Schluss mit "wir und die" - Predigt zu Joh 4, 5-14 von Olaf Waßmuth
Liebe Gemeinde,
eigentlich wollten wir nur einen Kaffee trinken: der neue Kollege aus der Nachbarabteilung und ich, die wir uns bisher bloß vom Sehen kannten. Aber dann sitzen wir fast anderthalb Stunden in der Kantine zusammen. Die Tassen sind lange leer. Und wir reden und reden. „Das war ein gutes Gespräch“, sagt Achim zum Abschied, und ich nicke: „Danke dafür!“
Ein gutes Gespräch: Es hat was mit gegenseitiger Wahrnehmung zu tun, mit Zuhören und Nachfragen, mit Erkenntnisgewinn und Verständnis. Ein gutes Gespräch ist, wenn es unter die Oberfläche geht – ehrlich und freundlich. Wenn Dich einer fragt: Was denkst Du wirklich? Und wenn Du Dich dann traust, das auch zu sagen. Deep Talk statt Smalltalk.
Ein gutes Gespräch – das gibt es gar nicht so oft.
Meist haben wir keine Zeit. Manchmal wissen wir schon, was der andere sagen will. Ich kenn den doch. (Oder die.) Noch öfter sind wir unsicher: Kann ich das jetzt wirklich sagen? Könnte ich mich blamieren? Wo stehen die Fettnäpfchen?
In der Bibel kommen nur wenige Gespräche vor. Die Bibel erzählt, und das meist verdichtet und summarisch. Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist da eine Ausnahme. Mal keine Erzählung. Ein reiner Dialog zwischen Jesus und einer namenlosen Frau.
Die Situation ist nicht gerade gesprächsfördernd. Es ist brütend heiß, Mittagsstunde. Die beiden sind allein – ein Mann und eine fremde Frau, schon das ist heikel. Man trifft sich im Feindesland. Ein Jude, der durch Samarien reist, das ist ein bisschen so wie früher Transitverkehr durch die DDR. Man muss da durch, aber man hält besser nicht an.
Und trotzdem entsteht aus der Zufallsbegegnung ein Gespräch. Ein gutes Gespräch?
Hören wir einige Verse aus dem 4. Kapitel des Johannesevangeliums:
5 Da kam Jesus in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. 7 Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! 8 Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen. 9 Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du, ein Jude, erbittest etwas zu trinken von mir, einer samaritischen Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. – 10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.
11 Spricht zu ihm die Frau: Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? 12 Bist du etwa mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Söhne und sein Vieh. 13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; 14 wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.
Ist das nun ein gutes Gespräch? Um Himmels Willen: Nein! möchte man rufen. Nach heutigen Maßstäben läuft da vieles schief. Die Redeanteile sind ungleich verteilt, ja, es riecht nach „Mansplaining“: ein Mann meint, einer Frau die Welt erklären zu müssen. Die beiden reden aneinander vorbei, es gibt Missverständnisse. Jesus wechselt die Gesprächsebene, wenn er der Alltagsfrage nach dem Brunnenwasser völlig überraschend einen metaphorischen Dreh gibt: „Lebendiges Wasser“ bezieht sich allein auf ihn selbst.
So erstaunlich es ist, dass Jesus mit der unbekannten Frau ein Gespräch beginnt – es ist kein Austausch auf Augenhöhe. Wie denn auch? Für den Evangelisten Johannes ist klar: Hier spricht der göttliche Mittler der Wahrheit mit einem – noch –ahnungslosen Menschen.
Trotzdem finde ich zwei Dinge an diesem Gespräch richtig gut – und wegweisend.
Das erste: Jesus lässt sich überhaupt nicht ein auf die Schubladen und Etiketten, mit denen die unbekannte Frau sofort hantiert.
Das war ja das erste, was die Frau ihm entgegnet: „Wie, Du als Jude fragst mich das als Samariterin?“
Wir kennen diese Art von Einsortierung nur zu gut:
Du als Ostdeutscher – ich als Westdeutscher.
Du als Frau – ich als Mann.
Du als Schwuler – ich als Hetero.
Du als Ausländerin – ich als Deutscher.
Wir und die – ist das große Thema unserer Zeit, und es ist eine Plage! Von links und von rechts kommt sie, die Festlegung von Menschen auf bestimmte Eigenschaften. Die Zuordnung von Rollenerwartungen. Du gehörst dieser oder jener Gruppe an – damit ist klar, wer Du zu sein hast, was Du darfst, ob Du gut bist oder böse, Täter oder Opfer, je nach Perspektive. Du bist Jude, ich bin Samariterin, so fängt die Frau am Brunnen an und erklärt auch gleich die Spielregeln, die damit verbunden sind. Spielregeln, die andere ihr vorgeschrieben und eingeschärft haben.
Jesus ignoriert die Regeln. Er unterläuft sie. Das kann er, weil er Mann und Jude ist, werden einige sagen. Doch das ändert nichts am Effekt: „Wir und die“ spielt keine Rolle mehr. Zum Glück! Das Gruppen-Spiel läuft leer. Jetzt geht es nur darum, wer er ist – und später im biblischen Kapitel auch darum, wer sie ist. Als Person, als einzelne.
Wir und die. Es gibt seit einiger Zeit wieder mächtige Kräfte, die uns so spalten wollen. Der große, bellende Anheizer von „Wir und die“ ist seit Montag zurück im Weißen Haus. Aber auch im deutschen Wahlkampf setzen manche ganz auf Spaltung. Vor einem Jahr hat unsere Gesellschaft mit den bundesweiten Demonstrationen ein Zeichen gesetzt: Wir wollen das nicht! Es ist gut, sich heute daran zu erinnern, dass Jesus und die frühen Christen mit „Wir und die“ entschieden Schluss gemacht haben. Das ist nicht nur ein Nebenaspekt unseres Predigttextes; es zieht sich durch die Bibel. Es ist das heimliche Thema dieses Sonntags im Kirchenjahr: Schluss mit „Wir und die“! Vor dem Angesicht Gottes lösen sich alle zugeschriebenen Identitäten auf: Menschen kommen von Osten und Westen, von Süden und Norden – das ist erstaunlich und wunderbar, aber letztlich egal. Im Reich Gottes sitzen alle am selben Tisch. So sagt es der Wochenspruch aus Lukas 13.
Das Gespräch zwischen Jesus und der Frau wird persönlich. Und es wird existenziell. Das ist nun das zweite, was mir an diesem Gespräch gut gefällt.
Jesus und die Frau aus Samaria sprechen darüber, was uns am Leben hält. Das, was wir zum Leben brauchen. Wonach wir uns sehnen, oder im Bild gesprochen: dürsten. Lebendiges Wasser. Alle Menschen brauchen Wasser. Egal, wo sie herkommen, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welche Religion sie haben. Wasser ist das Allgemeinste, das Grundsätzlichste, das Notwendigste. Der Durst nach Leben ist allen Menschen gemein. Ohne Unterschied. Ich denke an das, was Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis schrieb: „Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das anzusehen, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden.“ Oder: wonach sie dürsten. Eine neue Perspektive.
Wann hören wir auf über Stärken und Schwächen zu reden – über das, was die anderen alles falsch machen und wir selbst natürlich richtig? Wann reden wir mal über das, was uns antreibt, wonach wir uns sehnen, was wir uns wünschen? Das wären doch mal andere Gespräche. Jesus und die Frau am Brunnen machen es vor.
Vor einigen Monaten haben die Evangelische Kirche und die Diakonie Deutschland eine Initiative gestartet, die jetzt, vor der Bundestagwahl, nochmal richtig Fahrt aufnimmt. Sie heißt „Verständigungsorte“ – Hashtag #VerständigungsOrte, um genau zu sein. Die Idee dahinter ist, dass wir als Kirche doch prädestiniert sind, die Lager zu überwinden. Kirchengemeinden in ganz Deutschland bieten Gesprächsveranstaltungen an: In Minden werden kleine Gruppen zusammengebracht, die gemeinsam kochen. In Bad Hersfeld steht eine Bank mitten in der Fußgängerzone und lädt Passanten zu Kaffee und Tee ein. In einer Bibliothek in Rottweil kann man sich für 20 Minuten einen Gesprächspartner ausleihen – als lebendiges Buch. Und und und. Menschen mit unterschiedlichen Identitäten sollen einander wahrnehmen mit ihrer individuellen Geschichte .Und sie sollen sich gegenseitig sagen dürfen, was sie bewegt, was sie sich wünschen, wonach sie, ja: „dürsten“. Offen und ehrlich, in einem geschützten Raum. Verstehen wollen statt Wut.
Verständigungsorte kann sich jeder von uns selbst suchen. Wie in unserer Geschichte sind sie oft da, wo es was zu trinken gibt: in der Kneipe, im Café, an der Kaffeemaschine im Büro. Überall da, wo Sie Menschen treffen, die anders drauf sind oder Ihnen einfach unbekannt. Zeigen Sie Interesse am anderen. Lassen Sie sich ein auf ihn oder sie. Und sagen Sie offen und freundlich, was Sie bewegt.
Vielleicht geht es dann schnell unter die Oberfläche. Vielleicht kommen Sie auch nicht weit. Vielleicht muss man manches so stehen lassen. Vielleicht gibt es Ver-stehen.
Und wenn Sie ganz mutig sind, dann reden Sie nicht nur über Hoffnungen und Befürchtungen, über Politik und Alltag, sondern über diesen Jesus, der lebendiges Wasser verheißt. Was halten Sie eigentlich von dem? Was bedeutet er für Sie?
Ich verspreche Ihnen: Das wird ein gutes Gespräch!
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich als Gast in einer bildungsbürgerlich geprägten, politisch interessierten Großstadtgemeinde. Der Gottesdienst findet in der Situation des Bundestagswahlkampfes, wenige Tage nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten statt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Nachdem ich zunächst etwas mit dem „lebendigen Wasser“ gerungen hatte, stellte ich die thematische Prägung fest, die für diesen Sonntag des Kirchenjahres die „Grenzüberschreitungen“ der biblischen Botschaft ins Zentrum rückt. Damit fühlte ich mich beflügelt, auf einen scheinbaren Nebenaspekt der Perikope zu fokussieren.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die biblischen Geschichten sind voller #VerständigungsOrte, an denen sehr unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ein etwas akademischer Exkurs über Identitätspolitik und die entsprechende Terminologie sind in der Bearbeitung gestrichen worden.
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26.01.2025 - 3. Sonntag nach Epiphanias
Der Anfang ist gemacht - Predigt zu Joh 1,1-5.9-14(16-18) von Christiane Quincke
1.
Im Anfang war das Wort.
Der Tag ist noch müde. Der Weihnachtsmorgen nach dem heiligen Abend. Geschenkpapier liegt noch herum, die Kerzen am Baum heruntergebrannt. Der Geruch vom abendlichen Raclette vermischt sich mit dem nach Wachs und Fichte. Die Weingläser stehen noch auf dem Tisch. Und die anderen schlafen.
Aber du bist wach. Machst dir einen Kaffee und sein Duft vermischt sich mit dem von Raclette und Fichte und Wachs und etwas Zweifel ist auch dabei.
Es ist ruhig. Am Anfang.
Und du gehst vor die Tür.
Ganz am Anfang ist die Luft klar. Sie riecht nach Morgenregen und nach Erde.
Der Himmel ist so dunkelblau, dass man den Morgenstern noch sieht.
Am Rand aber ist er hellblau und schimmert gold.
Und dann kommt die Sonne an. Ein riesengroßer flacher Ball.
Und siehe, es ist sehr gut.
Die Schöpfung weiß, was am Anfang zu tun ist.
Wenn es Tag wird.
Wenn ein Same aufgeht und der Regen die Luft sauber gewaschen hat.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Und Regen und Tag und Nacht und Sonne und das Licht.
Der Anfang ist ein Raum und in dem ist alles da und doch noch im Werden.
So vieles, was entstehen kann und so vieles, das vergehen wird.
Im Anfang ist beides da: Werden und Vergehen, Beginn und Ende. A und O.
2.
Am Anfang.
Am Anfang ist das Licht mild. Das Licht vom Weihnachtsmorgen.
Die Welt sieht anders aus in diesem Licht.
Du siehst das Gute. Das Wahre. Das Versöhnliche auch.
Du siehst das, was du sonst übersiehst. Den kleinen Tropfen auf der Fensterscheibe in Regenbogenfarben. Die Christrose zwischen Laub. Den Herrnhuter Stern im Türeingang.
Du siehst, wie schön die Falten deiner alten Nachbarin sind. Sie haben so viel zu erzählen. Du siehst die kleine Hand deines Enkelkindes, die einen Regenwurm ganz vorsichtig berührt. Und du siehst vielleicht, wie jemand frierend an der Bushaltestelle wartet und nimmst ihn in deinem Auto mit.
Am Anfang sind deine Augen klarer als sonst. Und zugleich siehst du, dass du nicht alles auf Anfang setzen kannst. Aber du bist Teil davon. Mittendrin im Anfang, in den sich der Zweifel gemischt hat. Und zugleich voller Sehnsucht nach diesen hellen Anfängen.
3.
Am Anfang.
Am Anfang ist die Liebe. Und mit deinem dampfenden Kaffee in der Hand denkst du an den Anfang deiner Liebe. Wie du nur an ihn denken konntest und dabei vergessen hast, welcher Tag ist. Leicht und unbeschwert war sie, diese Liebe. Da zählte nicht, was die anderen sagten. Nur die zarte Berührung. Die Sehnsucht und der Blick in die strahlenden Augen. Am Anfang war der Name, als du ihn das erste Mal sagtest. Am Anfang war die Fahrradfahrt in der Nacht und die Gespräche im Café. Am Anfang war eine Strähne, die ins Gesicht fiel und stundenlange Telefonate. Am Anfang war der Arm, die Hand und ein pochendes Herz. Verstehen ohne Erklären. Ganzsein. Ganz und gar. Ein Leib. Ein Fleisch.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht,
und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.
Am Anfang war die Liebe und die Liebe wird Leib und Körper.
Wird Berührung und Herzschlagen und Wortestammeln.
Gott fängt mit jeder Liebe neu an und wird Leib und Körper in jeder Liebe.
Alles ergibt einen Sinn. Alles fügt sich zusammen.
Und alles, was unwahr ist, ist weit weit weg. Im Anfang.
Und siehe, es ist sehr gut.
4.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Der Anfang ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Nackt und unschuldig.
Du sitzt vor diesem Blatt und suchst nach dem richtigen Wort.
Ist es müde oder voller Kraft? Tröstet oder erschreckt es dich?
Was wird es über deine Zukunft sagen?
Wird es dich verändern oder dir gar den Boden wegreißen?
Für all diese Fragen ist es noch zu früh.
Der Anfang ist noch nackt. Das Wort wird noch geboren.
Es kommt noch nicht auf deine Lippen. Denn du ahnst nur, dass es da ist.
Deine Sehnsucht nach dem Woher und Wohin.
Deine Liebe. Dein Leben. Alles ist darin, in diesem Wort.
Am Anfang ist das eine Wort bei Gott.
Der Sinn allen Lebens – verborgen in dem Einen. Nicht zu greifen.
Das Wort, das Eine, es kommt zur Welt in einem Stall.
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Wo die Welt zusammenschrumpft auf einen Moment und einen Ort.
Der ist nichts Besonderes und doch alles.
Eigentlich gibt es dafür keine Worte: für dieses Große, was uns hält, und für das Schöne, was uns umschließt. Unsere Worte sind zu klein dafür. Zu klein für Gott. Zu klein für das Leben. Zu klein für das Wunder.
5.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Du möchtest alles auf Anfang stellen. Von vorne anfangen.
Nur das eine Wort und nicht die vielen anderen. Keine Lügen. Keine Schuld.
Keine Worte, die verletzen.
Was am Anfang so leicht ist, wird im Weitergehen so schwer.
Liebe lässt sich nicht halten. Gott auch nicht.
Gott wird zu groß für dich. Du spürst, wie verletzlich du bist.
In diesen Tagen vielleicht ganz besonders,
weil Weihnachten die Haut dünner ist als sonst.
Ein Streit tut heute besonders weh. Alleinsein ist kaum auszuhalten.
Und auch nicht die Sehnsucht nach mildem Licht und erster Liebe.
Ich bin nicht mehr am Anfang. Ich bin weitergegangen und suche meine Schritte durchs Leben. Nicht nur meine Worte sind zu klein. Auch ich bin zu wenig. Oder manchmal auch zu viel. Ich habe Worte gefunden, die anderen nicht gut taten. Scharfe Worte. Und mir wurden Worte gesagt, die mich klein machten. Was willst du hier? Ich will dich nicht. Nicht gut genug.
Ich habe viele Worte gefunden und gepredigt. Und nicht immer waren sie heilsam. Und zu viele Worte habe ich gehört und gelesen, die menschenverachtend und falsch sind. Die Welt mit ihren Fakenews und Hassworten macht mir Angst.
Ja, alles auf Anfang stellen – das wär’s, denke ich. Sehne ich. Du auch?
6.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.
Am Anfang.
Am Anfang ist dieses Kind. Fleischgewordenes Wort. Leben pur.
Lebendiges Bündel. Suchender Mund. Geschlossene Augen. Ausgeliefert und bedingungslos. Noch ganz verschleimt und mit pulsierender Nabelschnur.
Es ist da. In diesem Anfang ist es ganz da: Für dich und für mich und für alle, die hier sind oder zuhause oder weit weit weg.
Im Anfang ist dieses Kind und es kann dir nichts tun, außer in dein Herz kriechen: Dieses Kind - entstanden aus der Liebe von zwei Menschen. Aus Leidenschaft und Hingabe. Aus Gott.
Im Anfang ist dieses Kind. Die Liebe zwischen Gott und Mensch.
Dieses Kind setzt alles auf Anfang. Alles ist neu. Alles beginnt neu. Und neu ist nicht perfekt. Sondern verschleimt und zerknittert, ausgeliefert und bedingungslos, suchend und geborgen zugleich.
7.
Du kannst nicht alles auf Anfang stellen. Aber das Kind tut es. Gott tut es.
Gott weiß, was zu tun ist mit deinen Anfängen und Stolperschritten. Mit deiner Sehnsucht und deinem Zweifel.
Du bist Gottes Kind. Du bist dieses Kind, das Fleisch gewordene Wort.
Anfängerin des Lebens. Anfänger der Liebe. Mitten in dieser Welt.
Du mit deinen Falten und deinen Träumen. Mit deinen Narben.
Geboren aus der Liebe. Nicht perfekt, aber wunderbar. Vielleicht noch dünnhäutiger. Vielleicht noch verletzlicher. Vielleicht noch ausgelieferter – du Gotteskind..
Der Stall ist dein Anfangsort. Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Dort, wo du den Kochlöffel in den Topf tauchst oder Bilanzen prüfen musst, wo du an der Kasse Kleingeld entgegen nimmst oder einem Flüchtling vor Gericht beistehst. Überall, wo du bist, bist du richtig. Weil Gott da ist. Bei dir. Auch in deinem unaufgeräumten Wohnzimmer mit dem Geruch nach Raclette und Zweifeln.
Und Gott fängt mit dir an, ins Leben zu gehen.
Raus in die Welt mit ihren vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worten.
Dort sprichst du dieses Wort des Lebens und der Liebe. Du stellst dich den Lügen und dem Hass entgegen, damit es in dieser Welt neue Anfänge gibt.
Ihr geht gemeinsam und sprecht zusammen und liebt und lebt und weint und lacht.
Ob du nun müde oder wach bist an diesem Weihnachtsmorgen:
Der Anfang ist gemacht: Himmel und Erde, die Nacht und der Tag, der Regen und der Regenwurm, das Licht, die Falten und die dünne Haut.
Und mit dir geht es weiter, du Kind Gottes. Du Wort Gottes.
Und siehe, alles ist sehr gut.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde am Vormittag des 1. Weihnachtsgottesdienstes predigen (und die Bibelverse durch eine andere Person lesen lassen). Die meisten Gottesdienstbesucher*innen haben den Heiligabend gefeiert. Manche sind vielleicht noch etwas müde. Der Weihnachtsmorgen hat manchmal was Träges und zugleich Erfülltes. Und er lässt weiterdenken und lenkt den Blick von der Krippenszene auf sich selbst: Wie bin ich in Bezug auf Weihnachten unterwegs?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Beginn vom Johannesevangelium „Im Anfang“, der den Bogen schlägt zur Schöpfungsgeschichte, hat mich fasziniert – und damit der Gedanke, dass Gott den Anfang gemacht hat und wir zugleich nicht mehr am Anfang sind, aber mit der Sehnsucht nach einem neuen Anfang leben und glauben…
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Ringen um eine gute Übersetzung: Luther hat diesen Abschnitt einzigartig formuliert, weshalb ich mich dafür entschieden habe. Aber der Preis dafür ist, dass ein Wort wie „Fleisch“ heute eine andere Konnotation mitbringt, an der ich noch weiter „knabbern“ werde.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Predigtcoach hat mir gute Hinweise gegeben, wie ich meine eher „lyrische Predigt“ noch mehr erden könnte: Gerade der Anfang der Predigt hat dadurch mehr „Alltag“ bekommen. Außerdem habe ich auf sein Raten hin den Bibeltext gekürzt und nicht komplett an den Anfang gestellt.
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Ein Schnurtelefon?! - Predigt zu Joh 16,5-16 von Felix Stütz
Ein Schnurtelefon?!
Holst du mir eine Schnur und die beiden Jogurtbecher aus der Küche, frage ich ihn. Etwas irritiert schaut er mich noch an. Die Fragezeichen in den Kinderaugen des 3-Jährigen kann ich sehen. Aber etwas Faszination ist da auch. Ein Telefon ohne Strom? Das soll’s geben?
Flott haben wir alles zusammengetragen, was wir benötigen, und basteln unser eigenes Telefon. Ich schneide die Löcher in den Boden der beiden Jogurtbecher und gemeinsam fädeln wir die Schnur durch. Abschließend noch einen Knoten in beide Enden. Zack, fertig ist das Wunderding.
Endlich wieder Gemeinschaft mit Jesus
Der Auferstandene war mitten unter den Jüngerinnen und Jüngern. Er aß und trank mit ihnen, sie lachten zusammen. Sie erlebten Gemeinschaft. Dass sie das nochmal erleben würden, war nach der grausamen Kreuzigung kaum zu glauben für die Freundinnen und Freunde Jesu. Aber es war Wirklichkeit. Sie durften nochmal das Brot teilen, nochmal seine Stimme hören. Fürchtet euch nicht, sagte er. Der, dem sie so sehr vertraut, den sie ins Herz geschlossen hatten, für den sie alles stehen und liegen gelassen hatten, dieser Jesus, er war wieder unter ihnen. Jeder Happen Brot schmeckte besser in seiner Gemeinschaft und für so manche Zankerei innerhalb der Gruppe fand man schneller eine Lösung. Was er vom Reich Gottes gepredigt hatte, das schien nun auf einmal zum Greifen nah.
Verstehen wir uns so?
„Und jetzt los. Lass uns telefonieren. Da muss Spannung auf die Schnur, am besten gehst du in einen anderen Raum, dann können wir telefonieren.“ Der kleine Racker geht zögernd einige Schritte und schaut in den Jogurtbecher. Aber verstehen wir uns dann noch, fragt er mich?
„Ja klar, aber dafür musst du gehen. Schau mal, ich geh hier in das eine Ende vom Wohnzimmer und du gehst dort in den Flur.“
Jesus geht
Jesus geht. Ein zweites Mal geht er. Es muss so sein, denn sonst kommt der Tröster nicht, sagt er. Die Gemeinschaft geht scheinbar wieder zu Ende. Sie muss es sogar. Ziemlich verdattert und verdutzt schauen sie ihn an. Was soll das jetzt? „Wir haben doch alles? Wir sind doch zusammen? Endlich verstehen wir so viel. Du lehrst uns und wir verstehen.“
Aber auch diese Zeit neigt sich dem Ende zu. Jesus will gehen. Schon wieder. Zum Vater. Er geht zu Gott, der ihn gesandt hat.
Weg ist er
Genau das feiern wir an Himmelfahrt. Jeden Sonntag bekennen wir das im Glaubensbekenntnis: „Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.“ Jesus ist gegangen.
Und nicht selten bleibt dieses Gefühl: Weg ist er. Und ich bin immer noch hier. Ja, Jesus ist nicht mehr tot. „Er ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.“ Dieser Ruf hallt seit Ostern noch nach. Aber was bringt mir das, wenn Jesus schon wieder weg ist. Was bringt mir das? Manchmal möchte ich ihm das entgegenschleudern. Ich stecke ja immer noch hier fest. Ich darf mir noch immer tagtäglich Nachrichten von Krieg, Leid, Not und Hunger anhören. Zwischen Pausenbrot für die Kinder schmieren und dem ersten Termin in der Arbeit bleibt selten Zeit zum Innehalten. Ja, was bringt mir das im Hier und Jetzt? Von Ostern bleibt am Ende doch nur das Liedblatt, das beim Aufräumen dann weggeschmissen wird.
Das Schnurtlefonat
Ich stehe nun also mit dem Jogurtbecher am Ohr an der Wand. Mein kleiner Telefonpartner platziert sich mit dem Jogurtbecher im Flur. Verstehst du mich, frage ich ihn durch das Schnurtelefon. JAA, schreit er. Aber er nimmt natürlich nicht das Schnurtelefon, sondern legt es zur Seite, um mir seine freudige Botschaft mitzuteilen. Nimm es nochmal und sag mir auch etwas, rufe ich zurück. „Hallo, hallo.“ Wir verstehen uns, auch wenn es eingangs noch etwas einfache Sprache ist, die wir da hin- und hersenden. Von Mal zu Mal wird es länger und wir unterhalten uns. Es geht um die Burg mit den Stapelsteinen, die Zimtschnecken für das Kaffeetrinken und den nächsten Ausflug.
Der Tröster wird kommen?!?
Es ist nicht leicht, Jesus zu verstehen. Dieser Mann, der in Gleichnissen sprach und für Wunderheilungen Sand und Spucke in die Augen von Menschen drückte. Dieser Mann ist ein Geheimnis und das, was er tut, allemal. Und dennoch zeigte sich, dass die Jüngerinnen und Jünger ihm vertrauen können. Jesus geht zum Vater, aber weder unvorbereitet noch einfach so holterdipolter.
Der Tröster wird kommen, er ist das Band der Liebe von Vater und Sohn. Der Tröster wird kommen. Er wird Gemeinschaft trotz der Distanz ermöglichen. Dieser Tröster wird mitten unter uns sein, wie Jesus.
Dennoch fällt es nicht leicht, die Distanz auszuhalten, das Gehen Jesu hinzunehmen. Da stehe ich nun als Glaubender, als Zweifelnder, als Bittender und Betender. Was ich in der Hand halten kann? Mein Jogurtbecher ist vielleicht die Bibel, das Gesangbuch oder so. Oder ist es die Gemeinschaft der Glaubenden? Die Gruppe, die manchmal so unheilig heilig ist? Mein Jogurtbecher kommt mir zunächst einmal albern vor. Ist das alles, was ich im Griff habe, woran ich mich festhalten kann?
Auch ich stehe noch etwas verdutzt da. Und so stehe ich hier mit der Verheißung, dass der Tröster kommen wird. Aber ich stehe noch immer in dieser Welt. Ich kann ihm vertrauen, das hat sich erwiesen. Hat er das also wirklich gesagt: Der Tröster wird kommen? Der Tröster wird kommen? Der Tröster wird kommen! Ja, ich glaube, der Tröster wird kommen.
Wäre es doch einfacher, wenn Jesus hier wäre
Ich stehe noch immer hier in dieser Welt. Die Wäsche macht sich noch immer nicht von selber. Es gibt weiterhin all das Schwere und Böse in dieser Welt. Die Angst, doch alleine zu sein, packt mich hin und wieder. Beziehungen bleiben ein Wagnis. All das Menschliche bleibt bestehen und die Unmenschlichkeit bestimmt nicht selten mein Handeln. Scheitern, Fallen, existenzielle Fragen, Wut, Trauer, Verzweiflung und Unmut. All das bleibt bestehen. Ich stehe immer noch hier. Wäre es doch einfacher, wenn Jesus hier wäre.
Aber der Tröster wird kommen.
Hierhin wird der Tröster kommen
Das klingt vielleicht pathetisch. Hier in dieser Welt stehend, manchmal alleine, manchmal wütend, manchmal lachend und mutig, manchmal hoffend, öfter mal zweifelnd, nicht selten voller Glauben und Mut und dennoch auch mit Sorgen und Stress und wenig Schlaf. Hierhin wird der Tröster kommen. Pfingsten, das steht noch aus. Bis dahin trägt mich das Wort Jesu: Der Tröster wird kommen. Darauf vertraue ich. Er geht zum Vater. Er lebt in Gemeinschaft mit Gott und nimmt uns mit hinein. Nicht nur der Auferstandene, auch wir sollen verwandelt werden.
Vielleicht ist es gut, dass ich noch hier stehe. Hier in dieser Welt. Wer sonst stünde hier, wo ich bin? Und den Tröster, den brauche ich hier. Es trifft sich ganz gut, wenn mich hier Worte des Glaubens erreichen. Hier in meinem Leben brauche ich Mut und Trotzkraft. Dann kann ich jedem „Was bringt’s mir?“ einen vertrauensvollen Widerspruch entgegenschleudern. Hoffnung und Freude bringt’s mir. Genau das brauche ich doch. Das Bedrückende wird nicht erdrückend und die Angst nimmt nicht überhand. Wir sind ja schon einen Weg zusammen gegangen, wie die Jüngerinnen und Jünger mit Jesus. Ich kann Jesus vertrauen. Der Tröster wird kommen. Und den brauch ich hier. Schließlich wird Gottes Geist mich beflügeln, die Kraft Gottes wird mich erfassen, die Liebe Gottes wird mich nicht loslassen, die Gerechtigkeit Gottes wird mich bewegen. Jesus verspricht Gemeinschaft und die Verheißung des Gottessohnes wird mich tragen.
Ich habe euch noch viel zu sagen, sagt Jesus. Na, da bin ich dann mal gespannt, was mich noch erreicht.
Schnurtelefon
„Soll ich dir erklären, wie es funktioniert?“, frage ich nach einem ausgiebigen Telefonat mit dem 3-Jährigen. Er düst allerdings schon wieder weiter. Dass es funktioniert ist wohl wichtiger, als die Art und Weise, wie es funktioniert. Es funktioniert halt und das ist wunderbar.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wurde ausgearbeitet vor dem Hintergrund einer Gemeinde, die auch Familien und Menschen mit Kindern umfasst. Möglicherweise gibt es junge Familien, die den Gottesdienst besuchen und direkt an das genannte Beispiel anknüpfen können. Im Hintergrund stand eine persönliche Erfahrung im Gottesdienst der EKD-Auslandsgemeinde in Stockholm.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei der Predigtvorbereitung hat mich das Wechselspiel von Entzogenheit und Nähe inspiriert. Jesus verheißt den Tröster, ermöglicht weiterhin eine Beziehung mit den Jünger:innen bis heute und ist dennoch nicht unmittelbar ‚greifbar‘. Es funktioniert eben, darauf ist Verlass und gleichzeitig ist es ein Wagnis.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Erwachsen Glauben bedeutet mitunter, Jesus gehen zu lassen. Jesus bereitet seine Jünger:innen vor, er kümmert sich um sie. Aber Jesus geht. Erwachsen Glauben steht vor der Herausforderung Jesus auch ein zweites Mal gehen zu lassen. Mit diesem Gefühl der Einsamkeit, Verlassenheit, der Leere und dem Schmerz muss Glaube umgehen, der als Gewissheit nur auf die gemeinsame Geschichte und dem darin erwachsenen Vertrauen anknüpfen kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach wies mich nochmal auf das Wechselspiel von Entzogenheit und Nähe hin, das ich implizit die ganze Zeit bearbeitet habe. Der Tröster wird oft genannt, aber es gibt weniger eine direkte Manifestation des Trösters als die Gewissheit, dass der Tröster die Gegenwart Christi vermitteln wird.
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Ein Mehr an Leben (Billy Elliot, Jack und Thomas) - Predigt zu Joh 20,19-29 von Christiane Quincke
1. Jack kann es nicht glauben
Jack kann es nicht glauben. Sein Sohn Billy, 11 Jahre alt, will Balletttänzer werden.
Alle Männer der Familie Elliot haben boxen gelernt. Die Zeiten sind hart. In den 80er toben die Arbeitskämpfe in Durham. Die Zechen sollen geschlossen werden. Sie haben Angst um ihre Arbeitsplätze. Und darum streiken sie und haben eigentlich nichts, außer ein paar Cent. Aber boxen – das soll jeder Junge können. Schließlich wird einem nichts geschenkt und dann muss man sich wenigstens wehren können. Also geben die Väter von Durham ihre letzten 50 Cent, damit ihre Söhne in der Boxhalle trainieren können, so wie sie früher.
Eines Tages kommt eine Mrs Wilkinson zu Jack und bittet ihn, dass Billy die Royal Ballet School besuchen darf. Jack ist fassungslos.
Während Billys großer Bruder Tony von der Polizei zusammenschlagen wird, lernt Billy ausgerechnet: tanzen. Heimlich. Du hast dich um Grandma zu kümmern, während wir kämpfen – brüllt Jack seinen Sohn an. Und er tobt und schlägt um sich und seine Fäuste treffen Billy.
Jack kann nicht glauben, dass Billy ein Tänzer ist. Es passt nicht in sein Bild von Billy, es passt nicht zu dem, was sie als Familie durchmachen. Es passt nicht dazu, dass sie das von der toten Mutter geerbte Klavier zerhacken müssen, um Brennholz zu haben. Es passt nicht zur Brutalität der Polizei und nicht zur Dunkelheit der Zechen. Es passt nicht zum Ruß, der über Durham liegt, und den Schnee in ein matschiges Grau verwandelt.
(Aus dem Film: Billy Elliot – I will dance).
2. Thomas kann es nicht glauben
Thomas kann es nicht glauben. Jesus, der Freund, der Lehrer, soll leben. Die anderen Jünger und Jüngerinnen haben ihn angeblich gesehen. Der so elend am Kreuz starb und das vor allen Augen – der soll leben? Und er wurde doch dann in das Grab von Josef von Arimathäa gelegt… Das passt nicht. Es passt nicht in die Welt, die Thomas kennt. Es passt nicht zum unerbittlichen Handeln der römischen Soldaten. Es passt nicht zum Blut, zum Schmerz, zum Grau der Tage. Nicht zu den enttäuschten Gesichtern derer, die gehofft hatten, dass nun endlich alles anders wird. Und immer noch verkriechen sie sich hinter dicken Mauern. Dass Jesus leben soll, das passt nicht zu den Tränen der Frauen, die die ganze Zeit unter dem Kreuz waren. Nicht zu der Angst, die die Jesus-Freunde immer noch haben – dass es auch sie treffen könnte. Thomas ist kein Ungläubiger, auch wenn er oft so genannt wird. Und er ist auch kein Leichtgläubiger, kann nicht einfach so glauben, was seine Freunde ihm erzählen.
Ich verstehe Thomas gut. Jesus lebt? Da müsste doch die Welt auf dem Kopf stehen, alles anders sein. Die Angst verflogen – alle Türen offen. Die Tränen getrocknet. Kein Tod mehr. Kein Leid mehr. Aber die Welt ist weiterhin, wie sie ist. Die Türen sind und bleiben verschlossen. Wieso merke ich nichts davon, dass Jesus lebt?
3. Thomas begreift
Und plötzlich ist er da, der Auferstandene. Steht vor Thomas – so wie 8 Tage vorher bei den anderen. Steht vor ihm – offensichtlich können Mauern und verschlossene Türen ihn nicht draußen halten. Es gibt keine Grenzen mehr, kein drinnen und draußen, Himmel und Erde verschwimmen. Wunden und Wunder gehen ineinander über. Die Schwelle zwischen Tod und Leben überschritten. Die Welt, wie Thomas sie kannte, bröckelt.
Aber es reicht noch nicht. „Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen.“
Zeigt mir seine Narben, sagt Thomas zu den anderen. Lasst mich begreifen, was geschehen ist. Lasst es mich spüren. Berühren. Fleisch und Blut, Haut und Haar. Kein Geist. Sondern Mensch. Sondern Jesus.
Und Jesus lässt es zu. Er zeigt Thomas seine Narben. Und das genügt. Jesus zeigt sich ungeschützt, mit all den Spuren, die das Leben hinterlassen hat. Zeigt sich, wie er ist. Unverstellt. Echt. Und das lässt Thomas glauben. Jesus ist kein Geist, der mit ihm nichts zu tun hat. Sondern vielleicht sogar mehr Mensch denn je und damit ganz nah.
4. Jack begreift
Und plötzlich ist er da. Billy, der 11jährige Junge, steht in der Boxerhalle vor seinem Vater. Beide haben nicht damit gerechnet, dass sie sich hier treffen. Draußen und drinnen verschwimmen. Sie sind erschrocken. Wird der Vater wieder prügeln?
Billy fängt an zu tanzen. Alles lässt er raus – seine Wut, seine Trauer, seine Angst, seine Tränen. Er tanzt wie noch nie. Und Jack begreift auf einmal, wen er da vor sich hat. Es ist Billy, den er doch von klein auf kennt und liebt und den er doch nun zum ersten Mal richtig sieht. Mit seinen Narben auf der Seele und seiner Wut im Bauch. Er lässt sich berühren, obwohl er nur zuschaut. Denn Billy hat sich gezeigt. Ohne Mauern. Ohne Panzer. Ungeschützt, unverstellt, echt.
5. Ein Mehr an Leben
Damit ist der Damm gebrochen. Jack erkennt, was Billy braucht. Und für die ganze Familie beginnt ein neues Leben. Immer noch voller Tränen und Zweifel. Nicht wissend, ob Billy es schaffen wird. Sie gehören zusammen und niemand kann sie auseinander treiben, noch nicht mal das Grau in Grau von Durham oder die gnadenlose Dunkelheit der Zechen. Billy wird ein großer Tänzer, der die Herzen berührt und seinem Vater die Tränen in die Augen treibt. Ja, sie beginnen zu glauben, dass es mehr gibt. Ein Mehr an Leben. Und obwohl so viel dagegen spricht: Das Leben lohnt sich und hat alle Liebe verdient.
Ein Mehr an Leben….
Auch Thomas beginnt zu glauben. Mein Herr und mein Gott – mehr kann ein Mensch nicht bekennen, wenn er Jesus begegnet. Mit seiner Geschichte macht er zahllosen anderen Mut. Mir jedenfalls ist Thomas sehr nahe. Wenn ich mich nicht einfach vertrösten lassen will, habe ich Thomas an meiner Seite. Wenn ich mich danach sehne, Jesus begreifen zu können, bin ich in den Spuren von Thomas. Wie er will ich mich berühren lassen und will berühren. Wie er brauche ich diesen lebendigen Jesus, der mir seine Narben zeigt. Dieser Jesus ermutigt mich dazu, selber meine Narben offenzulegen, echt zu sein, mich nicht zu verstellen. Auf Tuchfühlung zu gehen mit Menschen, die mich lieben und die ich liebe. Unsere Welt braucht es, dass die Grenzen zwischen Himmel und Erde, zwischen Tod und Leben fallen. Ein Mehr an Leben – und es lohnt sich, obwohl so viel dagegen spricht. Und ich möchte glauben, dass dies geschieht.
6. Ich glaube
Ich kann es glauben.
Ich glaube, dass ein boxender Junge Tänzer wird.
Ich möchte glauben, dass jeder Mensch frei leben kann – echt und unverstellt.
Ich klammere mich daran, dass das eines Tages geschieht.
Das Holz vom Klavier wird nicht zum Heizen gebraucht, sondern lässt Musik erklingen.
Die Arbeit laugt die Menschen nicht mehr aus.
Und alle tanzen auf der Straße mit Boxerstiefeln und Ballettschuhen.
Ich will glauben, dass die Welt nicht so bleiben muss, wie sie ist.
Ich möchte glauben, dass ein machtbesessener Präsident nicht einfach einen Krieg anzetteln kann, sondern Parlament und Ministerinnen ihn stoppen.
Ich möchte glauben, dass die Welt nicht auf eine Terroristenbande wie die Hamas hört, sondern auf misshandelten jungen Frauen, die einfach nur tanzen wollten.
Ich klammere mich daran, dass das eines Tages geschieht.
Und ich spüre meine Narben und sehe deine Wunden.
Und ich glaube, dass das wichtig ist.
Wir begreifen, dass wir Gottes Kinder sind und unser Leben hat alle Liebe verdient.
Lahme gehen, Blinde sehen, Tote stehen auf.
Und ja, Gottes Liebe zum Leben ist stärker als alles andere.
Das glaube ich. Und das hoffe ich – mit Billy und Jack und mit Thomas.
Amen.
(Hier könnte noch der Song „I believe“ von Stephen Gatley eingespielt werden: er ist im Abspann des Films zu hören und fasst den Film quasi zusammen….)
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Woche nach Ostern rückt die Frage mehr und mehr in den Vordergrund: Was ändert sich mit Ostern denn nun wirklich? Und zugleich ist da die Sehnsucht nach dem Neuanfang, dem wirklichen Neustart. In Baden-Württemberg gehen die Osterferien zu Ende. Das Gefühl, dass jetzt der Alltag wieder losgeht, macht sich breit. Wie geschieht Ostern denn nun im Alltag? Diese Fragen bewegen vielleicht die Predigthörer*innen…
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Parallelisierung mit der Geschichte von Billy Elliot („I will dance“), die als Film im Jahr 2000 heraus kam und mich schon immer sehr bewegt hat. Ich habe ihn erst vor kurzem wieder gesehen. Und da ging er mir nicht mehr aus dem Kopf. Insbesondere auf den Vater Jack habe ich nochmal ganz neu geachtet…
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Manchmal zündet eine Idee und gibt mir damit einen neuen Zugang zu einer altbekannten Geschichte. Genau so ging es mir mit Billy Elliot und der Begegnung von Jesus und Thomas.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Coach hat mich dazu ermutigt, noch stärker zu straffen und am Anfang die Dramatik mehr herauszuarbeiten. Wir waren uns nicht ganz einig, ob es den Teil 6 braucht. Ich habe ihn mal drinnen gelassen….. Ich bin aber dankbar, dass sie es in Frage gestellt hat, dadurch habe ich ihn deutlich überarbeitet und zugespitzt!
Link zur Online-Bibel
Rollentauschübung - Predigt über Joh 13,1-15.34-35 von Jürgen Kaiser
Es war vor dem Passafest und Jesus wusste, dass für ihn die Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung. Während eines Mahls, als der Teufel dem Judas Iskariot, dem Sohn des Simon, schon eingegeben hatte, ihn auszuliefern – Jesus aber wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott weggehen würde –, da steht er vom Mahl auf und zieht das Obergewand aus, nimmt ein Leinentuch und bindet es sich um; dann gießt er Wasser in das Becken und fängt an, den Jüngern die Füße zu waschen und sie mit dem Tuch, das er sich umgebunden hat, abzutrocknen.
Nun kommt er zu Simon Petrus. Der sagt zu ihm: Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus entgegnete ihm: Was ich tue, begreifst du jetzt nicht, im Nachhinein aber wirst du es verstehen.
Petrus sagt zu ihm: Nie und nimmer sollst du mir die Füße waschen! Jesus entgegnete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du nicht teil an mir. Simon Petrus sagt zu ihm: Herr, dann nicht nur die Füße, sondern auch die Hände und den Kopf! Jesus sagt zu ihm: Wer vom Bad kommt, braucht sich nicht zu waschen, nein, er ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht alle. Denn er kannte den, der ihn ausliefern sollte. Darum sagte er: Ihr seid nicht alle rein.
Nachdem er ihnen nun die Füße gewaschen hatte, zog er sein Obergewand wieder an und setzte sich zu Tisch. Er sagte zu ihnen: Versteht ihr, was ich an euch getan habe? Ihr nennt mich Meister und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich als Herr und Meister euch die Füße gewaschen habe, dann seid auch ihr verpflichtet, einander die Füße zu waschen. Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben: Wie ich euch getan habe, so tut auch ihr. …
Ein neues Gebot gebe ich euch: dass ihr einander liebt. Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: Wenn ihr bei euch der Liebe Raum gebt.
Sein rechter Fuß ragt über den Rand und streckt sich jeder Nase entgegen, die ihn wittert, und jedem Mund, der ihn sucht. Südafrikaner und Albaner, Bayern und Brasilianer, Chinesen und Chilenen und am Ende auch ein paar Zyprioten, Menschen aller Herren Länder reihen sich vor diesem Fuß ein, um ihn zu küssen. Das bringe Glück, heißt es. Petrus, liebe Gemeinde, thront bekrönt in seinem Dom in Rom und lässt sich seit 700 Jahren von den Glückwünschern die Füße küssen. Das scheint Petrus nicht zu stören, jedenfalls lässt sein Gesichtsausdruck sich nichts anmerken, seit 700 Jahren schaut er unverändert über die Küssenden hinweg. Der große Zeh indes ist kaum mehr zu erkennen. Millionen Küsse haben ihn weggeküsst, ein paar Bronzemoleküle seines Zehs an den Lippen nimmt jeder aus dem Petersdom mit. Viel Glück.
Als Petrus noch aus Fleisch und Blut war, war ihm die Berührung seiner Füße in der Regel auch nicht peinlich. Oft wurden sie gewaschen. Wenn er zu Gast war in fremden Heimen. In den Häusern der Reichen kamen die Sklaven und wuschen ihm die Füße, in den Häusern der Armen stellten sie ihm eine Schüssel hin und er wusch sie sich selber. Nur einmal war es ihm peinlich. Als Jesus ihm die Füße waschen sollte. „Nie und nimmer sollst du mir die Füße waschen!“
Dass Petrus hier so heftig reagiert, ist bemerkenswert. Er ist peinlich berührt. Jesus sprengt die Ordnung, indem er Sklavenarbeit übernimmt und gegen Regeln und Sitten verstößt. Was Petrus aber vor allem verstört, ist, dass „der Herr“ sich so demütigt. Petrus will, dass Jesus der Herr bleibt. Der Christus – sein Christus – muss oben bleiben, Haltung bewahren. Für Petrus ist Christus eine Helden- und eine Vaterfigur. Die darf nicht vom Sockel fallen, die muss die Oberhand behalten und kann nicht anderen die Füße waschen. Petrus hat Angst, die Autorität seines Herrn zu verlieren. Er kann nicht dulden, dass Jesus sich selbst so demütigt.
Worum geht es beim Waschen der Füße? Jedenfalls nicht darum, dass die Füße sauber werden. Obgleich das in Zeiten, in denen die Straßen noch staubig und die Füße noch nicht beschuht waren, sondern nackt in Sandalen hausten, nötig war, bevor man das Haus betrat.
Dass es doch darum gehe, meint Petrus zunächst. Ihm selbst scheint erst gar nicht klar zu sein, warum er sich so dagegen sträubt, dass Jesus ihm die Füße waschen will. Jesus sagt: Wenn ich dich nicht wasche, hast du nicht teil an mir. Daraufhin will Petrus ganz gewaschen werden.
Das ist einer jener vielen produktiven Missverständnisse, mit denen das Johannesevangelium das Verstehen seiner Leserinnen und Leser leitet. Konkretes wird zunächst wörtlich und darum im Sinne des Evangeliums falsch verstanden. Jesus gibt die metaphorische Deutung: Diese Fußwaschung ist eine Übung, mit der man in seine Gemeinschaft hineinkommt. Der Punkt an der Fußwaschung ist nicht die Reinigung. Nicht sauber, nicht rein muss sein, wer Teil seiner Gemeinschaft werden will. Der Punkt ist vielmehr das Herr- und das Knechtsein, das Oben und das Unten.
Petrus war das nicht klar, doch mag er es intuitiv gespürt haben. Ihm ist die Fußwaschung durch Jesus ja nicht etwa deshalb peinlich, weil er nicht sauber werden wollte, sondern deshalb, weil er es nicht erträgt, dass Jesus vor ihm auf die Knie geht. Aber gerade darum geht es, um das Oben und das Unten und dessen beispielhafte Umkehrung.
Also reden wir über das Oben und das Unten, das es immer noch gibt, und offiziell doch nicht mehr.
Liberté, égalité, fraternité. Freiheit und Gleichheit sind Grundwerte der westlichen Gesellschaft. Es gibt keine Sklaven mehr und keine Herren, alle Menschen sind gleich – theoretisch. In der Wirklichkeit gibt es noch „die da oben“ und „die da unten“. Die Gesellschaftsetagen sind lange nicht so durchlässig, wie man sich das wünscht. Und weil nicht sein darf, was nicht sein soll, werden die Unterschiede in der öffentlichen Inszenierung kaschiert.
Als letztes Jahr kurz vor Ostern der britische König seinen Einzug in Berlin hielt, wurde er von der Menge bejubelt am Tor empfangen. Sie schwenkten keine Palmzweige, sondern Fähnchen – schwarz, rot, gelb und den Union Jack. Als Jesus in Jerusalem einzog, schrieb das vom Propheten Sacharja verfasste Protokoll vor, dass dieser König nicht hoch zu Ross, sondern auf einem Esel zu reiten habe. Charles hingegen kam im Bentley. Er stieg aus und ging auf die Menge hinter der Absperrung zu, um Hände zu schütteln. Dabei fiel einem Mann vor Schreck sein gelbes Mützchen vom Kopf und landete vor der Absperrung, so dass er nicht mehr drankam. Der König bückte sich und gab es ihm. Der Bürger war selig. Oder auch peinlich berührt, wie Petrus. Das war im Fernsehen nicht genau auszumachen.
Wurden früher auch in der öffentlichen Begegnung die Unterschiede inszeniert, werden sie heute durch Inszenierungen der Gleichheit versteckt. Aber jeder weiß: Sie sind noch da. Nach der Inszenierung fährt der König ohne Krone im Bentley ins Adlon, der Mann mit Mützchen im Opel in die Platte.
Offiziell gibt es keine Hierarchien mehr in Staat und Gesellschaft. Nur in der katholischen Kirche gibt es noch die Hierarchie: das Kirchenvolk, darüber der niedere Klerus, darüber der hohe Klerus, darüber der Papst. Und deshalb gibt es dort auch noch die Fußwaschung. Am Gründonnerstag waschen die Priester 12 Gemeindemitgliedern die Füße und der Papst kniet in Rom vor 12 Wohnungslosen oder 12 Menschen mit Behinderung oder 12 Gefangenen. Bis Ratzinger nur Männerfüße, seit Franziskus auch Frauenfüße, vielleicht nicht gleich 24.
Wo es Hierarchien gibt, muss man den Rollentausch üben. Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten werden die Ersten sein. Das ist die Gesellschaftsordnung im Geltungsbereich Gottes. Das Reich Gottes verwirklicht nicht die Prinzipien der französischen Revolution: Liberté, égalité, fraternité. Ihr nennt mich Meister und Herr, und ihr sagt es zu Recht, denn ich bin es, sagt Jesus. Der, der Petrus die Füße wäscht, macht sich zwar vor Petrus klein und den Petrus dadurch groß, aber er gibt damit sein Herrsein nicht auf. Es kommt vielmehr darauf an, in den Rollen flexibel zu werden. „Die da oben“ müssen von Zeit zu Zeit nach unten und „die da unten“ dürfen von Zeit zu Zeit nach oben. Es tut den Mächtigen gut, sich hin und wieder zu beugen und zu demütigen. Es tut aber auch denen „da unten“ gut, das Herrsein zu üben. Die Aufwertung durch das Evangelium darf nicht theoretisch bleiben. Man muss sie zuweilen auch spüren und erfahren, um ihr zu trauen. Nicht nur die Reichen, Schönen und Mächtigen laufen Gefahr, sich allzu gottgewollt auf der oberen Etage einzurichten. Auch die Armen, Schwachen und Chancenlosen richten sich zuweilen allzu bequem im Keller einer Opferrolle ein und wollen es gar nicht wahrhaben, dass sie – ja auch sie und sie gerade – Kinder Gottes sind, also Heilige und Priester, Bischöfe und Könige. In Gottes Augen spiegeln sich die Verhältnisse seitenverkehrt.
Jesus nennt die Fußwaschung ein Beispiel oder ein Vorbild – Wie ich euch getan habe, so tut auch ihr! –, man kann es auch eine Abschattung nennen oder eben einen Vorschein dessen, was noch aussteht. Wir brauchen diese zeichenhaften Umkehrungen, denn die Kirche ist berufen, Vorschein des Reiches Gottes zu sein. Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. (Mk 10,42-45)
Der franziskanische Papst praktiziert die Fußwaschung und übt den Rollentausch als Vorschein des Reichs Gottes. Er hat sogar eine moderne Form derselben erfunden. Wenn die Wichtigkeiten dieser Welt in großen schwarzen Limousinen vorfahren, kommt seine Heiligkeit in einem kleinen weißen Fiat cinquecento. Da spielt der Papst ein bisschen Mister Bean und lächelt ähnlich schalkhaft. Vielleicht ist der kleine Fiat auch eine Anspielung auf den Esel, mit dem Jesus in die Stadt kam. Das Ganze offenbart Humor. Humor hat die gleiche Aufgabe wie die Fußwaschung und wie die Heiligkeit im Fiat: den Spiegel vorhalten, „die da oben“ klein und „die da unten“ groß zu machen. Humor karikiert alle, die sich für besonders wichtig und groß halten. Gott stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. (Lk 1,52)
Dem bronzenen Petrus im Petersdom scheint es nicht mehr peinlich zu sein, dass alle Welt ihm die Füße küsst. Jedenfalls verrät sein stoischer Blick nichts dergleichen.
Ich würde nur gern wissen, was sein Nachfolger aus Fleisch und Blut denkt, wenn er anderen die Füße wäscht. Schade eigentlich, dass die Fußwaschung in der evangelischen Kirche keinen Platz gefunden hat. Wir sind zwar nicht so hierarchisch wie die katholische Kirche, aber ganz unhierarchisch sind wir auch nicht. Ein paar Demutsübungen würden auch uns guttun. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wurde letztes Jahr in der Potsdamer Hugenottengemeinde gehalten, einer eher bildungsbürgerlich akademisch geprägten Gemeinde.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Einige Tage, bevor die Predigt letztes Jahr gehalten wurde, besuchte König Charles Berlin. Die Bilder des Besuchs waren noch präsent. Ich habe das Beispiel gelassen, obwohl das Beispiel nicht mehr aktuell ist und die Bilder nicht mehr so präsent sind. Vielleicht lassen sich aktuellere Beispiele finden.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anmeldung zur Predigt kam recht kurzfristig, so dass ein Coaching nicht mehr drin war. Daher geht die Predigt ungecoacht und ungeschliffen online.