Wenn Trümmer zum Trost werden – Predigt zu Jesaja 66,10-14 von Stephanie Höhner
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
Staub legt sich auf seine Schuhe, bei jedem Schritt, den er geht. Skelette von Hochhäusern ragen rechts und links in den Himmel. Zersprungene Fensterscheiben, eingestürzte Häuser, Berge von Schutt am Straßenrand. Faris geht jeden Tag diese Straße entlang. Über zehn Jahre war das sein Arbeitsweg. Dann kam der Krieg und hat die Stadt in Schutt und Asche gelegt. Faris ist mit seiner Frau und den drei Kindern auf‘s Land zu Verwandten geflohen. Seit ein paar Monaten ist er wieder zurück. Alleine, noch. Seine Frau und seine Kinder möchte er später nachholen.
Faris geht vorsichtig die Straße entlang. Spitzen Steinen und Glassplittern weicht er aus. Diese Straße ist wieder sein Weg zur Arbeit geworden. Die Straße führt an den Rand der Stadt, nach 40 Minuten Fußweg kommt Faris an der Seifenfabrik an. Seit ein paar Monaten darf er wieder hier arbeiten. Faris drückt die Stempel in die Seifenstücke, „original Aleppo-Seife“. Wie früher, als Aleppo noch eine bunte und laute Stadt war. Jetzt ist sie grau und oft gespenstisch still. Die Häuser fast alle leer, die Gesichter auf den Straßen auch. Trotzdem ist Faris zurück gekommen. Die Sehnsucht nach seiner Stadt war zu groß. Er hat viele Tränen geweint über sein Aleppo. Jeden Tag, den er fern ab auf dem Land gelebt hat. Heute weint er immer noch. Über seinen Bruder, der hier von einer Granate getötet wurde. Über seine Cousine und deren kleine Tochter, die in ihrem Haus verschüttet wurden. Über die alte Schule am Ende seiner Straße, die jetzt ein einziger Schutthaufen ist. Faris ist zurück gekommen in sein Aleppo, voller Sehnsucht nach seiner Straße mit den Café und Geschäften, dem frisch gebackenen Brot vom Bäcker neben an, dem Duft nach Oliven und Lorbeer, aber auch mit trauerndem Herzen.
Noch bleibt der Ofen von Faris Bäcker an vielen Tagen kalt. Noch wartet er in seiner Wohnung auf fließendes Wasser. Noch kann er seine Familie nicht ernähren von dem Geld, das er in der Seifenfabrik verdient. Noch geht Faris oft mit knurrendem Magen schlafen. Seine Nachbarn auch. Doch sie sind hier, weil die Sehnsucht sie getrieben hat. Die Sehnsucht nach ihrem Aleppo, den grünen Parks und dem Duft nach Oliven und Lorbeer.
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
Nach und nach kommen sie zurück. Manche von weit her, manche nur hundert Kilometer entfernt von Jerusalem. Sie kommen zurück, voller Sehnsucht, aber auch mit trauerndem Herzen. Fast alles ist anders als früher. Dort, wo der große, prächtige Tempel stand, ist jetzt nur noch ein kleiner Steinbau. Hier sollen sie jetzt beten und ihre Feste feiern. Die Stadtmauer ist ein Wall aus Trümmern, ihre alten Häuser stehen nicht mehr. Die neuen sehen anders aus und in den neuen Häusern leben fremde Menschen.
Viele Jahre haben sie geweint über ihr Jerusalem, als sie in der Ferne gewohnt haben, verschleppt in fremde Länder. Jetzt kommen sie zurück, voller Sehnsucht. Doch sie werden enttäuscht. Das prächtige Jerusalem ist weg, vor ihnen liegt eine verkommene Stadt, grau und fahl.
Sie sind zurück gekommen, stehen in den Trümmern ihrer Sehnsucht und hören vom Propheten Jesaja:
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.
Noch müssen die Häuser erst gebaut werden, in denen sie schlafen werden. Noch müssen die Felder beackert werden, die Körner ausgesät und das Getreide wachsen, bevor sie sich satt essen. Noch müssen die Brunnen gebaut werden, aus denen Wasser sprudeln wird. Noch stehen sie in den Trümmern ihres alten Lebens. Die Sehnsucht hat sie getrieben zurück zu kommen. Die Sehnsucht und die Hoffnung darauf, dass es wieder gut werden wird. Die Worte des Propheten machen ihnen Mut:
Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet‘s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Ich erinnere mich:
Meine Mutter drückt meinen Kopf an ihre Brust und schaukelt mich sanft hin und her. Über meine Wangen kullern Tränen. Das wollte ich nicht, schluchze ich. Ich weiß, flüstert meine Mutter. Neben uns auf dem Küchenboden liegt mein Teller mit der bunten Eisenbahn drauf. Das war mein Lieblingsteller, eigentlich wollte ich nur davon essen. Und nun liegt er am Boden, zersprungen in viele Teile. Er ist mir aus der Hand gerutscht, als ich ihn zum Tisch tragen wollte. Das Stück Nusskuchen liegt zerbröselt zwischen den Scherben. Ich schluchze weiter und bin untröstlich. Und meine Mutter hält mich einfach im Arm, schaukelt mich hin und her und wartet, bis ich mich etwas beruhigt habe. Dann verspricht sie mir, dass wir einen neuen Teller mit der bunten Eisenbahn kaufen werden. Und ein paar Minuten später sitze ich auf ihrem Schoß und beiße in ein Stück Nusskuchen – es war noch genug für mich da.
Am besten hat mich immer meine Mutter getröstet. Sie hat mich in den Arm genommen, ich habe ihr Zitronen-Parfum gerochen und ihre Stimme gehört – das hat mich beruhigt. Bei ihr hatte ich das Gefühl: Jetzt wird es schon wieder gut werden.
Als ich älter wurde, wusste ich, dass nicht immer alles wieder gut wird. Und trotzdem hat meine Mutter mich getröstet. Sie hat ihre Hand auf meinen Arm gelegt oder mich gleich ganz an sich gedrückt. Manchmal waren es nur ihre Worte durch das Telefon oder wie sie mich angeschaut hat, wenn sie mir am Tisch gegenüber saß. Das Parfum ist über all die Jahre das gleiche geblieben. Der vertraute Geruch, die vertraute Stimme, die Erinnerungen an damals, als ich als kleines Mädchen so oft auf ihren Knien gesessen habe, sie mich hin und her geschaukelt hat, bis meine Tränen getrocknet waren – in all dem steckte das Gefühl: Es wir wieder gut werden. Das hat mich ihr Leben lang getröstet.
Jetzt stehe ich an ihrem Grab und bin untröstlich. Die Worte von Jesaja sind weit weg. Aber ich stehe nicht allein am Grab. Es sind viele Menschen gekommen, meine Freunde sind dabei. Sie nehmen mich in den Arm, halten meine Hand und reichen mir ein neues Taschentuch, um meine Tränen zu trocknen. Es ist nicht das gleiche Gefühl wie damals als kleines Mädchen auf dem Schoß meiner Mutter. Und noch kann ich mir nicht vorstellen, dass ich jemals getröstet werden kann. In meinem Leben ist etwas zerbrochen. Das Vertrauen, dass es schon wieder gut werden wird. Das Gefühl, dass Gott mich im Arm hält und mich schaukelt – das fehlt. Doch mit der Zeit wurde es leichter. Nach und nach wuchsen grüne Triebe in meinem Leben. Aus den Trieben sind inzwischen Sträucher und kleine Bäume geworden, ich konnte schon ein paar mal ernten und es gibt andere Menschen, die mich trösten und die ich tröste. Doch den Trost, den meine Mutter mir geben konnte, der fehlt. Manchmal fällt mir das Jubeln und Freuen darum schwer. Aber ich habe wieder ein Ohr für den Jubel und die Freude vom Propheten Jesaja, der ruft:
Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
Mein Trost ist heute die Hand meines Freundes, der duftende Kaffee, den ich mit einer Freundin trinke und sie mir zuhört. Mein Trost sind auch Geschichten wie die von Faris:
Faris kniet auf dem Boden und drückt vorsichtig den Stempel auf die Seifenstücke. In der Halle riecht es nach Oliven und Lorbeer – die Original Aleppio-Seife, die jetzt wieder in die ganze Welt verschickt wird. In seiner Wohnung fehlt noch der Wasseranschluss, trotzdem freut er sich, dass er heute ein paar Seifenstücke mitnehmen darf. Auf dem Heimweg geht er bei seinem Bäcker vorbei. Heute ist der Ofen wieder kalt geblieben, weil der Strom nicht gereicht hat und das Geld nicht für den Generator. Heute bekommt der Bäcker etwas von Faris: ein Stück Aleppo-Seife. Der Duft von Oliven und Lorbeer legt sich auf seine Haut.
Sie wissen, dass es noch dauern wird, bis sie sich in ihrer Stadt wieder satt trinken können. Noch hängt die Brust schlaff herunter. Aber erste grüne Triebe sind schon zu sehen in der Stadt. Und es strömt der Duft von Oliven und Lorbeer umher.
Freuet euch mit Jerusalem und Aleppo und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Lätare als das „kleine Ostern“ eröffnet mitten in der Passionszeit, in der das Leiden Jesu und der Welt bedacht wird, einen Blick auf neues Leben, das hinter dem Leiden und dem Sterben liegt. Die Passiosnzeit konfrontiert uns mit dem Leid – von Jesus, unserem ei-genen und der Welt. Als „Wegzehrung“ gibt uns Lätare schon einmal einen Vorge-schmack auf die Osterbotschaft: neues Leben erwacht – trotz Leid und Sterben. Gerade in der aktuellen Situation, in der Menschen durch Katastrophenalarm und Schutzmaß-nahmen das gewohnte Leben aus der Bahn gerät, erinnert die Predigt an den Trost, den wir bei Gott finden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Satz von Martin Nicol: Eine Predigt soll nicht über Trost reden, sondern trösten. Also erzähle ich Trostgeschichten – Geschichten, die mich trösten und Situationen, in denen ich getröstet wurde.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie Menschen in den Trümmern ihres Lebens, ihrer Stadt wieder anfangen, sich zu freuen – Freude gerade da, wo alles freudlos, Trost gerade da, wo alles trostlos zu sein scheint.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Bilder des Bibeltextes sind so stark, dass ich sie nicht analog als Sprachbilder an-wenden muss, sonder auf den Bibeltext an sich vertrauen kann.
Und generell: Weniger ist mehr...