aber Sabbat.
Da hätte Jesus nicht arbeiten, also nicht heilen dürfen.

Wie kannst du nur?
Weißt du nicht?

Die Schrift sagt doch, was richtig und falsch ist,
was man darf und was verboten ist.
Klare Sache.
Klarer Standpunkt.
Da weiß man, wo es langgeht.
Und wie man das Verhalten anderer Menschen zu bewerten hat.

Du hättest nicht heilen dürfen.
Heute nicht.
Die Schrift ist wichtiger als die Liebe.

Ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.
Darum streitet ihr;
kämpft darum, die besten Argumente zu haben,
um Recht zu haben.
Um zu urteilen,
zu beurteilen,
zu verurteilen.

Ohne die Liebe regiert der Streit,
am Ende der Hass, der zu Gewalt führt,
mit Worten und Taten.
Und das mit der Überzeugung,
das Richtige zu tun, das Gute.
Alles richtig, mit kaltem Herzen.
Und der Gelähmte läge noch immer am Teich,
weil niemand die Liebe Gottes in sich hat.
Bis Jesus kommt und ihn am Sabbat heilt.
Der alles falsch macht, aber die Liebe Gottes lebt.

Wir finden keine Wahrheiten in der Bibel,
keine Überzeugungen, keine Richtigkeiten, keine Lösungen, keine Antworten.
Wir finden Jesus Christus.
Und bleiben ein Leben lang auf der Suche.
Unsere Suche hat uns zu ihm geführt.
Hierher in den Gottesdienst.
Gleich an seinen Altar.
Und wir hören, schmecken und sehen,
dass wir ihm begegnen.
Wir sind nicht allein, verlassen oder einsam.
Wer ein Handbuch zur Lösung aller Probleme erhofft, ist bei der Schrift an der falschen Adresse.
Wer einfache Antworten auf drängende Fragen sucht, ebenfalls.
Wir finden Jesus Christus.
Verborgen in seinem Wort, in Brot und Wein.
Missverstanden – und uns doch nahe.
Angeklagt, verurteilt, ermordet und doch lebendig.

Auf Jesu Spur suchen wir in der Schrift.
Machen schöne Erfahrungen der Liebe und freuen uns darüber.
Manchmal bleiben wir verunsichert zurück.
Wir finden Halt und können schwere Wege gehen.
Und manchmal wissen wir den nächsten Schritt nicht.
Das Leben mit Christus bleibt spannend,
ein Leben lang. Voller Überraschungen.
Aber mit ihm geht es ins Leben.

Heureka – das habe ich in der Schrift gefunden. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Andreas Schwarz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es wird eine relativ gut gefüllte Kirche sein, eine Doppeltaufe, eine Aufnahme eines neuen Gemeindegliedes, erster Abendmahlsgottesdienst seit Pfingsten, nach den Ferien. Die Gemeinde wird sehr gemischt sein, was ihre Frömmigkeit und Traditionsverbundenheit angeht, auch Erwartung und Umgang mit der Schrift. Das erlebe ich als große Herausforderung, die Neuen genauso anzusprechen, wie die Treuen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Botschaft Jesu, wie sie Johannes übermittelt, dass die Liebe im Umgang miteinander entscheidend ist. Es wird so viel gestritten und die Bibel wird dabei von manchen gern als Zeuge verwendet, um Recht zu haben und andere als falsch oder verirret zu bezeichnen. Hier erlebe ich eine große Freiheit, die dann entsteht, wenn es darum geht, anderen Gutes zu tun.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Etwas zugespitzt: Es gibt nur einen Weg, Hass und Streit und Rechthaberei zu überwinden: Liebe – auch dann, wenn sie scheinbar scheitert.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Diese Frage kann nicht beantwortet werden, da es leider kein Coaching gab.

Perikope
22.06.2025
5,39-47

PfingstGPT: Von Göttlicher Intelligenz und künstlicher Weisheit - Predigt zu Joh 14,15-27 von Kira Stütz

PfingstGPT: Von Göttlicher Intelligenz und künstlicher Weisheit - Predigt zu Joh 14,15-27 von Kira Stütz
14,15-27

(Bibeltext als Evangeliumslesung im Gottesdienst)
 

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.


(1)    Ein neues Normal
Seit 2022 ist die Welt eine andere. Nicht nur, dass wir seit dem 24. Februar wieder Krieg mitten in Europa erleben oder uns zunächst das 9-Euro-Ticket und später das Deutschlandticket das Reisen erleichtert haben – auch unser Denken und Arbeiten wurden revolutioniert: ChatGPT und andere KI-Tools sind seither frei verfügbar.
Und ich bin ehrlich: Ich nutze künstliche Intelligenz mittlerweile regelmäßig. Natürlich weiß ich, dass die Verwendung von KI mit einem hohen Verbrauch an Strom, Wasser und anderen Ressourcen einhergeht. Ich weiß, dass sich KI an den Gedanken, Texten und Bildern anderer Menschen bedient und damit möglicherweise Urheberrechte verletzt. Und ich weiß auch, dass ich es mir bequem mache, wenn ich mein Denken und Arbeiten nur noch in ökonomischen Kategorien verstehe, indem ich mir einrede, dass mich KI effizienter arbeiten lässt und ich durch ihre Unterstützung mehr Zeit für andere Dinge gewinne – obgleich diese „anderen Dinge“ meist nur noch mehr Arbeit sind.
Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann habe ich selbst für diese Predigt KI verwendet. Keine Sorge, dieser Text stammt von mir – doch neben Bibel, Gebet, Predigthilfen und Brainstorming hat mir auch ChatGPT geholfen, Gedanken zu sammeln und zu strukturieren. Ist das okay? Ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich: Das ist für viele Menschen das heutige Normal.

(2)    Gott ist gegenwärtig
Mit dem ersten Pfingsten begann ein anderes Normal – sofern man in der Geschichte Gottes mit den Menschen angesichts von Tod und Auferstehung Jesu sowie Himmelfahrt überhaupt von „normal“ sprechen kann. Nachdem Gottes Sohn sein Werk vollendet hatte, mussten seine Jünger mit all dem Erlebten zurechtkommen. Der ersten schmerzhaften Trauer um den Tod Jesu folgte nach kurzer Zeit des zweiten Beisammenseins ein weiterer, nun gewissermaßen endgültiger Abschied. Dessen haben wir in der letzten Woche mit Himmelfahrt gedacht. Doch dabei sollte es nicht bleiben.
Anstelle der leiblichen Gegenwart Jesu sandte Gott seine heilige Geisteskraft. Und das feiern wir heute: den Heiligen Geist als Tröster und Erneuerer, von Gott gesandt und mit Weisheit gepaart. Jesus selbst nennt den Heiligen Geist im heutigen Predigttext „Tröster“ und beschreibt, dass dieser uns alles lehren und uns an alles erinnern wird, was er selbst gesagt habe (V. 26). Der Heilige Geist als göttliche Vernunft, als Vermittler von Frieden, Trost, Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Das ist Pfingsten: Gott ist gegenwärtig – anders als zur Zeit Jesu, aber durch den Geist nicht weniger real. Man kann auch sagen: Die göttliche Intelligenz wird durch Pfingsten – zumindest bruchstückhaft – allen Gläubigen verfügbar gemacht. 

(3)    Ist Pfingsten gescheitert?
Doch wieso sieht die Welt dann aus, wie sie aussieht? Jesus hat Frieden verheißen und Liebe, aber wir erleben weltweit Krieg und Hass. Kann man sagen, dass das Pfingstwunder gescheitert ist? Wenn immer mehr Menschen Gott den Rücken zu kehren, weht der Geist Gottes dann wirklich noch in dieser Welt? Und haben wir mit KI nicht längst ein Tool geschaffen, das verlässlicher ist, da es kalkulierbarer und automatisch anwendbar ist, sodass wir den Geist Gottes nicht mehr brauchen?

(4)    Ein künstlicher Glanz von Ewigkeit
Ich sehe Sarah noch vor mir – diese Mutter, zerrissen durch den Suizid ihrer Tochter. Verloren und verzweifelt sitzt sie auf einer Bank im Wald, ringt mit ihrer Fassung und versucht zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Wieso? Bin ich schuld? Hätte ich es verhindern können? Geht es meiner Tochter jetzt gut? Wo ist sie? Werde ich sie wiedersehen?
Es sind diese Fragen, die jeder kennt, der auf tragische Weise einen geliebten Menschen verloren hat. Und es ist diese tiefe Sehnsucht nach dem noch einmal –
Noch einmal sprechen. Noch einmal schreiben. Noch einmal miteinander lachen.
Noch einmal das Radio aufdrehen, im Auto mitsingen. Noch ein einziges Mal zusammen sein. Oder wenigstens: ein letztes bewusstes Abschiednehmen.
Dieser Wunsch hat Sarah hierher geführt – auf diese Bank, mit ihrem Smartphone in der Hand. In den vergangenen Tagen hat sie etwas getan, das ihr helfen sollte, Abschied zu nehmen: Sie hat eine KI mit alten Chatverläufen und Erinnerungen an ihre Tochter gefüttert. Ihre Beziehung war bis zum tragischen Tod von reger WhatsApp-Kommunikation geprägt. Sarah vermisste es, mit ihrer Tochter zu schreiben – und so suchte sie eine Möglichkeit, dieser Nähe noch einmal nachzuspüren.
Es scheint zu funktionieren. Auf der Bank sitzt sie und schreibt mit einer KI, doch fühlt sie sich, als sei ihre Tochter präsent. Natürlich weiß Sarah, dass sie nur mit einer Simulation spricht. Und doch erfährt sie Trost, als die KI auf ihre Entschuldigung antwortet: Mach dir keine Vorwürfe, Mama. Ich weiß, dass du immer für mich da warst und mich geliebt hast. Das ist das Wichtigste. Ich spüre deine Liebe. 
Erleichterung. Absolution.
Sarah ist Protagonistin einer Dokumentation über Trauer und künstliche Intelligenz. (ZDF 2025: 37°. "Wir hör’n uns, wenn ich tot bin! – Trauer und KI", online unter: ZDF-Link) Und sie ist mit ihrer Suche nach Trost durch KI nicht allein. Immer mehr Menschen nutzen künstliche Intelligenz als Gesprächspartner, Therapeutin, Coach und Feedbackgeberin.
Längst ist KI zum Tröster avanciert – zur Instanz von Wahrheit und Richtigkeit.
Wenn der Geist Gottes der verheißene Tröster ist, dann ist KI zumindest sein menschliches Pendant.

(5)    Die Kraft von Geist und Algorithmus
Die heutige Predigt soll keine Moralpredigt sein, die sich auf Sinn und Unsinn von KI konzentriert und eine ethische Abwägung vollzieht. Viel mehr drängt sich mir die Frage auf, wieso wir überhaupt den Drang verspüren, Intelligenz künstlich zu erschaffen? Sind wir mit unserer eigenen Intelligenz nicht oft schon überfordert genug?
Ich gebe es zu, die Möglichkeiten der KI faszinieren mich. Sie kann helfen, Leben zu retten, Verlässlichkeit zu bieten und Prozesse zu optimieren. Im Schwimmbad zum Beispiel retten KI gesteuerte Kamerasysteme wortwörtlich Leben, indem sie Ertrinkende frühzeitig erkennen. Doch KI fördert auch festgefahrene Denkmuster, indem es diese immer weiter reproduziert. KI schafft nicht, sie kopiert — zwar immer neu geordnet, doch nie gänzlich neu. Und während Algorithmen Regeln folgen und Berechenbarkeit versprechen, bleibt Gottes Geist ein Geheimnis — unverfügbar, frei und unberechenbar in seiner Kraft. Die Geistkraft Gottes zwängt sich nicht auf, ist keine App auf einem Smartphone und kein technisches Update für unsere Seele. Und dennoch schenkt sie uns Leben, Trost und Erneuerung in einer Tiefe, die keine KI je erreichen kann.
Bei Gottes Geist gibt es keine ökonomischen Spielregeln, keine Ressourcenknappheit, keine Urheberrechtsdebatten. Gott selbst gibt sich uns hin — bedingungslos und vollkommen. Gottes Tröstergeist reproduziert nicht einfach das, was schon da ist. Er ist heilig und vollkommen, er schafft Neues, verändert, belebt und heilt. Das ist das Wunder von Pfingsten. Und vielleicht brauchen wir dieses Wunder heute mehr denn je. Vielleicht ist es gerade diese göttliche Kraft, die den Grenzen der künstlichen Intelligenz etwas entgegensetzt. Und damit auch dieser aus den Fugen geratenen Welt. Denn wo Algorithmen und Filterblasen trennen, schafft Gottes Geist Frieden, der wirklich einen kann. Wie gut, dass Gebete nicht „gepromptet“ werden müssen. Wie gut, dass Gottes Geist frei von Codes und Systemen wirkt. Darum: Komm Heiliger Geist, komm!

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Kira Stütz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In einer lebendigen Stadt, in der Tradition und Moderne aufeinandertreffen, versammeln wir uns an diesem Sonntag in einer evangelischen Gemeinde, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Die Menschen, die zusammenkommen, sind so vielfältig wie das urbane Leben selbst: Familien, junge Erwachsene, engagierte Ehrenamtliche und ältere Menschen. Wir befinden uns in einem bildungsnahen Milieu.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Von Anfang an stand die Idee im Raum, Künstliche Intelligenz und Pfingsten miteinander zu verbinden. Das Spiel mit der KI durchzog das gesamte Predigtschreiben, nicht nur als Werkzeug, sondern als Teil des kreativen Prozesses. Wenngleich ich mich dabei immer wieder kritisch reflektiert habe und nach der geistlichen Dimension dessen Ausschau halten musste, war es doch ein spannender Predigtprozess.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich lässt der Gedanke nicht los, dass wir Menschen uns mithilfe von Künstlicher Intelligenz immer weiter selbst einen Gott erschaffen, weil wir das Unverfügbare Gottes so schwer aushalten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
„Kill your Darlings“ gilt einfach jedes Mal, also musste ein Move weichen, der den Predigttext auf KI umformuliert hat. Er passte einfach nicht in den Flow. Nun ist sie rund. 

Perikope
08.06.2025
14,15-27

Beten - Geistesblitze des Mutes - Predigt zu Joh 16,23b-28.33 von Uwe Habenicht

Beten - Geistesblitze des Mutes - Predigt zu Joh 16,23b-28.33 von Uwe Habenicht
16,23b-28.33

Predigttext kann als Lesung gelesen werden oder zu Beginn der Predigt. Ich empfehle die verkürzte Variante, also: Johannes 16, 23b-28.33

Liebe Kirchgängerinnen und Kirchgänger,
wisst Ihr eigentlich, wie mutig ihr seid?

Es braucht schon eine gehörige Portion Mut, um am heutigen Sonntag „Rogate - Betet“ in den Gottesdienst zu gehen. In den Gottesdiensten nach Ostern wird ja gejubelt und gejodelt zu Jubilate – Jubelt. Gesungen und musiziert zu Kantate – Singt. Bis Pfingsten wird die österliche Freunde in vollen Zügen ausgekostet und gefeiert. An diesem Sonntag „Rogate – Betet“ ist es allerdings anders.
Dass im Gottesdienst öffentlich und gemeinsam gebetet wird, das wissen alle, die zum Gottesdienst kommen – und das wissen auch die, die nicht kommen. Aber am 5. Sonntag nach Ostern wird nicht nur gemeinsam gebetet, sondern darüber gesprochen, was es heisst zu beten. Und dafür, so meine ich, braucht es ziemlich viel Mut. Im stillen Kämmerlein, ungesehen für sich zu beten, das ist das eine. Am Sonntag in der Kirche die Hände zu falten, still zu werden und mitzubeten, das andere. Aber um über das Beten öffentlich nachzudenken, dazu braucht es wirklich Mut. Denn Beten ist irgendwie ein verschämtes Thema, über das wir nicht so gern sprechen. Beten wird als peinlich empfunden. Denn im Beten zeigen wir etwas von uns und unserer Frömmigkeit – und das ist mit Scheu und Scham verbunden. Ich erinnere mich noch gut, an die Gesichter unserer Kinder als sie noch kleiner waren, wenn andere Kinder bei uns zum Essen waren. Ich sehe noch die sorgenvollen Blicke und die Unruhe der Kinder kurz vor dem Beginn des Essens. Hoffentlich sprechen die Eltern jetzt nicht noch ein Tischgebet.
Ich freue mich sehr, dass Ihr heute trotzdem zum Gottesdienst gekommen seid, obwohl über das Beten gesprochen wird. Oder schaut Ihr vorher gar nicht nach, worum es im Gottesdienst gehen wird und seid ganz unbekümmert einfach so gekommen, unwissend und ahnungslos sozusagen?
Wie dem auch sei. Ihr seid hier und wir stellen uns dem Beten, dieser so besonderen religiösen Praxis, die uns auf jeden Fall nicht kalt lässt, sondern in die eine oder andere Richtung bewegt. Beten hat immer etwas leidenschaftliches. Mit kaltem Herzen und kühlem Kopf lässt sich nicht beten. Beim Beten sind wir ganz dabei oder wir beten gar nicht. Ohne innere Beteiligung läuft beim Beten nichts.
Ein junger Mönch wendet sich an Antonius, einen alten und erfahrenen Mönch, und spricht zu ihm: "Antonius, bete für mich!"
Antonius erwidert: "Weder ich habe Erbarmen mit dir, noch Gott, wenn du dich nicht selbst anstrengst und Gott bittest." (Weisung der Väter. Apophtegmata patrum, hrgss. von  Bonifaz Miller, S. 18)
Ganz schön hart, was der junge Mönch da von Antonius zu hören bekommt. Kein bisschen Mitgefühl oder Solidarität unter Mönchen. Statt dessen eine gehörige Lektion in Sachen Beten, die sich gewaschen hat:

„Weder ich habe Erbarmen mit dir, noch Gott, wenn du dich nicht selbst anstrengst und Gott bittest.“

Der junge Mönch wird mit hängenden Schultern von dannen gegangen sein so wie wir mit hängenden Schultern davon gehen, wenn wir wissen: jetzt wartet harte Arbeit auf uns. Der junge Mönch weiß: Vor der Anstrengung des Betens kann ich mich nicht drücken.
Beten ist anstrengende Arbeit des Christenmenschen. Martin Luther sagte: „Wie ein Schuster einen Schuh macht und ein Schneider einen Rock, also so soll ein Christ beten. Eines Christen Handwerk ist beten.“ (WA TR,6, Nr. 6751, 162,35f)
Offenbar ist das Beten etwas, bei dem wir uns nicht vertreten lassen können, das wir nicht auf andere abwälzen können, wie kochen und backen, einkaufen und Rasen mähen: Kannst du das nicht für mich machen?
Nicht andere Mitchristen, nicht Freunde, nicht einmal die KI kann für uns beten, so dass wir es nicht mehr müssen. Beim Beten sind wir selbst ganz und gar, mit Haut und Haar, mit Herz- und Pulsschlag gefragt, weil es um uns geht. Weil es in einer so intensiven Art und Weise um uns geht, dass es unsere Worte, unser Seufzen, ja sogar unsere Sprachlosigkeit vor Gott braucht. Auch wenn wir vor Gott kein einziges Wort herausbringen, braucht es unser Schweigen.
Für mein Gebet kann nur ich mich an Gott wenden von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Was geschieht im Gebet, dass es ohne unsere ganze innere Beteiligung nicht geht?
Paul fährt sich nervös durch die Haare, blickt auf die Uhr und zur Tür, durch die gleich der Chef kommen wird. Um 11 Uhr sollte Paul beim Chef erscheinen, ohne genau zu wissen, worum es geht. „Bitte nicht – bitte nicht“, murmelt Paul leise vor sich hin. Da öffnet sich die Tür.
Petra spielt mir ihrer Enkelin auf dem Spielplatz. Lustig geht es zu und immer und immer wieder und wieder will die Kleine rutschen. "Setz dich schon mal nach oben, ich hole noch eben deine Trinkflasche, sagt Petra und wendet sich ab." Da hört sie schon, wie die Kleine von der Rutsche gefallen ist. Einen Moment lang ist es ganz still. Dann schreit sie aus Leibeskräften. „Puh“ macht Petra, als sie die Kleine tröstet, die sich zum Glück nichts getan hat.
Hanna sitzt mit ihrer Freundin im Café  und erzählt ihr von den Sorgen, die sie plagen, dass einfach alles zu viel ist: Die Arbeit, die Kinder, die Schule. Die beiden schweigen. Dann sagt Hanna: Aber was hilfts: „Es muss ja.“
Martin steigt aus dem Zug und setzt seinen Rucksack auf. Endlich geht es los. Er hat es geschafft, sich einen Tag frei zu nehmen, um wandern gehen zu können. Er hebt den Blick und sieht die Berglandschaft vor sich: „Wahnsinn“, sagt er, „so unglaublich schön.“
Was geschieht hier mit Paul, Petra, Hanna, und Martin im Büro des Chefs, auf dem Spielplatz, im Café und auf dem Bahnsteig?
Vier Alltagssitutationen, die uns wahrscheinlich ziemlich vertraut sind. 

Bitte nicht!
Puh!
Es muss ja!
Wahnsinn, so unglaublich schön!

Vier unterschiedliche ganz kurze Reaktionen auf das, was den einzelnen widerfährt:
Die Anspannung vor einem Gespräch, das große Konsequenzen haben könnte.
Die Erleichterung, dass nochmal alles gut gegangen ist.
Die Klage über das, was einfach zu viel ist.
Und das erfreute Staunen über so viel Schönheit.
Vier kurze Gebete, in denen etwas erbeten wird, gedankt wird, geklagt und gelobt wird.
Aus dem Alltag heraus das Alltägliche übersteigen und der inneren Spannung  und Anspannung Luft machen im Bitten, Danken, Klagen und Loben. Das ist beten. Wenn das Fundament, das unseren Alltag trägt, Risse bekommt; 
wenn der Boden, auf dem wir normalerweise fest stehen, beginnt zu wanken, dann beginnt unser Gebet. Dann wenden wir uns bewusst oder unbewusst, ausgesprochen oder unausgesprochen an die Mächte und Kräfte, von denen wir wissen, dass sie unser Lebensfundament und den Boden, auf dem wir stehen, tragen. Auf einmal blicken wir aufs Ganze.
Im Bitten, Danken, Klagen und Loben verlassen wir den von uns gehüteten und kontrollierten Einflussbereich. Wir verlassen unser Ich und wenden uns an das Du, das jenseits unseres Einflusses waltet und trägt und erhält. Im Beten gestehen wir uns ein, dass wir über uns hinaus müssen, weil die Situation, weil das, was wir erleben, mehr erfordert als wir vermögen. Im Gebet gestehen wir unsere Ohnmacht, unsere Hilflosigkeit; wir erkennen die Grenzen dessen, was wir tun können. Und darum ist beten so schwierig und voller Scham. Der Beter ist arm. Die Beterin ist hilflos.
Im Gebet zeigen wir, dass wir nichts mehr tun können. Uns sind im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden. Was uns bleibt ist die Hinwendung zu Gott, der über uns hinaus geht. 

Bitte nicht!
Puh!
Es muss ja!
Wahnsinn, so unglaublich schön!

"Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei." So heißt es in den Abschiedsreden Jesu, die wir vorhin gehört haben.
Ihr dürft Euren himmlischen Vater bitten und er wird Euch geben, was euch fehlt. Jesus ermutigt uns zum Beten, damit unsere Lebensfreude aufblüht, sichtbar und spürbar wird. 
Wenn ich es schaffe, meine Hände zu falten und meine Erschöpfung, meine Verzweiflung oder meine Angst vor Gott zu bringen – seufzend, klagend, bittend, wortlos, um Worte ringend – wie auch immer, beginnt in diesem Moment des Eingestehens etwas Neues. Ich verstecke das, was geschieht, nicht mehr vor mir und anderen. Ich bin bereit, mir selbst einzugestehen, wo ich stehe. Und von diesem Moment an kann vieles anders werden und sich wandeln. In solchen Momenten blicken wir auf das Gewebe des Lebens, auf die vielen Fäden, die mein Leben mit dem Leben im Ganzen verbinden. Wir wenden uns an den, der für dieses vielschichtige Ganze steht und als Muster dieses Gewebes erkennbar wird. Gott sieht und hört mich und ich höre auf, mir vorzumachen, ich könnte in meinem Leben und in meiner Welt alles alleine bestimmen und stemmen. Das tut weh und ist befreiend zu gleich, weil im Gebet unsere falschen Selbstbilder in sich zusammen fallen und es beginnt eine Lebensfreude, die aus dem Verwobensein mit anderen erwächst.

"Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei."

Beten ist vor allem mutig. Weil es mutig ist, zuzugeben, nicht alle Fäden des Lebens allein halten zu können. Deshalb schreiben wir diesen Mut dem Heiligen Geist zu. Kurze Gebet im Alltag wie 

Bitte nicht!
Puh!
Es muss ja!
Wahnsinn, so unglaublich schön!

sind deshalb Geistesblitze. Mutige Geistesblitze.
Und vielleicht war es ja heute ein Geistesblitz, der Euch in diesen Gottesdienst geführt hat. Damit Ihr mutig bleibt im Bitten, Danken, Klagen und Loben. Und auch hin und wieder den Mut habt, über das Beten öffentlich nachzudenken.
"Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei."

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Uwe Habenicht

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der 5. Sonntag nach Ostern ist für die meisten Kirchgänger/innen kein besonderer Sonntag, so dass eher mit einem normalen Gottesdienstbesuch zu rechnen ist. Gerade deshalb versucht die Predigt, die Mitfeiernden in besondere Weise auf das aufmerksam zu machen, was ein Gottesdienstbesuch an diesem Sonntag bedeutet.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das kleine Büchlein „Mild religiös“ von Kristian Fechtner bietet eine wunderbare kleine Phänomenologie des Betens, die ich aufnehme. Zugleich gibt es einen wunderbaren Aufsatz von E. Jüngel zum Beten: Was heisst beten? in: ders: Wertlose Wahrheit.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Beim Beten bekommt der Alltag Risse und es zeigt sich, was sonst eher verborgen bleibt: Das ganze Gewebe des Lebens. Diesen besonderen Augenblicken nachzugehen, hat mich sehr beschäftigt. Und wer genau hinschaut, sieht und hört wie viel gebetet wird. 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider war ich diesmal mein eigener Coach. Ich hoffe, die Predigt hat dennoch ein paar gute Momente...

Perikope
25.05.2025
16,23b-28.33