Heilig Abend - Predigt zu Lukas 2,1-19 von Dr. Jürgen Kaiser
2,1-19

Heilig Abend - Predigt zu Lukas 2,1-19 von Dr. Jürgen Kaiser

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.

 

Sie aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Es pochte heftig. Lange schon hatte es nicht mehr so heftig gepocht. Die Worte stießen an die Wände der Herzkammern. Sie kollidierten gegeneinander. Jedes Mal fühlte sie einen kleinen Schlag. Dieses Laufen der Worte in ihrem Herzen. „Freude“ rannte gegen „Heiland“, „Christus“ stieß mit „Furcht“ zusammen, „verkündigen“ krachte gegen „widerfahren“, die „Stadt Davids“ prallte gegen die „Höhe“ und der „Friede“ stürzte auf die „Erde“. Eine Unordnung, ein Chaos der Worte - sie konnte sich nicht beruhigen. Sie hörte noch „Wohlgefallen“ und wäre dann fast in Ohnmacht gefallen, hätte sie nicht in diesem Moment nach Josef gegriffen und tief durchgeatmet. Es was alles zu viel, die Reise nach Bethlehem in ihrem Zustand, die vergebliche Suche nach einer Bleibe, die Geburt im Stall und die Hirten mit ihren wirren Worten, die sie sich nun zu Herzen nahm. Sie hatte sich aufgerichtet als sie kamen. Sie hatte gehört, was sie sagten, es bewegte sie - verstanden hat sie es nicht. Jetzt waren die Worte in ihr gefangen. Sie konnten nicht raus. Gerne hätte sie das eine oder andere Wort freigelassen, es in Josefs Ohr geschickt und mit ihm darüber gesprochen. Sie blickte ihn an. Er saß da und stierte durch ein Loch im Dach. Er zählte Sterne. Als sie ihn am Rockzipfel griff, um nicht zu fallen, schreckte er kurz auf, blickte sie an und reiste dann wieder durch das Loch in seinen Himmel, ohne ein Wort zu hinterlassen oder eines von den Worte aus ihrem Herzen mitzunehmen.
Sie lauschte wieder auf das Lärmen dieser Worte in ihr. Noch andere drängten sich hinein, ältere, auch ganz alte und feierten in ihrem weiten Herzen eine wilde Party. Eines hieß Immanuel, ein anderes gab Zeichen, eines drang mit lautem Jubel und fetter Beute ein. Es kamen welche, die wollten ihre Stiefel nicht ausziehen und den Mantel anbehalten, an dem Blut hing. Rohe Eindringlinge aus alten Zeiten, als der Feind noch Assur hieß und Babylon. Kurz darauf machten es sich Wunder-Rat und Gott-Held, Ewig-Vater und Fried-Fürst gemütlich – die Kerle kannte sich - und führten sich in ihrem Herzen auf wie Könige. Einige brachten Tiere mit. Wölfe an der Leine und Lämmer auf der Schulter, Panther ohne Leine und ein Böcklein im Schlepptau. Eine trug ihren Säugling auf dem Arm. Er spielte mit einer Otter. Sie betrachtete die bunte Gesellschaft. Ein Zirkus machte bei ihr Station. Aber es war kein Zirkus, es war Zion. Es war nicht Zauber, es war Zebaoth. Das alles waren seine Scharen, seine Söhne, seine Töchter. Maria wurde neugierig. Sie richtete sich auf, fasste sich ein Herz und erhob die Stimme: „Meine lieben Gäste, seid mir willkommen! Von weit her seid ihr gereist, um mich heimzusuchen in meinem Herzen. Ich weiß noch nicht, wie mir geschieht, doch ich danke es euch. Euer Besuch bewegt mich sehr. Es ist nun meines Herzens Wunsch, dass ihr euch einander bekannt macht. Werdet miteinander vertraut, der Heiland mit dem Friedefürst, der Gott-Held mit dem Christus und Immanuel stelle sich dem Ewig-Vater vor. Sucht euch ein Plätzchen und redet miteinander, teilt mit, woher ihr kommt und wohin ihr zieht. Und mischt euch, die Jungen mit den Alten, der alte Isai mit den himmlischen Heerscharen und die alte Weisheit mit der jungen Erkenntnis. Dann will auch ich euch kennen lernen, will erfahren, was ihr zu sagen habt, ihr großen Worte und berühmten Namen. So werde ich eines Tages verstehen, was mich jetzt so bewegt.“ Josef blickte sie entgeistert an: „Was sagst du?“ Maria setzte sich. Sie schaute kurz zu Josef und wendete dann ihren Blick zur Krippe. Sie fing an, ein Lied zu summen. Ein Willkommenslied für ihre Gäste. Dieses Lied, liebe Gemeinde, wollen auch wir nun singen:

1. Tochter Zion, freue dich,
jauchze laut, Jerusalem!
Sieh, dein König kommt zu dir,
ja er kommt, der Friedefürst.
Tochter Zion, freue dich,
jauchze laut, Jerusalem!


2. Hosianna, Davids Sohn,
sei gesegnet deinem Volk!
Gründe nun dein ewig Reich,
Hosianna in der Höh!
Hosianna, Davids Sohn,
sei gesegnet deinem Volk!

3. Hosianna, Davids Sohn,
sei gegrüßet, König mild!
Ewig steht dein Friedensthron,
du, des ewgen Vaters Kind.
Hosianna, Davids Sohn,
sei gegrüßet, König mild!

In seinem Kopf jagten die Gedanken. Ungestüm galoppierten sie ihm durchs Hirn. Er versuchte, sie zu zügeln, forschte nach einem, der Gott im Sattel hätte. Aber er bekam keinen seiner schnaubenden Gedanken zu fassen. Sie bäumten sich auf und stieben davon, ehe sie ihren Reiter offenbaren konnten. Er hob den schweren Kopf und visierte das Loch im Dach. Die Pupillen verengten sich. Er drückte das rechte Auge zusammen und nahm mit dem linken einen Stern aufs Korn. Er sah einen zweiten Stern. Er stutzte und öffnete beide Augen. Er sah einen dritten Stern. Er sah viele Sterne. Sein Blick erreichte die Tiefe der Welten. Sein Auge stürmte in Lichteseile an andere Ende des Firmaments. Es war Nacht, er aber sah das Glühen der Sonnen, es war finster, er aber sah das Funkeln der Galaxien. Da klärten sich die Gedanken in seinem Kopf. Und diese Klärung empfing er wie eine Offenbarung.
Wie klein erschien ihm jetzt die Sonne, die er kannte, wie winzig die Erde. Wie unbedeutend dieser Stall, wie nichtig wurde er sich selbst samt seiner Frau und dem Kind, drei Staubkörner im Weltenall. Was bedeutete ihr Dasein, was bedeutete selbst die Geburt seines Sohnes angesichts dieses Universums mit seinen Millionen Welten? Wenn er denn sein Sohn war! Ein letzter Zweifel störte seine Melancholie und nährte sie zugleich. Was ist der Mensch?
Er sah so viele Sonnen, er sah ihre Planeten um sie kreisen, er sah Lebewesen, die keiner auf Erden je gesehen hatte, Geschöpfe eines Gottes, der nie auf Erden war. Es gab so viele Welten. Wieso sollte Gott sich um das kleine Israel scheren, wieso im kleinen Bethlehem sich in einem Kind wiederfinden? Keiner seiner Gedanken wollte der Fährte nachgehen, die die Hirten mit ihren Worten gelegt hatten. Behaglich dagegen war ihm die Unendlichkeit vor seinem Auge. Sie gefiel ihm. Freude, feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum. Seid umschlungen, Millionen! Mit diesem Kuss der ganzen Welt entkam Josef der Enge des Stalles, den Mauern des Landes, dem Gott seiner Väter und seinen Gesetzen. Er sprang auf seine fliehenden Gedanken, gab ihnen die Sporen, packte die Tochter aus Elysium an der Hand und sprang mit ihr über den Graben, sprang hinter die Welt, ließ Räume und Zeiten dahinten, brach durch Schallmauern und schoss durch die Lichtjahre.

Er war schon längst nicht mehr bei sich, als Maria wankte und nach ihm griff. Sie schnappte tief nach Luft und fasste sich ans Herz. Er senkte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich und trennten sich wieder. Er suchte sein Loch und ordnete die Gedanken im Kopf. Er wollte auch Maria mitnehmen auf die Himmelsreise, wollte sie mit den Reimen seiner himmlischen Empfindung einladen. Doch als er reden wollte, sagte ihm das Schweigen mehr zu. Was gab es noch zu sagen? Alle Poesie entwich aus dem Loch im Stall. War nicht jeder Gedanke bloß eine Schaltung seiner Synapsen? Waren nicht alle Gefühle bloß Effekte seiner Moleküle? War nicht alles in uns ein Ebenbild der unendlichen Welten da draußen? Jedes Gen eine Galaxie aus Atomen? Der vollkommene Kosmos, unendlich da oben und unendlich da drinnen. Ja Ebenbilder sind wir, Ebenbilder des Kosmos. Das machte ihn sprachlos. Jedes Wort störte diese Harmonie. Warum sollte Gott das Wort ergreifen? War es nötig? Wieso sollte nicht auch er es vorziehen, schweigend seine Kreise zu ziehen? Wie die Sterne und die Atome, wie die Galaxien und die Moleküle je auf ihrer Bahn. Die Hirten glaubten an Engel. Er aber empfand die Sterne in seinem Kopf. Sie waren kühl.
Da fing es doch noch an, in ihm zu reden. Ein alter Psalm, seiner Väter Lied, wollte nicht schweigen:

Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? (Ps 8,4f)
Josef sah in den Himmel und zählte die Sterne. Da wusste er: Nichts ist der Mensch. Warum sollte je ein Gott seiner gedenken? Die Melodie dieses Liedes ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Auch wir, liebe Gemeinde, wollen dieses Lied nun singen:

3. Wenn ich den Blick zu deinen Sternen wende
und zu dem Mond, den Werken deiner Hände -
was ist der Mensch, dass du, Herr, sein gedenkst,
des Menschen Kind, dass du ihm Liebe schenkst?
4. Und doch hast du am höchsten ihn gestellet,
ganz nah ihn deiner Gottheit zugesellet,
hast ihn gekrönt mit Hoheit und mit Pracht,
dass er beherrsche, was du hast gemacht. [EG 271]

Josef hatte gar nicht bemerkt, dass Maria aufgestanden war. Sie murmelte etwas vor sich hin. Er blickte sie entgeistert an und fragte: „Was sagst du?“ Maria setzte sich. Ihre Blicken suchten sich, sein Blick aus dem Kopf und ihr Blick aus dem Herzen. Aber sie fanden sich nicht. Maria sang: „Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem.“ Leise sang sie es in sich hinein.

Josef sang in sich hinein: „Wenn ich den Blick zu deinen Serne wende…“ und schloss leise an: „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium!“ So besangen sie – leise zwar, doch nicht ohne Freude - ihre Töchter, Maria die Tochter aus Zion und Josef die Tochter aus Elysium. … Da schrie laut der Sohn aus der Krippe. Der Säugling tat, was Säuglinge tun, wenn sie Hunger haben. Maria vergaß die Worte in ihrem Herzen, Josef ließ ab von den Gedanken in seinem Kopf. Die Mutter musste zusehen, dass der Säugling das Trinken lernt und der Vater musste lernen, wie man die Windeln wickelt. Nachdem der Säugling gestillt und gewickelt wieder eingeschlafen war, trafen sich ihre Blicke. „Was hast du durch das Loch gesehen, Josef?“ – „Die Sterne.“ „Konnte Abraham die Sterne zählen, als der Herr ihn hieß, gen Himmel zu sehen und die Sterne zu zählen?“, fragte Maria. Und Josef wiederholte die Verheißung: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein! (Gen 15,35)
„Wir haben ein Kind bekommen“, sagte Maria. - „Gott hat Wort gehalten“, stellte Josef fest, und konnte gar nicht glauben, dass er das gesagt hatte, und fügt an, nun sehr bewegt: „Schwester, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“. Sie traten gemeinsam aus dem Stall, hoben ihre Köpfe und blickten in den Sternenhimmel.
„Wieso kümmert sich der Gott, der all dies geschaffen hat, um uns?“, fragte Josef. „Wieso kümmern wir uns um das Kind?“, fragte Maria. „Weil es schreit und es uns weh tut, wenn es schreit“, antwortete Josef. „Siehst du“, sagte Maria. „Weil wir schreien und zu ihm rufen und es ihm weh tut, wenn wir schreien, deshalb kümmert Gott sich um uns. Seine Ohren hören uns über Lichtjahre und durch Schallmauern. Von seinen Millionen Welten liegt ihm ausgerechnet unsere am Herzen.“ – „Woher weiß du das?“ wollte Josef wissen. „Die Worte in meinem Herzen haben begonnen, mir ihre alten Geschichten zu erzählen. Es war immer so, seit Anbeginn der Zeit: Wir riefen und Gott hörte. Erst, wenn wir nicht mehr rufen, erst, wenn auf dieser Erde keiner mehr schreit, wird er sich anderen Welten zuwenden.“ „Sollen wir uns das wünschen?“, fragte Josef. Das Kind wurde wach und fing wieder an zu schreien. Sie kehrten in den Stall zurück. Sie wussten, was zu tun war. Und sie freuten sich sehr.
Amen.

1. Wie herrlich gibst du, Herr, dich zu erkennen,
schufst alles, deinen Namen uns zu nennen:
Der Himmel ruft ihn aus mit hellem Schall,
das Erdenrund erklingt im Widerhall.
2. Verborgen hast du dich den klugen Weisen
und lässest die Unmündigen dich preisen.
Den Leugner widerlegt des Säuglings Mund;
der Kinder Lallen tut dich, Vater, kund. [271]