Gottes Liebe sucht sich machtvoll ihren Weg zu den Menschen - Predigt zu Lk 1,26-55 von Matthias Riemenschneider

Gottes Liebe sucht sich machtvoll ihren Weg zu den Menschen - Predigt zu Lk 1,26-55 von Matthias Riemenschneider
1,26-55

Liebe Gemeinde,

Begegnung auf Augenhöhe

zwei Frauen, die ein Kind erwarten, begegnen einander. Ihre Freude ist groß. Die Energie, die in ihnen steckt, ist ansteckend und springt bis in unsere Zeit hinüber. 
Mit Andacht und Liebe haben die Maler aller Zeiten diese Begegnung dargestellt und das Besondere dieses Treffens festgehalten. Wer mit offenen Augen durch alte Kirchen oder Klöster geht, die Fresken und Kirchenfenster betrachtet, der wird häufig auch ein Bild von Maria und Elisabeth entdecken. Man kann dann sehen, wie sie sich gegenseitig stärken, wie sie bereit sind, das, was auf sie zukommt, gemeinsam zu tragen. Auf vielen dieser Bilder tragen Maria und Elisabeth einen Heiligenschein. Die beiden Kreise vereinigen sich auf vielen Bildern zu einem einzigen, großen Schutzschild, das sich um ihre Köpfe legt. Der Heiligenschein um einen Menschen ist ein Teil des Gotteslichtes. Von diesen Menschen geht in besonderer Weise ein Stück Himmel, ein Stück auch von Gottes Wesen aus. Gott scheint durch sie durch und sie strahlen etwas von ihm aus. 
Maria und Elisabeth haben wohl am wenigsten damit gerechnet, dass ihre Begegnung einmal die Fantasie so vieler Künstler inspirieren würde. Zwei einfache Frauen begegnen sich, zwei Frauenschicksale. Ein Schicksal, das in ähnlicher Weise viele andere vor und nach ihnen auch erlebt haben: Sie sind unerwartet schwanger geworden. Elisabeth ist im vorgerückten Alter und hatte die Hoffnung auf ein eigenes Kind schon aufgegeben. Maria ihrerseits wurde durch die Schwangerschaft völlig überwältigt und wusste nicht, wie ihr geschah. Obwohl sie so unterschiedlich sind ihre ungewöhnliche Schwangerschaft haben sie gemeinsam. Und so umarmen sie sich und stehen einander bei – gegen das Gerede der Leute, für die die eine zu alt für ein Kind ist und die andere noch zu jung. Von all dem um sie herum sind sie in ihrer Begegnung befreit. Mit ihnen geschieht etwas, das größer ist, als sie selbst es fassen können.

Begegnung verändert

Der Christbaum ist schon geschmückt. Die Proben für das Krippenspiel in der Christvesper sind abgeschlossen. Übermorgen ist Heilig Abend. Haben wir da noch die Muße, uns diesen beiden Frauen zuzuwenden? Und überhaupt: Die Weihnachtsgeschichte erzählt doch davon, wie im Stall von Bethlehem ein Kind geboren wird. Ein Kind, das als Heiland der Welt den Lauf der Weltgeschichte verändern soll. 
Es ist keine Frage, die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem ist ein weltstürzendes Ereignis. Der Evangelist Lukas ist der Meinung, dass wir dieses Ereignis nur recht verstehen können, wenn wir auch die Vorgeschichte kennen. Und deshalb erzählt er diese Vorgeschichte. Eigentlich müsste man sagen, er erzählt zwei Vorgeschichten: die Geburtsgeschichte von Johannes dem Täufer und die Geburtsgeschichte von Jesus von Nazareth. Elisabeth und Maria verbinden diese beiden Geschichten miteinander. Die beiden Frau erkennen, dass ihre Schwangerschaften nicht nur ihr eigenes Schicksal berühren. So wie sich Gott ihnen zuwendet, so gilt seine Aufmerksamkeit allen Niedrigen, allen am Rande und wenig Angesehenen und allen Notleidenden. Daraus schöpfen sie ihre Kraft und Hoffnung.
Hinzu kommt ihre Freude, die sie so deutlich ausstrahlen. Schon der Engel Gabriel setzt sie als Grundton. „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ (V.28) Im griechischen Urtext steht dafür ein Wort, dass wir auch mit „Freue dich“ übersetzen können.
Auch wenn Maria am Anfang der Begegnung erschrocken ist, so reagiert sie doch erstaunlich gelassen. Der himmlische Bote kündigt ihr schließlich eine baldige Schwangerschaft an, die nach menschlichem Ermessen völlig unmöglich ist. Sie stellt lediglich eine Nachfrage: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“ (V.34) So als ob sie überprüfen möchte, ob das wirklich stimmt, was Gabriel ihr sagt. 
Der Engel steht ihr Rede und Antwort: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“. Das Ganze ist so geheimnisvoll, dass auch der Engel dies nur in einer poetischen Sprache ausdrücken kann. Und damit kein Missverständnis entsteht, fügt er noch hinzu: „Darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“ (V.35) Maria stellt keine weiteren Fragen mehr. Sie vertraut Gott. Sie ist bereit, Gottes Plänen für ihr Leben zu folgen. 

Marias Lobgesang

So unvermittelt wie er gekommen ist, verschwindet der Engel auch wieder. Und Maria bricht auf, um ihre Cousine Elisabeth zu besuchen. In ihrer Begegnung spüren beide Frauen, dass sich etwas in ihrem Leben verändert. Gott verändert ihr Leben so sehr, dass sie ohne Scheu jubeln und singen können. Elisabeth preist die Schwangerschaft Marias mit lauten Freudenrufen und nennt sie selig. Selig, weil sie ganz und gar auf Gott vertrauen kann, weil sie spürt, dass Gott es gut mit ihr meint. Dieser Lobpreis Elisabeths bewirkt bei Maria wiederum, dass die Worte des Engels in ihr zum Klingen kommen. Sie beginnt zu singen: 
[Die Wiederholung des Manificat ggf. in einer modernen Übersetzung lesen, hier GNB]
„46Maria aber sprach:
Mein Herz preist den Herrn,
47alles in mir jubelt vor Freude
über Gott, meinen Retter!
48Ich bin nur seine geringste Dienerin,
und doch hat er sich mir zugewandt.
Jetzt werden die Menschen mich glücklich preisen
in allen kommenden Generationen;
49denn Gott hat Großes an mir getan,
er, der mächtig und heilig ist.
50Sein Erbarmen hört niemals auf;
er schenkt es allen, die ihn ehren,
von einer Generation zur andern.
51Jetzt hebt er seinen gewaltigen Arm
und fegt die Stolzen weg samt ihren Plänen.
52Jetzt stürzt er die Mächtigen vom Thron
und richtet die Unterdrückten auf.
53Den Hungernden gibt er reichlich zu essen
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
54Er hat an seinen Diener Israel gedacht
und sich über sein Volk erbarmt.
55Wie er es unsern Vorfahren versprochen hatte,
Abraham und seinen Nachkommen
für alle Zeiten.“

Mit ihrer ganzen Kraft singt Maria. Sie ist begeistert. Und sie kann sich nun vollständig öffnen für die Worte Gottes, die ihr der Engel überbracht hat. Deshalb singt sie so leidenschaftlich. Sie spürt die neue Kraft Gottes in sich. Dafür kann sie Gott nur loben.
Eine Frau ist es, die so in das Lob Gottes einstimmt – eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, die sonst eher am Rande steht. 
Immer sind es in der Bibel Frauen, die solche Lieder singen. Lieder, die vom Heil schon erzählen, wenn andere es noch gar nicht richtig bemerkt haben. Die nicht nur das eigene Glück besingen, sondern die Rettung für viele. Als die Israeliten aus Ägypten ausziehen, ist es Mirjam, die auf die Pauke schlägt und das Lied der Befreiung anstimmt (Ex 15,20). Später ist es Hanna, die Mutter Samuels, die ausruft: „Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke.“ (1.Sam 2,4)
Im Mund Marias werden die Töne dieser Frauen wieder lebendig. Töne, die Gott in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit erkennen lassen: nicht auf einem fernen Thron, sondern als die Macht, die mitten in den Niederungen des Lebens befreit und stärkt. So sehr ist Maria von dieser Macht erfüllt, dass ihre Freude alles durchdringt, auch das, was zum Weinen und Klagen ist. Und davon gibt es genug, in ihrem eigenen Leben wie um sie herum: Elend, äußere und innere Not, Missachtung und Demütigung. 

Bis heute hat sich daran leider wenig verändert. Vor wenigen Wochen (November 2024) hat das Bundeskriminalamt eine Untersuchung veröffentlicht, die für das Jahr 2023 eine deutliche Zunahme von häuslicher Gewalt feststellt. Die Zahl der gemeldeten Straftaten hat gegenüber dem Vorjahr um 6,5% zugenommen. Die Mehrheit der Opfer von häuslicher Gewalt sind Frauen und Mädchen. Zu den Formen der häuslichen Gewalt zählen neben Schlägen, sexueller Nötigung und Vergewaltigung auch die Tötung von Frauen. 360 Frauen und Mädchen wurden Opfer eines sogenannten Femizides. Also praktisch an jedem Tag im vergangenen Jahr wurde ein Menschenleben ausgelöscht, nur weil es weiblichen Geschlechts war. Diese Fälle haben im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Hass und Gewalt gegen Frauen, so stellt es das Bundeskriminalamt fest, sind Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Spannungen und auch wirtschaftlicher Probleme. [Quelle: https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/241119_BLBStraftatengegenFrauen2023.html]
Wenn in einem Land die liberalen Werte unter Druck geraten, das Selbstbestimmungsrecht eines Einzelnen und die persönlichen Freiheitsrechte eingeschränkt werden, dann sind Frauen immer die ersten, die dies zu spüren bekommen. In Afghanistan, wo Mädchen nicht einmal mehr zur Schule gehen dürfen und Frauen von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind, kann man das auf besonders perfide Weise beobachten. Und im Iran haben die Mullahs vor nichts eine größere Angst als davor, dass Frauen ihre Stimme erheben und ihre elementaren Menschenrechte einfordern. 

Ein Lied der Befreiung

Die Frauen in unseren Tagen, die an den Rand gedrängt, gedemütigt, unterdrückt oder gar ermordet werden, diese Frauen sind die Schwestern und Cousinen Marias. Gerade für sie stimmt Maria ihr Lied der Befreiung an. Wir sind eingeladen, dieses Lied nicht nur zu hören, sondern mitzusingen. Laut mitzusingen, dass sich endlich etwas ändert für die Frauen im Iran, in Afghanistan oder sonst wo in der Welt, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Dieses Adventslied, das davon erzählt, wie Gott in diese Welt kommt. Es ist das älteste Adventslied, das wir haben. Und dabei hört es sich so anders an als viele der Lieder, die wir in diesen Tagen singen! Nicht sanft, nicht wehmütig, und schon gar nicht lieblich. Nein, kraftvoll, leidenschaftlich, mitreißend – so klingt das Lied zu Ehren Gottes. 
Ein Stück nicht für Flöten und Schalmeien, sondern für Pauken und Trompeten, ein Lied mit harten Tönen und starken Worten. Anstatt Harmonie und Idylle zu beschwören, beschreibt es den Umsturz. Throne stürzen und Machthaber verlieren ihre Gewalt. In den Palästen bleiben die Tische leer und in den Hütten werden Hungernde satt gemacht. Herrscher müssen herunter von ihren Podesten und die Arroganz der Mächtigen hat ein Ende. 

Maria singt leidenschaftlich von Gott. Von Gottes Macht: wie Gott Mächtige entmachtet und Ohnmächtige aufrichtet, wie er Mühselige und Beladene stärkt und Niedergedrückte wieder aufrecht gehen lässt. Von dem Gott, der groß macht, was in den Augen der Menschen klein und niedrig ist. 
Es ist kein harmloses Lied, das Maria anstimmt. Es verschweigt nicht die Gewalt und die Ungerechtigkeit, nicht die Not in der Welt. Gerade deshalb fordert es zum Mitsingen auf. So laut, dass es die bedrückten und erniedrigten Frauen hören können. Weil dieses Lied von einem hellen Grundton bestimmt ist: dem Grundton der Freude! Der Freude über die neue Gerechtigkeit. 
Innigste Freude bringt Maria zum Singen. Eine Freude, die durch nichts aufzuhalten, zu trüben oder zu dämpfen ist. So eine überwältigende Freude lässt Maria jubeln und ausrufen: „Gott ist groß.“ Am eigenen Leib hat sie erfahren, wie es ist, wenn Gott am Werk ist. Dass da nicht Macht, nicht Reichtum, nicht äußere Vorzüge zählen. Sondern allein die Liebe. Ich bin sicher, dass auch Elisabeth in dieses Loblied miteinstimmt. Das Lied, das Gottes Liebe besingt, die sich machtvoll ihren Weg zu den Menschen sucht. 

Amen

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Matthias Riemenschneider

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Jeden Montag findet in der Landesgeschäftsstelle der Diakonie Württemberg eine Hausandacht statt, an der regelmäßig rund 50 Mitarbeitende teilnehmen: eine lebendige, kritische und sozial engagierte Gemeinschaft, die aktuelle Fragestellungen im Licht biblischer Texte durchdenkt und diskutiert. Ebenso ist eine Gemeinde im Blick, die den kritischen Impuls der biblischen Botschaft als Ergänzung zur eigenen Gemeindearbeit versteht.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Proprium des Sonntags betont die Freude. Den Grund dieser Freude benennen und die Chuzpe beschreiben, sie trotz bedrückender Erfahrungen der Gegenwart auszudrücken, das möchte ich in der Predigt beschreiben.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Angesichts der vielen bedrückenden Nachrichten (Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Trump ante portas, Erstarken rechtspopulistischer Parteien) fiel es mit selber schwer, mich auf den hellen Grundton der Hoffnung und Freude einzulassen. Die Kraft der beiden Frauen wirkt ansteckend – und beeinflusste die Vorbereitung und Ausarbeitung der Predigt. Von dieser Kraft möchte ich mich öfter anstecken lassen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Maria und Elisabeth sind zwei Frauen, die letztlich in einer prekären Situation leben. Das Schicksal von Frauen, die am Rande stehen, unterdrückt werden oder Opfer von Gewalt sind, muss angesichts der weihnachtlichen Feststimmung herausgestellt werden. Diesen Gedanken auszuarbeiten, entgegen der weihnachtlichen Erwartung einer heilen Welt, dafür erhielt ich von verschiedenen Seiten Zuspruch. 

Perikope
22.12.2024
1,26-55

Es liegt an uns - Predigt zu Lk 13,10-17 von Barbara Bockentin

Es liegt an uns - Predigt zu Lk 13,10-17 von Barbara Bockentin
13,10-17

Immer am Sabbat lehrte Jesus in einer der Synagogen. Und sieh doch: da war eine Frau. Seit achtzehn Jahren wurde sie von einem Geist geplagt, der sie krank machte. Sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. Als Jesus sie sah, rief er sie zu sich. Er sagte zu ihr: „Frau, du bist von deiner Krankheit befreit!“ Und er legte ihr die Hände auf. Sofort richtete sie sich auf und lobte Gott.
Aber der Leiter der Synagoge ärgerte sich darüber, dass Jesu die Frau an einem Sabbat geheilt hatte. Deshalb sagte er zu der Volksmenge: „Es gibt sechs Tage, die zum Arbeiten da sind. Also kommt an einem dieser Tage, um euch heilen zu lassen – und nicht am Sabbat!“ Doch der Herr sagte zu ihm: „Ihr Scheinheiligen! Jeder von euch bindet am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Futterkrippe los und führt ihn zur Tränke. Aber diese Frau hier, die doch eine Tochter Abrahams ist, hielt der Satan gefesselt – sieh doch: achtzehn Jahre lang! Und sie darf am Sabbat nicht von dieser Fessel befreit werden?“ Als Jesus das sagte, schämten sich alle seine Gegner. Und die ganze Volksmenge freute sich über die wunderbaren Taten, die Jesus vollbrachte.

Es liegt an uns

I. Unsichtbar sichtbar – die Geschichte einer Namenlosen

Sie steht am Rand. Fast unsichtbar. Die Blicke der anderen gehen über sie hinweg. Trifft sie doch mal einer, versucht sie sich instinktiv noch kleiner zu machen. Über die Jahre ist es für sie eine Gewohnheit geworden. Eine, die sie sich nicht ausgesucht hat. Eine, die andere ihr zugeschrieben haben.
Das, was sie erlebt hat, haftet wie ein Makel an ihr. Sie kann es nicht abschütteln. Zu fest sitzt es. Unfrei fühlt sie sich.
Anfangs – wie lange ist das her? – da hat sie versucht, sich Gehör zu verschaffen. Doch niemand hat sie hören wollen. Dass ihr jemand Glauben schenkt, darauf hofft sie schon gar nicht mehr. Statt Zuspruch Widerspruch. Ihr Empfinden, ihre Erinnerungen, ihr Leid – all das zählt nichts.
Was sie sich erhofft: Gesehen und gehört werden. Gerechtigkeit.
Weshalb sie die Gemeinschaft nicht von sich aus verlässt? Die anderen sollen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Als ob nichts passiert sei. Als ob es sie nicht gäbe. Sie will weiter Stachel im Fleisch bei ihnen sein. Auch wenn es anstrengend ist. Viel Kraft kostet. So wie jetzt gerade: Sich am liebsten unsichtbar machen.

II. Gesehen – gerufen – Jesus greift ein

Einer sieht sie doch. Ruft sie in die Mitte. Sie muss sich einen Ruck geben. Es ist nicht so einfach. Sie geht in dem Vertrauen, ja mit welchem eigentlich? Sie hat gelernt, nichts zu erwarten. Er sieht sie und ruft sie zu sich. Sieht mehr, tiefer. Augen, die wie erloschen sind. Einen Mund, der verstummt ist. Er sieht sie. Voller Wärme und Zuneigung. Das erreicht sie. Als er sie berührt, kann sie zunächst ein Unbehagen nicht leugnen. Schließlich hat sie um nichts gebeten. Selbst ihn nicht. Natürlich hat sie von ihm gehört. Von seiner Macht zu heilen. Aus tiefstem Herzen wünscht sie das auch für sich. Trotzdem bleibt das Unbehagen.
Als ob sie etwas zurückhält. Als ob sie sich fürchtet. Vor dem, was sich ändern wird.
Gemeinsam mit seinen Worten verändert sie sich durch die Geste. Sie richtet sich auf. Zu voller Größe. Das erste Mal seit vielen Jahren. Wirbel für Wirbel. Langsam. Überrascht. Nicht nur ihr Körper, auch ihr Herz wird frei.
Sie macht einen Schritt. Dann noch einen. Geht voran. In der Hoffnung, nicht allein zu bleiben. Sie macht sich selbst Mut. Jetzt muss sich doch etwas ändern. Kann sie jetzt sagen, was geschehen ist? Was sie zu der gemacht hat, die sie heute ist? Wie sie das Verhalten der anderen empfunden hat?

III. Hinsehen und handeln – so fängt Veränderung an

Jesus fragt nicht. Er handelt. Zunächst. Damit stellt er sich an ihre Seite. Wehrt Angriffe ab. Lässt nicht gelten, was gesagt wird. Rückt zurecht. Macht unmissverständlich klar, dass alles getan werden muss, was dem Leben dient. Erinnert daran. Macht damit möglich, dass die anderen das auch sehen. Dem zustimmen können. Veränderung ist angesagt. Veränderung, die der Menschenliebe Gottes Rechnung trägt. Nichts anderes muss folgen.
Ja, sie wird stärker. Und wir? Trauen wir uns. Trauen uns hinzusehen. Ergreifen Partei, wo immer es nötig ist. Erinnern auch dann, wenn es unbequem wird. Vergessen die nicht, die gern im Dunkel gelassen werden. Trauen wir uns zu handeln. Ziehen wir Konsequenzen, wann immer sie nötig sind. Belassen wir es nicht nur bei Worten.

Jesus hat es getan. So fängt es an und zieht Kreise, Gott sieht sie, sieht mich, sieht uns an. Sein Blick verändert.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Barbara Bockentin

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Sommerferien liegen hinter uns. Der Alltag ist wieder eingekehrt. im Gottesdienst mischen sich die, die aus dem Urlaub zurückgekehrt sind, und die, die daheim geblieben sind. Die Gottesdienstbesucher*innen gehören zu verschiedenen Altersgruppen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Immer wieder beschäftige ich mich zurzeit mit den Ergebnissen der Forumstudie. Vor allem das Thema des „Dunkelfeldes“ lässt mich nicht los. Der Predigttext stellte schon beim ersten Lesen eine Brücke zu diesem Thema her. Betroffene zu sehen – zu ahnen, dass vielleicht Betroffene in der Gottesdienstgemeinde sitzen – hat mich herausgefordert.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich bin erschrocken, als mir aufgefallen ist, dass Jesus in dieser Geschichte übergriffig geworden ist. Einerseits. Andererseits: Ohne sein Eingreifen wäre die Frau nicht sichtbar geworden. Jesus handelt, weil er unter die Oberfläche sieht. Wahrnehmen, was da ist. Verborgen, im Dunkeln. Sich nicht täuschen lassen von dem, was sichtbar ist.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigtcoach hat mich ermutigt, genauer zu werden. Deshalb konnte ich das Unbehagen der Frau besser beschreiben. Die Zielrichtung der Predigt auf uns, die wir lesen und hören, ist exakter formuliert.

Perikope
18.08.2024
13,10-17

Der Ruf der Freiheit - Predigt zu Lk 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz

Der Ruf der Freiheit - Predigt zu Lk 15,1-3.11b-32 von Andreas Schwarz
15,1-3.11b-32

1 Es nahten sich Jesus aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen. 
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:
11 Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Erbteil, das mir zusteht. Und er teilte Hab und Gut unter sie. 13 Und nicht lange danach sammelte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land; und dort brachte er sein Erbteil durch mit Prassen. 14 Als er aber alles verbraucht hatte, kam eine große Hungersnot über jenes Land und er fing an zu darben 15 und ging hin und hängte sich an einen Bürger jenes Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte, seinen Bauch zu füllen mit den Schoten, die die Säue fraßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da ging er in sich und sprach: Wie viele Tagelöhner hat mein Vater, die Brot in Fülle haben, und ich verderbe hier im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. 19 Ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße; mache mich einem deiner Tagelöhner gleich! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße 23 und bringt das gemästete Kalb und schlachtet’s; lasst uns essen und fröhlich sein! 24 Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein. 25 Aber der ältere Sohn war auf dem Feld. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen 26 und rief zu sich einen der Knechte und fragte, was das wäre. 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund wiederhat. 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. 29 Er antwortete aber und sprach zu seinem Vater: Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. 30 Nun aber, da dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Hab und Gut mit Huren verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet. 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden. 

Der Ruf der Freiheit.
Ich muss raus. Raus aus der Geborgenheit.
Ich will lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.
Ich möchte mich ausprobieren, eigene Wege gehen, ohne zu wissen, wohin mich das führt.
Und ob ich ankomme, wo ich will, oder ganz woanders hingeführt werde, das Risiko gehe ich ein.
Ich möchte gehen, ohne jemandem sagen zu müssen, wohin
oder wann ich nachhause komme.
Wenn ich nachts nachhause komme, möchte ich niemanden wecken und ich möchte auch nicht gefragt werden, wo ich war und warum ich erst jetzt komme.
Ich möchte nicht, dass jemand sich Sorgen macht.
Ich will Freiheit erleben, wie ich sie mir wünsche.
Ich möchte selbst überlegen und entscheiden.
Ich bin bereit, die Konsequenzen meines Tuns zu tragen.

Der Vater kritisiert das Verhalten des Sohnes nicht.
Kein mahnendes Wort, dass der sich auszahlen lässt.
Es steht ihm zu. Er ist der Jüngere. Den Hof des Vaters bekommt er später ohnehin nicht. Er erhält, was ihm zusteht, und verliert damit jeglichen Erbanspruch.
Mehrere Familien kann der Hof sowieso nicht ernähren.
Der Jüngere ist genötigt, sich anderswo den Lebensunterhalt zu verdienen.
Der Vater lässt seinen jüngeren Sohn gehen.
Ohne ein böses Wort.
Ohne ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.
Ohne Ratschläge und Verhaltensmaßregeln.
Mit ganz viel Vertrauen und viel Hoffnung, sicher.

Und es ist gut, dass die Eltern nicht alles wissen, was geschieht.
Wie der Sohn sein Leben führt und wie es ihm ergeht.
Dass er sein Erbteil verschleudert.
Dass eine Wirtschaftskrise ausbricht, Menschen Hunger leiden.
Dass er in der schweren Zeit nicht arbeiten und seinen Lebensunterhalt verdienen kann.
Dass es bergab mit ihm geht, in jeder Hinsicht.
Gut, dass sie nicht wissen, was noch alles kommt.
Er verliert alles, was für ihn wichtig war, was sein Leben bestimmt hat:
sein Erbe hat er verschleudert, seine religiösen Grundlagen gehen vor die Hunde, oder besser: zu den Schweinen,
und für sein Leben gibt es keine Sicherheit mehr.
Er ist am Ende. Das ist eine entwürdigende Situation.
Gut, dass die Eltern all das nicht wissen.

Und du, Sohn?
Selbst fühlst du dich keineswegs wohl dabei, du kannst dich selbst nicht mehr riechen, wenn du bei den Schweinen lebst. Du würdest Schweinefraß fressen, wenn du dürftest, aber nicht einmal das ist erlaubt. Tiefer geht es nicht mehr.
Und bevor du überhaupt mit jemandem redest, hörst du schon die Vorhaltungen. „Siehst du, so geht das, wenn man meint, frei sein zu wollen. Jetzt hast du deine Freiheit. Ich hätte es dir ja gleich sagen können, aber du hast ja nicht auf mich gehört“. 
Ach, diese unglaublichen Besserwisser. Die haben ja wahrscheinlich alle nur darauf gewartet, dass es so kommt.
Die wussten ja schon immer, dass man seine Sicherheiten nicht weggibt, dass man sein Erbe nicht verschleudert.
„Keine Verantwortung, diese jungen Leute, kein Gespür für das, was im Leben und seiner Zukunft wirklich wichtig ist. Bleibe im Lande und nähre dich redlich – das wusste schon die Weisheit Israels; und die Eltern wissen auch, wo es langgeht. Hör doch auf die Lebenserfahrung der Alten. Aber nein, alles besser wissen. Das hast du jetzt davon“.
Als ob du große Lust hättest, nachhause zu gehen und dir das anhören zu wollen.
Du weißt ja alles selbst am besten.

Ja, ihr habt ja Recht. Es gibt nichts zu beschönigen, nichts zu entschuldigen.
Ich habe nichts mehr, ich stinke, niemand will mit mir zu tun haben. Das trage ich nun.
Und auch die zahlreichen Belehrungen und Vorhaltungen.
Da ich sowieso überall untendurch bin, vor allem bei mir selbst, kann ich auch zu meinem Vater gehen. Arbeiten kann ich und will ich ja auch, dann kann ich wenigstens leben und nicht vegetieren. Ich bin nicht mehr ganz unten, bei den Schweinen.
Vieles habe ich verloren, im Grunde genommen alles. Aber ich kann arbeiten und ich will leben. Ich werde zu meinem Vater gehen, sagen, dass ich mich falsch verhalten habe, dass ich Fehler gemacht habe, dass ich keinen anderen Weg mehr weiß, als zu ihm zu gehen.

Nicht leicht zu sehen: Ich bin gescheitert.
Und das auch anderen gegenüber einzugestehen.
Dem Vater, der Mutter, den Geschwistern.
Was werden sie denken.
Ob sie mich vergessen haben? Abgeschrieben?

Das Herz des Vaters ist voller Sehnsucht.
Was immer der Sohn an Gedanken seines Vaters gemutmaßt hat, der Vater sehnt sich nach seinem Sohn.
Sowie er seinen Sohn von Weitem sieht,
läuft er auf ihn zu und nimmt ihn in die Arme.
Und wenn er noch so dreckig ist und stinkt, er drückt ihn an sein Herz.
Da nämlich gehört er hin – und war er wohl auch immer – am Herz des Vaters.
Die Sehnsucht erfüllt sich.
Durch nichts konnte der Sohn die Liebe des Vaters zu seinem Sohn zerstören.

Liebe zu ihren Kindern auch dann, wenn sie ganz anders denken und handeln, als sie es für richtig erachten.
Kinder, um die sie sich Sorgen machen, auch wenn sie längst erwachsen sind. Kinder, die immer willkommen sind.
Türen und Herzen und Arme stehen ihnen offen, wo immer sie waren, was immer sie erlebt haben.
Der Vater nimmt seinen Sohn in die Arme: Du bist mein Sohn.
Du kannst in deinem Leben viel kaputt machen, du kannst so viel verspielen, du kannst deine Zukunft riskieren, deine Gesundheit, dein Ansehen, deine moralischen Prinzipien. Aber mein Sohn zu sein verlierst du nicht.
Du bist nicht deshalb wieder Sohn, weil du deine Fehler bekannt hast, weil du deine Reue ausgedrückt hast, weil du zugegeben hast, dass du versagt hast.
Du bist mein Sohn, weil ich dich liebe.
Ich freue mich, dass du wieder da bist.
Deswegen möchte ich ein Freudenfest feiern.
Und alle auf dem Hof sollen sich mitfreuen.
Aber nicht jeder will sich mitfreuen.

Der ältere Sohn ist entsetzt, dass es für seinen Bruder, den er im Gespräch ‚dein Sohn‘ nennt, ein Fest gibt, dass der Vater sich freut.
Ob Vater und Sohn nie miteinander geredet haben?
Ob der Sohn nie gesagt hat, was er möchte, worüber er sich freut?
Ob er geschwiegen hat, treu und zuverlässig, aber offensichtlich ohne Freude seine Arbeit gemacht hat?
Und jetzt kommt raus, wie unzufrieden er ist.
Jahrelang hat er es mit sich herumgetragen – und jetzt ist die Heimkehr des kleinen Bruders der Anlass, es dem Vater vorzuwerfen.
Der auch diesen Sohn liebt.
Warum kannst du dich nicht mitfreuen?
Du warst doch frei, warst zuhause, hattest jede Chance und jedes Recht zu sagen, was du möchtest, zu tun, was du wolltest.
All die Jahre wäre es leicht gewesen, darüber zu reden. Jetzt ist es schwer. Jetzt geht es um eine innere Überwindung. Das Gefühl, falsch, schlecht, ungerecht behandelt worden zu sein, verhindert die Mitfreude. Aber der Vater hört nicht auf, genau darum zu bitten.

Unglaublich - eine neue Chance; es ist nicht alles vorbei.
Das Leben kann neu beginnen und es ist um mehrere Erfahrungen reicher.
Die vorher getrennte Wege gegangen waren, feiern nun gemeinsam ein Fest.

Und sie lebten glücklich und zufrieden miteinander ihr ganzes Leben. – Wäre es ein Märchen, könnte dieser Satz folgen.
Aber es ist kein Märchen, es ist das Leben.
Und das hat keinen Schluss. Es ist offen.
Jesus sieht die Menschen, wie sie leben und wie sie miteinander umgehen.
Er lässt sie Neues erleben.
Die Geschichte erzählt keinen Schluss, kein Happy End, sie löst den Konflikt nicht.
Darum wird es auch unsere Geschichte,
sie ist offen für unsere ungelösten Konflikte.
Untereinander und mit Gott.
Der sehsüchtig wartet – auf den, der umkehrt.
Gemeinsames Feiern ist ein wunderbarer erster Schritt auf dem Weg zu einer fröhlichen Gemeinschaft zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Andreas Schwarz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde ist größtenteils traditionell geprägt, dazu gehören jeweils auch Erfahrungen, dass das Leben klare Regeln hat und braucht und die auch deutlich zu benennen sind. Auch aufgrund sehr unterschiedlicher Herkunft spielen Frage nach Obrigkeit und Gehorsam eine große Rolle, genau so wie traditionelle Ehe- und Familienbilder. Freiheit ist auch ein ambivalenter Begriff. Der Wunsch nach klar biblischer Verkündigung ist deutlich zu spüren.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Diese Erzählung prägt wie kaum eine andere mein Gottesbild. Selbst sehr streng religiös erzogen, auch mit dem Hinweis: Der liebe Gott sieht alles, habe ich diese Geschichte aufgesogen. Sie ist so etwas wie meine Grundlage von Glauben und Vertrauen. Beziehung ohne Kontrolle, ohne Vorwürfe und Strafen, das wirkt wie aus einer anderen Welt und hat doch die Kraft, Menschen (mich) zu erreichen und zu bewegen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gegen den auch in mir wohnenden Impuls, zu wissen, zu erforschen und auf Fehler hinzuweisen möchte ich gerne in allen meinen Beziehungen von dieser Barmherzigkeit lernen, also im wahrsten Sinn des Wortes, mit einem offenen, warmen Herzen auf andere Menschen zugehen. Ich bin nicht Richter oder Ankläger.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine wunderbare Ansprache, verständnisvoll und wertschätzend konnte auf theologische und sprachliche Hürden hinweisen. Ich wurde ermutigt, zu kürzen, nicht alles sagen zu müssen. Weniger ist mehr. Zudem habe ich klarer sortieren können, Bausteine verschoben. Die Predigt ist nun deutlicher strukturiert und sinnvoller aufgebaut als zuvor. Ich bin dafür sehr dankbar, weil alles an Kritik sehr hilfreich war.

Perikope
16.06.2024
15,1-3.11b-32

Weihnachten bewegt die Menschen - Predigt zu Lk 2,1-20 von Isolde Karle und Christoph Dinkel

Weihnachten bewegt die Menschen - Predigt zu Lk 2,1-20 von Isolde Karle und Christoph Dinkel
2,1-20

Liebe Gemeinde,

Weihnachten bewegt die Menschen. Zunächst werden Maria und Josef ganz wörtlich in Bewegung gesetzt. Ein kaiserliches Dekret zwingt sie zur Reise nach Bethlehem, so erzählt es uns Lukas. Auf Marias Schwangerschaft wird dabei keine Rücksicht genommen. Als die beiden in Bethlehem ankommen, bleibt ihnen nur ein Stall als Bleibe, „denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Dort im Stall kommt das Kind zur Welt. Das ist nicht so romantisch, wie wir uns das oft vorstellen und es in unseren Wohnzimmerkrippen aussieht. Im Stall ist es kalt und schmutzig – man mag sich nicht vorstellen, was Maria während der Geburt durchmachte. Doch Maria bekommt das Kind auf die Welt, das Neugeborene wird in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe für Tiere gelegt. Welch ärmliche Verhältnisse! Für Maria und Joseph ist es eine Erfahrung größter Gefährdung und extremen Ausgeliefertseins. Nur knapp schrammen sie an einer Katastrophe vorbei.

Weihnachten bewegt die Menschen. Die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem hatten sich auf eine ruhige Nacht eingestellt. Doch daraus wird nichts. Mitten in der Dunkelheit wird es hell. Der Engel Gottes tritt zu ihnen, sie werden von göttlicher Klarheit umleuchtet. Für uns, die wir die Geschichte kennen, ist der Auftritt des Engels etwas Schönes, für die Hirten war er zunächst aber ein gewaltiger Schrecken. Strahlendes Leuchten mitten in der Nacht. Die Hirten „fürchteten sich sehr“ – so beschreibt Lukas die Reaktion der Hirten. Aber es bleibt nicht beim Schrecken. Der Engel bringt die Freudenbotschaft: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Da löst sich die Erstarrung der Hirten und sie geraten in Bewegung. Sie sind ergriffen von der Botschaft und vom Licht der Engelschar und wollen „die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.“ Schnell machen sie sich auf und finden „Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen“ im Stall von Bethlehem. Die Erwartung der Hirten wird nicht enttäuscht, der nächtliche Aufbruch hat sich gelohnt. Was sie von den Engeln gehört und im Stall gesehen haben, hält die Hirten weiter in Bewegung: „Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.“ Die Hirten werden zu den ersten Boten der Christusbotschaft. Sie halten die weihnachtliche Bewegung in Gang und sind die Evangelisten der ersten Stunde.

Weihnachten bewegt die Menschen, aber nicht nur die Menschen, auch die Engel im Himmel geraten in Bewegung. Zunächst ist es nur ein Engel, der vom Himmel herab aufs Hirtenfeld nach Bethlehem kommt. „Fürchtet euch nicht!“, sagt der Engel. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“. Doch kaum hat der eine Engel seine Botschaft verkündet, hält es auch die übrigen Engel nicht mehr. Das ganze Engelsheer setzt sich in Bewegung und bevölkert das Hirtenfeld von Bethlehem. Die Menge der himmlischen Heerscharen tritt auf, alle guten Geister Gottes sind da. Sie bilden einen Chor, der die Welt mit himmlischem Gesang erfüllt. Sie loben Gott, der die Welt verwandelt und mit Weihnachten einen Neuanfang setzt. „Ehre sei Gott in der Höhe“ singen die Engel. Sie verkünden den Frieden Gottes „bei den Menschen seines Wohlgefallens“. An Weihnachten setzt sich der ganze Himmel in Bewegung, diese Bewegung erfüllt die Erde und breitet Hoffnung und Frieden aus.

Weihnachten bewegt die Menschen. Weihnachten bewegt ganz besonders Maria. Was die Hirten wohl berichtet haben? Sicherlich haben sie von den Engeln auf dem Feld und ihrer wunderbaren Botschaft erzählt. Von Maria heißt es: Sie aber „behielt all diese Worte (der Hirten) und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Das ist die Stelle, die mich am Weihnachtsevangelium besonders berührt. Maria hört genau zu, sie ist aufmerksam und achtsam, so würden wir heute sagen. Obwohl sie gerade eine Geburt unter besonders schwierigen Umständen hinter sich gebracht hat, ist sie nicht mit sich selbst beschäftigt, sondern offen für das, was die Hirten erzählen. Ihr Herz wird davon ergriffen und erfüllt. Maria lässt den Wärmestrom in ihr Herz, sie ist empfänglich für das Wunder der Heiligen Nacht, für die Liebe inmitten der Kälte und Dunkelheit. Vielleicht erinnert sie sich an das Magnificat, das sie nach der Ankündigung der Geburt gesungen hat: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.“ Die junge Maria sieht sich von Gott wahrgenommen und beachtet – Gott hat große Dinge an ihr getan (Lk 1,49). Sie weiß und fühlt: Gott geht wohlwollend und barmherzig, in verschwenderischer Liebe und Güte mit uns Menschen um, Gott will nicht unseren Schmerz, sondern unser Glück. 

An Weihnachten bewegen sich nicht nur Menschen und Engel, auch die Worte und Herzen geraten in Bewegung. An Weihnachten breitet sich ein ganz eigener Zauber aus. Ganz am Rande der damaligen Zivilisation, beim jüdischen Volk, von römischen Besatzungstruppen geschunden, mitten im Elend eines Stalles und mit ärmlichen Hirten als Zeugen beginnt die Welt mit der Geburt des göttlichen Kindes neu zu werden. In der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Neugeborenen strahlt diese andere Welt auf, auf die die Menschen warten, die Welt ohne Krieg und Hass, die Welt ohne Hunger und Unterdrückung, die Welt, in der Kinder behütet groß werden können. All das scheint im Stall von Bethlehem auf, ganz zart und vorsichtig, sehr unscheinbar und in jeder Hinsicht gefährdet. Marias Herz wird davon berührt und verwandelt. Und auch die Hirten geraten in Bewegung.

Weihnachten bewegt die Menschen. Auch Sie haben sich von Weihnachten in Bewegung setzen lassen. Seit Wochen waren Sie und wart Ihr unterwegs, um Geschenke zu besorgen und das Fest vorzubereiten. Und jetzt sind Sie und seid Ihr zum Gottesdienst in die Kirche gekommen. Die Bewegung von Weihnachten hat auch Sie und Euch ergriffen und hierher in den Gottesdienst geführt. An Weihnachten werden wir hineingenommen in die Geschichte von der Geburt des Heilands. Mit den Hirten zusammen gehen wir nach Bethlehem und sehen das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Wir hören auf den Gesang der Engel und stimmen ein in den Gesang ihrer Lieder.

Lassen wir uns dabei anstecken von Gottes neuer Welt. Vertrauen wir diesem kleinen, gefährdeten und zerbrechlichen Anfang im Stall von Bethlehem. Seien wir bereit, unser Herz zu öffnen und uns bewegen zu lassen von Gottes zarter, verwandelnder Macht.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Prof. Dr. Isolde Karle

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Christnacht und damit einer der Höhepunkte im Kirchenjahr. Anders als bei der Christvesper kommen Menschen in den Gottesdienst, die die Weihnachtsfeier im engeren Sinn schon hinter sich haben und gerne nochmals zuhören und nachdenken und sich vom weihnachtlichen Glanz berühren lassen wollen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Weihnachten bewegt die Menschen – diese Predigtidee, die mein Mann vor zwei Jahrzehnten entwickelte und zu einer Weihnachtspredigt ausarbeitete, hat mich sehr inspiriert. Ich habe das Skript übernommen und überarbeitet. Deshalb ist es auch eine gemeinsame Predigt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das bewegende Moment von Weihnachten – im konkreten Sinn, weil so viele Menschen zusammenkommen, aber natürlich vor allem im übertragenen Sinn: Weihnachten bewegt mein Herz, insbesondere Maria, die die Worte der Hirten achtsam und offen in ihrem Herzen bewegt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Mann und ich haben das Schlussmanuskript wechselseitig redigiert. Dadurch ist die Predigtidee nochmals klarer geworden.

Perikope
24.12.2023
2,1-20