Rückreise durchs Niemandsland - Predigt zu Jesaja 29,17-24 von Henning Kiene
17Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. 18Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; 19und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. 20Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, 21welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.22Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. 23Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. 24Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.
Wir Geschwister saßen auf der Rückbank unseres Autos. Die Ferien gingen zu Ende. Hinter uns lagen freie Wochen und der Familienurlaub. Wir waren an der Ostsee. „Am Meer“, sagten wir. Mittags nach langem letztem Frühstück ging es los, „nach Hause“. Ich wusste schon jetzt, der Sand und die Muscheln in den Hosentaschen würden noch wochenlang wehmütige Erinnerungen wachhalten. Ich sah das nette Gesicht mit den Grübchen, das Mädchen gefiel mir und die Fußballstunden auf dem Bolzplatz waren klasse. Das lag nun hinter mir. Im Auto fuhren wir durch ein graues Niemandsland. In solchen Momenten sagte mein Vater: „Wird alles wieder gut werden, Ihr werdet schon sehen.“ Seine Stimme klang optimistisch. Dann nannte er die Namen der besten Freunde, auf die ich mich freuen könne. Sogar die Vorzüge der Schule wusste er zu benennen. Und ich stimmte mit ein und wir Geschwister begannen erste Pläne zu schmieden.
Mein Vater war kein Prophet. Aber in grauen Momenten, in diesem Niemandsland zwischen den Zeiten, wusste er die Zukunft anzusagen, das ist Lebenskunst. Es ist Lebenskunst, den Horizont mit Bildern, die optimistisch stimmen, auszumalen. Vater sprach nicht in den vielen Grautönen, die er zweifellos auch ahnte. Er schürte die Vorfreude auf das, was gelingen will. Wir Kinder profitierten von seinem Optimismus und vertrauten ihm. Unser Vater war Kriegskind, er wusste genau, wie schwer die Gegenwart drücken kann. Er lebte lange Jahre hungrig im grauen Niemandsland. Aber er hatte auch erlebt, dass das Bedrückende überwunden wird.
Der Prophet Jesaja spricht im Grau der Gegenwart und wählt hellbunte Farben. In der Zeit gefährlicher Bedrohung, auch durch Krieg, spricht der Prophet vom Heil und malt es in kräftigen Farben an den Horizont. Er sorgt dafür, dass die Gefahren – wenigstens für eine gewisse Zeit – in den Hintergrund treten. Ich höre heute: „Es wird ein Ende haben mit den Tyrannen.“ Und darauf freue ich mich. Ich denke an die Verächter unserer Demokratie und sehe, dass ihre grau-schwarzen Bilder einer müden Einheitswelt ohne Zukunft sein werden. Und mein Herz springt vor Freude, wenn ich in solcher Ödnis höre: „Die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.“ So macht der Prophet Mut für den Schritt in die Zukunft.
Dann sitze ich auf der Hinterbank im Rückreiseverkehr, muss den Feriensommer hinter mir lassen, grüble über all das, was kommen wird, zweifele leise in mich hinein. Und am Steuerrad sitzt einer der sagt: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.“ Und die Stimmung wird gehoben.
Jesaja, der Prophet, spricht präzise und zeigt konkrete Bilder. Er spricht von den tauben Ohren, die hören, den blinden Augen, die sehen werden, von den Elenden, die sich freuen, von den Tyrannen, die vertilgt werden, vom Gericht und dem Ende der Scham. Das sind scharf gestochene Bilder, die zeigt er schon jetzt. Es geht aber nicht nur um die Gehörgänge und das Trommelfell und die Iris und die Pupille, es geht um einen Blick in die Zukunft. Die soll nicht denen gehören, die nur sehen wollen, was kaputt sein könnte, und nur noch hören möchten, was sowieso überall genörgelt wird. Es gibt so viele endlose Schleifen, die durch graues Niemandsland führen. Es geht um die Achtung vor den anderen Menschen, um eine Ahnung von dem herannahenden Heil, das heute offene Augen und weite Ohren braucht. Denn es braucht einen wachen Blick für die Worte des Propheten.
Der Prophet sitzt auf dem Fahrersitz, hält das Lenkrad, er führt sicher durch das Niemandsland einer „alles wird immer schlechter“ Stimmung. Er spricht nicht vom Unheil, das droht, sondern er weitet den Blick in eine lichte Zukunft. Er sagt allerdings auch, dass Gott möglicherweise anders handeln könnte. Gott könnte den Blick auf die Zukunft versiegeln, er könnte die Menschen im Dunkeln sitzen lassen. Das wäre im wahrsten Sinn des Wortes der Weg, der in das Tal der Ahnungslosen führt. Gott könnte uns tatsächlich einen grauen Schleier vor die Augen ziehen und einen Packen Ohropax in die Ohren stecken. Aber Jesaja spricht von dem Heil, das in einer kurzen Weile kommen wird.
Die Federn des Autositzes bohrten sich in die Beine. „Nicht so lange anhalten. Bitte nur eine kurze Pause,“ baten wir auf dem Parkplatz, jetzt wollten wir nach Hause. Ich weiß noch, wie ich einmal – ich war schon etwas älter – mit kräftigem Klopfen den Sand und kleine Muschelreste aus der Hosentasche auf den Parkplatz beförderte. Ich freute mich auf die alten Freunde, den ersten Brief von dem Mädchen mit den lustigen Grübchen. Dass ich mich sogar auf die erste Deutschstunde freute, mochte ich mir selbst nicht so richtig eingestehen.
Propheten ziehen graue Vorhänge, die die Wehmut schließt, beiseite, sie suchen wegweisende Worte und malen Bilder in bunten Farben. Und das neue Schuljahr erschien mir im helleren Licht und gewann schon an Farbe. Meine Gedanken wanderten vom herrlich blauen Meer, dem Strand, den Ferienfußballfreunden und dem Mädchen mit den lustigen Grübchen in den Alltag zurück. Und da tauchte da plötzlich die Verheißung auf, die der Zauber des neuen Schuljahres versprach. Die lange Fahrt mit dem Auto führte durch das Niemandsland, das zwischen all dem Schönen der letzten Woche und den neuen Herausforderungen liegt. Abends kamen wir an, voller Wehmut und voll mit Erwartung.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ende des Sommerferien. Alle kommen an diesem Wochenende zurück. Montag beginnt die Schule!
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke, dass Jesaja – Protojesaja (!) – eine Heilsansage im Sound der Heilsprophetie wagt, obwohl die Fakten gegen ihn stehen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Geschichtliche Fakten sind das eine. Die Heilsgeschichte setzt am anderen Ende an. Manches werde ich von hinten lesen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mir fehlt das Coaching. Schade.
[Hinweis der Redaktion: Im Moment muss die üblich Begleitung der Prediger:innen des Portals durch ausgebildete Predigtcoaches aus organisatorisch-personellen Gründen leider entfallen.]
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Ein Spruch fürs Leben - Predigt zu Jesaja 43,1-7 von Manfred Wussow
1Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. 3Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. 4Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. 5So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, 6ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, 7alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Wenn ich den Satz höre, bin ich glücklich, wenn ich ihn sagen kann, noch glücklicher: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“. Es ist der erste Satz in einem großen Stück! Alle Instrumente stimmen ein. In den Stimmen liegt ein Jubel. Der Auftakt ist grandios. „Fürchte dich nicht!“
Sie kennen den Satz auch? Wie gerne würde ich Sie jetzt fragen! Vielleicht verbinden Sie mit ihm auch Erinnerungen? Nach dem Gottesdienst könnten wir in ein Gespräch kommen! Wir haben hier einen beliebten Taufspruch vor uns. Eltern wählen ihn für ihr Kind. Eine große Verheißung, die am Anfang eines Weges steht. „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Das steht vor eigenen Leistungen, aber auch vor eigenem Versagen. Eine große Freiheit tut sich auf, für die es nur das Wort gibt „Liebe“! Jesaja hat auch das formuliert: „Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe.“ Spricht nun der Herr!
Sammeln wir weiter: Konfirmation. Das ist ein großer Tag für die Familie, aber auch für die Gemeinde. Auf der Urkunde wird auch ein Konfirmationsspruch stehen. Junge Menschen suchen ihn sich aus – oder bekommen ihn geschenkt. Jesaja hat wohl nicht geahnt, dass die Wahl auf ihn fällt.
Wie viele Lebensgeschichten stehen dazwischen, über Jahrhunderte verteilt? Früher war mit der Konfirmation für die meisten Kinder die Kindheit zu Ende. Der „Ernst des Lebens“ begann. Das ist heute zwar anders, aber die Abenteuer, in das eigene Leben hineinzuwachsen, sind nicht einfacher geworden.
An eine Trauung denken wir auch. Zwei Menschen wollen ihr Leben miteinander teilen, durch dick und dünn gehen, schöne und harte Zeiten gemeinsam meistern – bis der Tod sie scheidet. Liebe verträgt keine Begrenzung, kein Haltbarkeitsdatum. Dabei wissen wir, wie zerbrechlich Beziehungen sind. Der gemeinsame Weg kann beschwerlich werden. Mit der Trauung ist ein großer Anfang verbunden, für den wir Gottes Segen erbitten. Eine Traukerze wird überreicht – und im Vorgespräch ein Trauspruch ausgesucht. Viele finden ihn im Internet. Jesaja ist da gut vertreten!
Schließlich drückt dieser Spruch bei einer Trauerfeier oder am Grab eine große Hoffnung aus. Während wir zurückschauen auf ein Leben mit den vielen Facetten und Beziehungen, während wir oft auch mit unseren Gedanken ganz alleine sind, hören wir, was wir uns selbst nicht sagen können: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Es ist wie ein Band, das um ein Leben gelegt wird – oder wie eine Krone, die ihm aufgesetzt wird. Die Grautöne bekommen Farbe. Was im Leben unvollendet bleibt, Fragment, wird von Gott zusammengehalten und in sein Bild von mir, von uns, geformt.
Hanns Dieter Hüsch (1925 bis 2005)[1], das „schwarze Schaf vom Niederrhein“, hat ein Gedicht daraus gemacht:
„Ich bin vergnügt
erlöst
befreit
Gott nahm in seine Hände
Meine Zeit
Mein Fühlen Denken
Hören Sagen
Mein Triumphieren
Und Verzagen
Das Elend
Und die Zärtlichkeit.“
Eine Taufgeschichte
Ich denke jetzt an Olga und Heinrich. Ihre Namen sind nicht echt – ich hätte sie fragen müssen, ob ich ihre Geschichte erzählen darf. Sozusagen auf EKD-Ebene. Vor vielen Jahren schon sind sie aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Ihr Deutsch hörte sich ziemlich alt an, als sie irgendwann im Gottesdienst auftauchten. Dass noch andere Menschen aus ihrer verlassenen Heimat da waren und auf sie zu warten schienen, hat ihnen sichtlich gutgetan. Sie kamen immer öfter. Nur zum Kaffee blieben sie nicht. Wollten sie nur unter sich bleiben? Hatten sie Angst vor den anderen? Fühlten sie sich fremd?
Aber dann war da der Wunsch: Wir möchten getauft werden. Beide hatten schon graue Haare. Und ein bewegtes Leben hinter sich. Ein Glücksfall? Ein Glücksfall! Zum Taufgespräch bin ich zu ihnen gegangen. Wir saßen in ihrem kleinen Wohnzimmer. Sie erzählten. Von Kasachstan, von der Familie, von ihrer Familiengeschichte. Von Verwandten und Freunden, die blieben. Von der Arbeit, die sie einst verrichteten. Vom Aufnahmelager im „Westen“, vom schweren Anfang in der neuen Welt – in unserer Stadt. Vom Gefühl, die falsche Sprache zu sprechen und nicht verstanden zu werden. Von der Angst, nicht Fuß fassen zu können. Einiges, was sie erzählten, kannte ich schon von anderen Geschichten. Sie waren nicht allein. Nachdem die Formalitäten geklärt waren und das Formular zur Anmeldung einer Taufe fein säuberlich ausgefüllt war, mussten wir noch ein Feld ausfüllen: Taufspruch. Wir haben in der Bibel geblättert. Es war wie eine Entdeckungsreise. Glücklicherweise waren manche Sätze, Spitzen-Sätze, dick gedruckt, fielen also auf. Der Versuchung, ihnen etwas zu „empfehlen“, wollte ich nicht erliegen. Die Bibel auf dem Küchentisch, Luther 1912, war wie ein Versprechen.
Bei Jesaja stockten ihre Blicke. „Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Ich sehe noch die Blicke, die die beiden wechselten. Gesagt haben sie nichts. Aber auch so war alles klar: Er ist es, dieser Spruch, dieses Wort!
Wenn wir jetzt Zeit hätten, würde ich Ihnen gerne mehr erzählen, wie unser Gespräch dann verlaufen ist. Es ist ein ziemlich langes Gespräch geworden. Ein paar Schlaglichter dürfen wohl sein. Wir haben den ganzen Text gelesen.
Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.
Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
Die beiden erzählten von Stalin und seiner „Bevölkerungspolitik“, als sie von dem Wasser und dem Feuer lasen. Sie erzählten vom „großen Krieg“. Sie erzählten von bedrohlichen Situationen, die sie erlebt haben, davon, wie eingeschüchtert und ängstlich sie waren und sich nicht wehren konnten. Die große Geschichte ist wie ein Bulldozer über sie hinweggegangen. Wasser und Feuer – Bilder für Zerstörung und Tod. Wir sprachen dann darüber, was die Taufe ist: Ein Hindurchgehen. Eine Passage in das Leben.
Hanns Dieter Hüsch mag jetzt noch einmal zu Wort kommen:
„Was macht, dass ich so fröhlich bin in meinem kleinen Reich?
Ich sing und tanze her und hin, vom Kindbett bis zur Leich.
Was macht, dass ich so furchtlos bin an vielen dunklen Tagen?
Es kommt ein Geist in meinen Sinn, will mich durchs Leben tragen.
Was macht, dass ich so unbeschwert und mich kein Trübsinn hält?
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt wohl über alle Welt“
An einer Stelle lebten die beiden „Taufbewerber“ richtig auf:
Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln,
ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück!
Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde,
alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Was Jesaja wohl dachte? Ich habe den beiden von der großen Heimkehr erzählt, die dem Volk Israel in der Verbannung zugesagt wurde. Das Volk Israel war damals in Babylon. In der Heimat war Jerusalem verwüstet, der Tempel in Schutt und Asche gelegt, Familien auseinandergerissen. Während die Himmelsrichtungen wie Gefängnisse wirken, verkündet der Prophet, dass sie „alle“ wieder nach Hause kommen. Weil Gott es so will, weil er es so sagt. Nein, richtig interessiert waren die beiden nicht, eine alte Geschichte zu hören – sie waren viel zu sehr mitten drin. Sie verbanden mit den Himmelsrichtungen Hoffnungen, dass die vielen Trennungen, die es im Leben von Menschen und Völkern gibt, aufgehoben werden. Keine Angst mehr. Keinen Hass mehr.
Bitte, entschuldigen Sie, ich kann Ihnen nur bruchstückhaft widergeben, was wir bis weit in den Abend hinein in dem kleinen Wohnzimmer bedachten. Als der Taufspruch seinen Platz im Formular gefunden hatte und wir uns verabschiedeten, hat Jesaja gelächelt. Naja, der Jesaja, der uns heute Abend so freundlich und liebevoll begegnet ist.
Der Taufgottesdienst
Am Sonntag darauf feierten wir die Taufe der beiden im Gottesdienst unserer Gemeinde. Es war eine bewegende Szene, als sie am Taufbecken standen und ihre Köpfe sanken. Als das Wasser über ihren Haaren perlte. Sie hatten ihre Namen genannt. Und die Gemeinde hörte: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Olga und Heinrich.
Doch, es war ein Anfang! Aber in diesem Anfang war schon ein ganzes Leben beschlossen. Die Erfahrungen, die nicht verblassen. Die Ängste, die immer wieder hochkommen. Die Hoffnungen, die nicht versiegen.
Wenn ich den Satz höre, bin ich glücklich, wenn ich ihn sagen kann, noch glücklicher: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“. Es ist der erste Satz in einem großen Stück! Alle Instrumente stimmen ein. In den Stimmen liegt ein Jubel. Der Auftakt ist grandios. „Fürchte dich nicht!“
Als Jesaja den Menschen in Babylon eine neue Zukunft ansagte, als die alten Geister noch ihr Unwesen trieben, mussten die vier Himmelsrichtungen – Osten und Westen, Norden und Süden – ihre Abwehrhaltung aufgeben:
Die Söhne von ferne,
die Töchter vom Ende der Erde –
kommt!
Ihr Verloren drüben,
ihr Geschassten dort –
kommt!
Ihr Heimatlosen in der Ecke,
ihr Verfluchten auf der Flucht –
kommt!
Alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen
Und zubereitet
Und gemacht habe.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn.
[1] Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Erinnerung an Hanns Dieter Hüsch. Deutschlandfunk 10. Juni 2018.
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Unnahbar nah - Predigt zu Jesaja 6,1-8 von Martina Janßen
I. Als Kind habe ich es geliebt, auf einer Wiese zu liegen und nach oben in den Himmel zu sehen. Wie eine riesige blaue Leinwand erschien mir damals der Himmel, und die Wolken erzählten Geschichten von Burgen, die sanft auseinanderfielen, von Schafen und Nebelfeen und von Dinosauriern, die langsam dem Horizont entgegen wanderten. Inmitten all dieser Bilder war sie dann plötzlich da, eine kleine Schleierwolke. Wie der Zipfel eines langen weißen Bartes sah sie aus und ich war mir sicher: Da ist der liebe Gott, so nah, dass ich ihn fast berühren und ihn vorsichtig am Bart zupfen kann. Nur ein kurzer Moment an einem ganz normalen Juninachmittag. Dann hatte der Wind die Wolken zerstoben und der liebe Gott war wieder in seinem Versteck irgendwo im unendlichen Blau des Sommerhimmels verborgen. Aber ich habe ihn gesehen, Gott war da, unnahbar nah. Mein kleines Kindergeheimnis. Manchmal ertappe ich mich noch heute dabei, ihn zwischen den Wolken zu suchen.
II. Möchten Sie ihn auch mal sehen? So ganz in echt? Nicht nur auf Gemälden oder Bildern, die die Fantasie malt, sondern von Angesicht zu Angesicht? Dann sind Sie nicht allein. Schon Mose wollte Gott sehen: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen! [...] Und Gott sprach: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ (Ex 33,18-20). Das ist wohl als ein „Nein“ zu verstehen. Nein, du darfst mich nicht sehen, Mose. Aber eines darf Mose dann doch: „Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin. Dann ziehe ich meine Hand zurück und du wirst meinen Rücken sehen.“ (Ex 33,22f). Wenn Gott an Mose vorübergezogen ist, dann darf Mose sich umdrehen und Gott nach sehen, darf Gott hinterher sehen, ihn von hinten sehen. Immerhin. Manche haben mehr als Mose gesehen, mehr als nur Gottes Spuren im Vorübergehen. Jesaja war einer von ihnen.
Jesaja 6,1-8: „In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
Jesaja blickt nicht nur durchs Schlüsselloch in ferne Welten, er steht mitten im himmlischen Thronsaal. Dort sieht er mehr als er ertragen kann: Einen Saum, der den Tempel füllt, himmlische Heerscharen, Rauch und Hymnen, bebende Schwellen – und Gott selbst, „heilig, heilig, heilig“. Jesaja hält seine Vision kaum aus, und die Wahrheit, die dahinter steht, noch viel weniger. Gott zu sehen, ihm zu begegnen, ist nicht ohne. „Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist… (Psalm 24,3f). Wer hat das schon, immer und überall? Wer kann dem Heiligen schon in die Augen sehen? Die Seraphim, jene gewaltigen Engelswesen, die in der Hierarchie der himmlischen Heerscharen nicht gerade unten stehen, jedenfalls nicht. „Mit zwei Flügeln bedeckten sie ihr Antlitz.“ Zu blendend die Herrlichkeit, zu gleißend das Licht, zu hell ist Gott. Wer direkt in die Sonne sieht, wird geblendet, blind, die Netzhaut verbrennt. Wenn es zu hell wird, muss man sich schützen, sei es mit einer Sonnenbrille, sei es mit bloßen Händen oder auch mit Flügeln. Nicht anders ist es mit Gottes Herrlichkeit. Sehenden Auges erträgt man sie nicht. Und Jesaja, der Visionär, der Seher? Er schaut Gott doch – ohne Schirm und Schutz, Auge in Auge, von Angesicht zu Angesicht. Das bleibt nicht folgenlos: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den HERRN Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ Da sind so viel Größe, Licht und Herrlichkeit und und da ist Jesaja – so klein, so schuldig, so unwürdig. Das kann nicht gutgehen. „Denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ (Ex 33,20). Eine Begegnung auf Augenhöhe sieht anders aus. Und doch: Jesaja sieht Gott, aber er vergeht nicht. Seine Schuld wird durch Engelshand gesühnt. Nur so geht es. Des Engels Hand an des Sünders Lippen. Christi Blut für dich vergossen. Gottes Schutz und Schirm, sein Schatten, „dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.“ (Psalm 121,6).
III. Als ich größer wurde, wollte ich mehr über Gott wissen und habe Theologie studiert. Wenn ich Gott mit meinen Augen schon nicht sehen kann, kann ich ihn dann mit meinem Verstand begreifen? Anders gefragt: Wer ist Gott und wenn ja wie viele? Die altkirchlichen Theologen hatten darauf eine Antwort. Aller guten Dinge sind drei. Auch Gott: Vater, Sohn, Heiliger Geist, heilig, heilig, heilig. Die „drei“ steht für Vollkommenheit, für drei Facetten, drei Personen, drei Rollen: Schöpfer, Erlöser, Tröster. Wie ein Vorhang, der drei Falten wirft und doch einer ist. Vater, Bruder, Kraft. Das alles ist Gott – und er ist doch noch so viel mehr. Vielleicht ist ja auch die Dreifaltigkeit letztlich nur ein kleines Gedankenspiel großer Theologen, um das Unbegreifliche begreifbar zu machen? Denn Gott ist immer mehr als das, was wir denken, definieren und deklarieren; immer bleibt etwas verborgen in ihm, immer bleibt etwas unbegreiflich. Martin Luther nannte das den deus absconditus, den verborgenen Gott, den, den weder Herz noch Verstand fassen können, fern und drohend, finster und dunkel, den Gott, der tobt und tötet, prüft und peinigt, den Gott, der diese Welt loslässt und uns allein lässt. Auch das ist Gott. Nicht nur helle Facetten, auch dunkle Seiten, Tabu- und Todeszonen. Da sagen wir nicht wie Jesaja: „Hier bin ich!“, sondern fragen: „Wo bist du – Vater, Sohn, Heiliger Geist? „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2). Da verstummen dann „Heilig, Heilig, Heilig“, „Hallelujah“ und all die Hymnen. Was bleibt ist Schweigen. Und doch – irgendwo am Saum des Schweigens in der Finsternis der Gottverlassenheit erhebt sich Gottes Wort aufs Neue. „Es werde Licht.“ (Gen 1,3). Nie verstehen wir ganz, wir sehen nie klar, immer nur schemenhafte Schatten, flüchtige Bilder, halbfertige Skizzen. So viel wir von Gott auch zu sehen und zu verstehen glauben, wir stochern doch am Ende nur im Nebel. Vielleicht wissen die am meisten von Gott, die nichts wissen. „Negative Theologie“ nennt man das. Gottes Gestalt – so ein anonymer Theologe aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert – „kann weder ein Verstand verstehen, noch wird ein Wort ihn vermitteln können, noch wird ein Auge ihn sehen können, noch wird ein Körper ihn ergreifen können, wegen seiner unergründbaren Größe und seiner unbegreifbaren Tiefe und seiner unmessbaren Höhe und seines unerfassbaren Willens.“ (Tractatus Tripartitus [NHC 1,5] 54,15-24). Auch so geht es von Gott zu reden: Ich sehe ein, dass ich dich nicht sehen kann; ich weiß, Gott, dass ich nichts weiß, dass ich nichts von dir weiß. Und doch preise ich dich. „Heilig, heilig, heilig ist der HERR Zebaoth.“ Klingt paradox, ist aber wahr. Gott ist da, unnahbar nah.
IV. Wir brauchen sie, die großen Visionen der kleinen Propheten, die naiven Kinderbilder und die komplexen Gedankenkonstruktionen, wir brauchen all die Versuche, Gott zu sehen mit den Augen des Leibes und mit den Augen des Verstandes. Das ging schon Jesu Jüngern so. Thomas konnte erst an den Auferstandenen glauben, als er seine Wundmale gesehen und sie ertastet hatte. Erst dann ging es ihm über die Lippen zu sagen, wer Gott ist. „Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ (Joh 20,28f). Wir brauchen Bilder und Gedanken, um uns an Gott heranzutasten, ihn nahbar zu machen. Das ist menschlich, allzu menschlich. Aber das kann nicht alles, das kann nicht das Entscheidende sein. Gott ist anders und immer mehr. All unser Sehen und Verstehen gerät bei Gott an Grenzen. Am Ende kommt es auf den Glauben an, auf das blinde Vertrauen in den, der zu uns gesagt hat: Ich bin da. „Glauben ist das Finden eines du, das mich trägt.“ (Joseph Ratzinger). Von all den klugen Sätzen, die ich gelesen habe, hat sich dieser Satz mir besonders eingeprägt. Getragen von Gott gehe ich durch mein Leben und auch wenn ich meine zu fallen – da ist einer, „welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält“ (Rainer Maria Rilke). Es ist dieser Glaube, der mich auf Gottes Spur setzt, in diesem Glauben finde ich ihn, seine Spuren im Vorübergehen – sei im Spiel der Schleierwolken, sei in einer Berührung, die meine Lippen heilt, sei in den aparten Abstraktionen und grandiosen Gedankengängen der Theologen. Er ist da, unnahbar nah. Im Schatten seiner Herrlichkeit lebe ich und falle nicht. „Hier bin ich, Herr, sende mich.“ (Jes 6,8).
Amen
Das Zitat aus dem Tractatus Tripartitus (NHC 1,5) ist entnommen aus Gerd Lüdemann/Martina Janßen, Unterdrückte Gebete. Gnostische Spiritualität im frühen Christentum, Stuttgart 1997, S. 95.
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Wir warten auf das Happy End - Predigt zu Jes 54,7-10 von Bert Hitzegrad
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!
Liebe Gemeinde!
Ich mag Filme mit einem Happy End! Ja, ich brauche es auch, dieses glückliche Ende, wo Held oder Heldin doch noch siegt, die Welt rettet, die große Welt der Katastrophen oder wenigstens die kleine der zerbrochenen Herzen und der Sackgassen des Lebens. Ich glaube, ich hätte es kaum ausgehalten, wenn ich nicht gewusst hätte, dass die beiden Schwestern Sarah und Yusra Mardini trotz vieler Hindernisse ihr Ziel erreichen – Deutschland, das Land, in dem sie Asyl beantragen. Der Film „Die Schwimmerinnen“ aus dem Jahr 2022 beschreibt eindrucksvoll ihren Weg mit so viel Hoffnung und zugleich mit so vielen Rückschlägen.
Die Schwestern stammen aus Syrien und haben nur den einen Wunsch, ein normales Leben zu führen. Doch sie leben mit der täglichen Bedrohung durch den Krieg. Beide sind große Schwimm-Talente, ihr Vater trainiert sie. Yusra trainiert sogar für Olympia. Bei einem Wettkampf wird die Schwimmhalle von Bomben getroffen, eine Bombe fällt ins Schwimmbecken ohne zu explodieren. Die Vorstellung ist unerträglich, was wäre wenn… die Spannung kaum zu überbieten – aber: Gott sei Dank, es wird ja ein Happy End geben. Die beiden jungen Frauen beschließen, ihr Heimatland zu verlassen. Der Vater lässt es nur zu, wenn der Cousin Nizat sie begleitet. Und so beginnt die bewegende Geschichte der Flucht über das Mittelmeer und auf der Balkanroute, auf der niemand wusste, ob er das Ziel seiner Träume erreichen würde. Ein dramatisches Road-Movie über die Flüchtlingsströme im Jahr 2015. Es ist die wahre Geschichte von Sarah, Yusra und Nizat. Die drei hatten kaum mehr Kraft im überfüllten Schlauchboot auf dem Mittelmeer oder auf der Ladefläche eines Kleinlasters, der sie irgendwo aussetzt, an ein Happy End zu glauben. Doch selbst die Behörden-Hürden in Berlin, das sie überglücklich erreicht hatten, können ihnen die letzte Hoffnung nicht nehmen. Und schließlich steht Yusra auf der Siegestreppe bei den olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro, was dann doch dem Happy End und dem Genre „Film“ geschuldet ist. Tatsache ist aber, dass sie als Mitglied des „Refugeeteams“ an den Spielen teilgenommen hat.
Welch ein glückliches Ende! Ein glückliches Ende – anders als die vielen Geschichten von Flucht und Gewalt, von menschenverachtenden Schleppern und Profiteuren der Not. „Alles wird gut!“ An diesem Strohhalm haben sich die drei festgehalten, als das Boot zu kentern drohte. „Alles wird gut!“ Das Mantra der Zuschauer auf den weichen Sofas vorm Fernseher, die mitfiebern mit den Menschen auf der Flucht, wie sie über meterhohe Zäune klettern, weil Europa sie nicht haben will. „Alles wird gut“ – wie eine kurze Liturgie, in die die damalige Kanzlerin einstimmte, mit dem Credo, das die Gemüter bewegte: „Wir schaffen das!“
Angesichts der Massen an Menschen, die 2015 nach Deutschland kamen, um hier zu bleiben, war es kaum zu glauben, dass dies zu schaffen ist. Aber nur selten endete die Flucht so glücklich wie im Film „Die Schwimmerinnen“. Und doch ist vieles gut geworden, besser als in dem Land, aus dem sie uns gekommen sind. Daran haben auch die ihren Anteil, die damals an den Grenzen standen – mit Decken, heißem Tee und einem guten Wort: „Alles wird gut!“ Und auch, wenn diese Worte nicht in Arabisch oder Farsi waren, sie wurden verstanden und sie gaben neue Hoffnung.
„Alles wird gut!“ Ich würde es gern dem 49jährigen Krebspatienten sagen, damit er die Zuversicht behält, trotz dieser schweren Diagnose – doch ist das nicht billiger Trost?
Ich würde es gern als Willkommensgruß Wolodomir ans Herz legen, der erst seit ein paar Tagen in der Nachbarschaft wohnt – aus dem Donbas geflohen, sein Auto trägt noch Einschusslöcher. Doch ich fürchte seine Frage: „Wann?“
„Alles wird gut!“ So knapp lässt sich das Prophetenwort zusammenfassen, das die Israeliten in dunkelster Nacht in der Geschichte ihres Volkes hören. Sie warten sehnsüchtig auf ein Happy End in ihrem Leiden, da spricht Gott durch seinen Propheten (Jes 54, 7-10):
7Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.
8Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
9Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.
10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
„Alles wird gut!“ Das bedeutet Glauben gegen den Augenschein, Zuversicht, auch wenn alles dagegen spricht, Hoffnung in noch so großer Hoffnungslosigkeit.
Jahre und Jahrzehnte lebten die Israeliten schon in der Verbannung. Die Babylonier hatten das kleine Volk überrollt, die Bewohner verschleppt, den Tempel zerstört, Städte unbewohnbar gemacht – ähnlich wie heute Städte in Tschetschenien, Afghanistan oder in der Ukraine. Orte, an denen die Stimmen derer verhallen, die trösten wollen: „Alles wird gut!“
„Wann wird das sein?“ Wie oft werden die Israeliten an den Wassern Babylons gefragt, geweint, geklagt haben. Wie oft werden sie zum Himmel geschrien haben: „Warum? Warum wir? Wo ist Deine Barmherzigkeit geblieben?“ Diese Fragen haben all diejenigen im Marschgepäck des Lebens, die leiden müssen, deren Leben von Krieg, Unrecht und Gewalt bedroht ist. Die Antworten darauf sind der Versuch, Gott zu erklären.
Warum hat er das Kind, das über die Straße lief, nicht zurückgehalten?
Warum hat der Allmächtige nicht die einstürzenden Häuser festgehalten, als die Erde erbebte und zigtausende unter den Trümmern begraben wurden. Warum musste der Motorradfahrer sterben? …
War es sein Zorn über den menschlichen Egoismus und die so große Gottvergessenheit? Hat er einen Augenblick wegeguckt, geschlafen und nicht aufgepasst … und da war es passiert?
Nicht alles ist gut. Aber wird es gut?
Die Israeliten weinten nicht nur an den Wassern von Babylon, sie klagten nicht nur und suchten nach Antworten auf ihre Fragen, nein, sie erinnerten sich auch: An Noah, der auf dem trockenen Land ein Schiff baute, um der Sintflut zu entkommen, und dem Gott das Versprechen gab: „Nie wieder!“
Eine Katastrophe mit Happy End.
Sie erinnerten sich an Abraham, der aufbrach mit Hoffnung und Zuversicht im Herzen, weil er auf Gottes Wort hörte.
Ein Drama mit Happy End.
Sie erinnerten sich an Mose, der die Israeliten freipresste aus der eisernen Hand des Pharaos und der durch das Rote Meer sein Volk in die Freiheit führte.
Ein Historienspektakel mit Happy End.
Sollten diese „Alles-wird-gut-Erinnerungen“ nicht auch die Hoffnung nähren, dass dieser Weg in die Fremde zu einem guten Ziel führt? Allerdings: Mehrere Jahrzehnte mussten sie warten, bis ein mächtigerer Perserkönig das babylonische Reich zerstörte und die Knechtschaft am Ende war. Auch wenn vieles anders geworden ist – alles ist doch wieder gut geworden.
Das haben auch die Millionen von Flüchtlingen erlebt, die am Ende des 2. Weltkrieges aus Ostpreußen, Schlesien oder Hinterpommern vertrieben wurden, in langen Trecks von Ost nach West zogen, entsetzliche Bilder sehen mussten und ihre Kinder jeden Abend bei klirrender Kälte und mit hungrigen Mägen trösteten: „Alles wird gut!“ Sie haben es erlebt, dass die Berge der Heimat wichen und die Hügel hinfielen. Sie mussten alles zurücklassen und den Neuanfang fern der Heimat wagen. Sie wurden nicht immer mit offenen Armen empfangen, doch in den Gottesdiensten hörten sie dieselben „Alles-wird-gut-Geschichten“ wie früher. Sie sangen inbrünstig den Choral „In dir ist Freude in allem Leide“ und spürten darin neue Hoffnung aufkeimen. Der Gott der Heimat war auch der Gott hier im Westen. Noch kein Happy End, aber der Anfang eines neuen Glücks.
Der Sonntag heute heißt „Lätare“ – übersetzt aus dem Lateinischen bedeutet es: „Freuet Euch!“ Das scheint widersprüchlich zu sein – Leidenszeit, Passion Christi und Freude…? Doch unser Blick ist ein anderer als der der Jünger an Jesu Seite. Sie waren schockiert über den Ausgang der Geschichte mit ihrem Herrn und Meister, sie wollten ihn sogar abbringen von seinem Weg ans Kreuz. Ihnen fehlte der Blick vom Ende her. Denn am Ende steht der Ostermorgen mit dem leeren Grab, am Ende steht die Zusage des Auferstandenen: „Ich werde bei euch sein bis an der Welt Ende. Auch wenn Berge weichen und Hügel hinfallen, ich bin da, an eurer Seite. Alles wird gut!“
Und so leuchtet hier schon ein wenig das Licht der Osterfreude hinein in die Passionszeit – in einigen Kirchen gibt es deshalb für diesen Sonntag Altarbehänge in Rosa. Das Violett der Leidenszeit wird aufgehellt mit dem Vertrauen: Alles wird gut. „Klein Ostern“ wird dieser Tag auch genannt. Fingerzeig für das, was kommt: nach Leiden und Sterben doch ein Happy End!“ Amen .
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
An diesem Sonntag Laetare steht mir die Kerngemeinde vor Augen, die den Kirchenjahreskreis noch bewusst wahrnimmt und entsprechend auch die Passionszeit. Vielen ist die Aktion 7 Wochen Ohne bekannt. Einige sind in der Arbeit mit Geflüchteten engagiert, z.T. mit frustrierenden Erfahrungen bei Behörden etc. Ihnen allen möchte ich an „Klein-Ostern“ ein Stück Hoffnung vermitteln.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich mich habe ich zunächst schwer getan mit der Aktualisierung des AT-Textes. Dann sah ich zufällig den Film „Die Schwimmerinnen“ und erinnerte mich daran, dass ich bei Trauerfeiern für Menschen, die mit dem 2. Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, oft zu Jes 54,10 gepredigt hatte. Damit war mein Thema gefunden! Das österliche Weiß, das am Sonntag Laetare dem Violett der Passionszeit einen „rosa Anstrich“ verleiht, tat meiner Seele und der Predigtvorbereitung gut.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Frage bleibt natürlich, wie in einer konkreten Leidenssituation Hoffnung entstehen kann, damit aus dem Blick auf das „Happy End“ nicht billiges Vertrösten wird. Das ist letztendlich die Grundfrage der täglichen Seelsorge und wird nie aufhören, bis Leid, Krieg und Gewalt tatsächlich ein Ende haben. Bis dahin ist es ein oft auch ein tränenreicher Weg… „In dir ist Freude in alle Leide“ ist ein Blick auf das Leben, der viel Vertrauen braucht und nur aus eigener Erfahrung gelingt.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Zunächst eine wohltuende und wohlwollende Rückmeldung und eine Analyse, die dem Prediger und der Predigt mit ihrem Anliegen völlig gerecht wurde. Ein sachlicher Fehler konnte korrigiert werden, Hinweise auf Satzbau, mehr Punkte als Kommata werden über die konkrete Predigtarbeit hinaus bleiben. DANKE!
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Gott suchen und finden: Eine Schnitzeljagd mit Gott - Predigt zu Jes 55,6-12a von Dorothea Noordveld-Lorenz
Predigttext: Jesaja 55, 6-12a (aus der BasisBibel)
Sucht den Herrn, jetzt ist er zu finden! Ruft zu ihm, jetzt ist er nahe. Der Frevler soll seinen Lebensweg ändern! Wer Böses im Sinn hat, soll seine Pläne ändern und zum Herrn, zu unserem Gott zurückkehren! Der wird Erbarmen mit ihm haben und ihm reichlich Vergebung schenken.
So lautet der Ausspruch des Herrn: Meine Pläne sind anders als eure Pläne und meine Wege anders als eure Wege. Wie weit entfernt ist doch der Himmel von der Erde! So fern sind meine Wege von euren Wegen und meine Pläne von euren Plänen.
Regen oder Schnee fällt vom Himmel und kehrt nicht dahin zurück, ohne die Erde zu befeuchten. So lässt er die Pflanzen keimen und wachsen. Er versorgt den Sämann mit Samen und die Menschen mit Brot. So ist es auch mit dem Wort, das von mir ausgeht: Es kehrt nicht wirkungslos zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will. Was ich ihm aufgetragen habe, gelingt ihm.
Voll Freude werdet ihr aus Babylon fortziehen und wohlbehalten nach Hause gebracht werden.
Auf meinem Schreibtisch steht eine Postkarte: How to find God, „Wie man Gott findet“, steht darauf, und dazu einige Vorschläge wie oder wo man das tun könnte – Gott finden: Schau einer Möhre beim Wachsen zu - hebe Müll auf - schau in den Spiegel - mach Mathe - liebe, auch wenn niemand da ist – spiele!
Und noch einiges mehr.
(Die Postkarte „How to find God“ ist von editionahoi und kann auf der Homepage erworben werden.)
How to find God.
Ich brauche diese Erinnerung, wie ich Gott finden kann, damit ich mich überhaupt auf die Suche mache. In meinem Alltag, im Kleinen wie im Großen, manchmal ganz nebenbei. Ich brauche diese Erinnerung, nach Gott Ausschau zu halten.
Denn Gott steht bei mir nicht zuhause im Bücherregal und wartet darauf, bis ich Gott wie ein Buch aus dem Regal ziehe.
Einerseits erscheint mir das sehr praktisch und bequem, wenn Gott einfach im Bücherregal auf mich warten würde.
Andererseits – wenn ich ehrlich bin, hätte ich wahrscheinlich schon längst vergessen, dass Gott da überhaupt steht und auf mich wartet. Mit Büchern geht mir das ja auch so. Manchmal sogar mit den guten.
How to find God
Einige Israeliten im Exil in Babylon vor über 2500 Jahren brauchten die Erinnerung ebenfalls.
„Sucht den Herrn, jetzt ist er zu finden! Ruft ihm zu, jetzt er nahe!“,
ruft der Prophet Jesaja deswegen seinen Mitmenschen zu, von denen manche aufgehört hatten, Gott zu suchen, geschweige denn auf ihn zu hoffen.
Resigniert und hoffnungslos, weil sie kein Zurück in die Heimat mehr erwarteten und von ihrem Gott vielleicht enttäuscht waren die einen. Andere hatte sich in Babylon gut eingerichtet und Gott vergessen.
Und Jesaja ruft: „Los jetzt! Gott ist nahe, er lässt sich finden. Sucht ihn. Es lohnt sich! Am Ende wartet Gott auf Euch!“
Gott will gesucht – und gefunden werden von seinen Menschen.
Manchmal kommt es mir so vor, als mache Gott eine Schnitzeljagd mit uns.
Legt Spuren und Hinweise, fordert heraus und lockt, immer weiter und weiter, damit wir in Bewegung kommen, genau hinschauen – auf unsere Mitmenschen, in die Welt und manchmal in den Spiegel.
Gott lockt mich immer weiter und weiter, damit ich mein Zimmer, meine Wohnung und das Bücherregal, auch meine gewohnten Ansichten und Pläne, meine Ideen von Gott und der Welt bisweilen hinter mir lasse. Gott suche. Und finde, denn das ist Gottes Ziel – gefunden zu werden. Deswegen beginnt die Gottessuche mit einer Verheißung, die seit Jesaja in der Welt hallt: „Sucht den Herrn, jetzt ist er zu finden! Ruft ihm zu, jetzt er nahe!“
Die Gottessuche, die Schnitzeljagd mit Gott folgt allerdings noch einer anderen eigenen Regel: Gott lässt sich suchen und finden, aber nicht einfangen.
Gott lässt sich nicht festsetzten und aufteilen wie der Schatz am Ende der Schnitzeljagd.
Selbst wenn ich sicher bin, dass ich Gott erwischt und gefunden habe,
selbst wenn ich sicher bin, dass Gott in meinem Leben ist,
lässt Gott sich nicht bei mir zuhause ins Bücherregal stellen.
Auch in Kirchen lässt Gott sich nicht sperren.
Das Suchen und Finden und wieder Suchen und noch einmal Finden – das hört nicht auf mit Gott. Die Schnitzeljagd endet nie.
„Meine Pläne sind anders als eure Pläne und meine Wege anders als eure Wege“,
erinnert Jesaja alle daran, die meinen Gott zu haben.
„Meine Pläne sind anders als eure Pläne und meine Wege anders als eure Wege.“
Der Satz wird oft als Trost gesagt, wenn einem die Sinnlosigkeiten der Welt mit voller Wucht ins Gesicht schlägt, und er wird so zur bloßen Vertröstung. Als ob die Sinnlosigkeit mehr Sinn macht mit Gott. Gott bewahre! Und ich frage mich: Wozu das Suchen und Finden, wenn Gott bloß als Sinngebung in der Sinnlosigkeit herangezogen wird. Welcher Unfall, welche Krankheit, welcher Krieg macht schon Sinn?
„Meine Pläne sind anders als eure Pläne und meine Wege anders als eure Wege.“
Trotzdem macht mir genau dieser Satz Hoffnung bei der Schnitzeljagd nach Gott.
Denn stellen wir uns das einmal andersrum vor:
Eure Pläne sind meine Pläne und Eure Wege sind meine Wege.
Ich bin mir sicher, dass die meisten hier grundsätzlich gute Pläne und Wege haben, vielleicht sogar alle. Und Gott bleibt trotzdem entzogen. Gott sei Dank!
Denn wenn wir ehrlich sind: Wie oft gehen unsere Pläne am Ende doch nicht auf.
Wie zerstörerisch entpuppen sich viele unserer alten Wege für die Schöpfung.
Wie verletzend und brutal sind die Pläne von manchen.
Gottes Pläne und Wege sind andere: Das ist für mich kein Trost, sondern notwendiger Hoffnungsanker: Spielräume eröffnen sich und neue Möglichkeiten werden sichtbar, wo ich im Dunkeln tappe.
Neuanfängen entstehen, wo ich längst am Ende bin. Vergebung wird Wirklichkeit und die Enge öffnet sich zur Weite. Merkwürdige und ungeahnte Wege tun sich auf: Einer davon hat in der Krippe begonnen und am Kreuz geendet.
„Meine Pläne sind anders als eure Pläne und meine Wege anders als eure Wege.“
Gott legt Fährten und Spuren, lässt sich finden und entzieht sich wieder, stellt mir Wegbegleiter an die Seite und lockt mich, zieht mich – immer weiter ins Leben und in die Welt hinein. Und zu sich hin.
Zugegeben, das ist nicht bequem, bisweilen ärgerlich, und manchmal brauche ich davon auch eine Pause. Aber ich glaube es ist das, was es heißt Gott zu suchen und ins Leben zu lassen: in Bewegung sein, hinschauen, entdecken, sich überraschen lassen. Von neuen Möglichkeiten, Begegnungen und Spielräumen – von Gott.
How to find God.
Nur wie? Und wo anfangen, wenn Gott sich dann doch immer wieder entzieht?
Was für Fährten und Spuren legt Gott denn?
Jesaja erzählt davon, wie Gott die Distanz überwindet, wie Gott da ist und sich finden lässt immer wieder aufs Neue.
Wie Gott durch sein Wort wirkt – so wie unsere Worte auch wirken.
Sichtbar, spürbar.
„Regen oder Schnee fällt vom Himmel und kehrt nicht dahin zurück, ohne die Erde zu befeuchten. So lässt er die Pflanzen keimen und wachsen. Er versorgt den Sämann mit Samen und die Menschen mit Brot. So ist es auch mit dem Wort, das von mir ausgeht: Es kehrt nicht wirkungslos zu mir zurück, sondern bewirkt, was ich will. Was ich ihm aufgetragen habe, gelingt ihm.“
Gott lässt sich an seiner Wirkung erkennen.
Denn Gottes Wort verändert.
Wird für manche zum Trost am Grab – in dieser aberwitzigen Hoffnung, dass da am Grab nicht das Ende ist, sondern ein Neuanfang.
Menschen, Vereine und Gemeinden öffnen ihre Häuser und Wohnzimmer, um Kaffee und Zeit, Energie und Wärme zu teilen. Weil sie wissen, wie viele das jetzt brauchen: Wärme und auch Gemeinschaft.
Jugendliche, Kinder (auch Erwachsene) organisieren in ihren Schulen Hilfe für die Ukraine. Sie sammeln Spenden, packen Pakete mit Nudeln, Konserven und Kaffee und sorgen dafür, dass alles auf LKWs verladen wird und in den Kriegsgebieten ankommt.
Für mich sind das Wirkungen von Gottes Wort.
Oft kann ich es nur ahnen und glauben.
Beweisen oder erklären kann ich es nie.
Die Wirkung kann ich nur geschehen lassen.
Spüren und erfahren, mich davon anziehen, locken und überraschen lassen.
Immer wieder.
Gott zieht seine Menschen durchs Leben, legt Fährten und Spuren, überrascht und fordert heraus, lässt uns suchen und sich finden. Das hört nicht auf.
Und manchmal hinterlassen wir auf unserer Suche selbst Spuren von Gottes Wort. Oft, ohne dass wir es bemerken.
How to find God
Mit einer Verheißung fängt die Schnitzeljagd an, die dich auf Gottes Spuren durchs Leben bringt. Und wenn Du das vergisst oder einmal nicht mehr weißt, wo Du anfangen sollst, zu suchen, dann schau doch den Möhren beim Wachsen zu und lass dich von der Schöpfungskraft überraschen. Mach Mathe und staune über die Ordnung der Dinge. Liebe, selbst wenn niemand da ist. Oder schau mal wieder in den Spiegel. Gott wird sich schon finden lassen. Gott hat es versprochen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die drei Lüneburger Innenstadtgemeinden feiern in diesem Winter zum ersten Mal gemeinsam Winterkirche: 2/3 der Gemeinde an dem Sonntag kenne ich also kaum. Mir sind trotzdem einige Personen vor Augen: diejenigen, die genau wissen, wie alles zu sein hat und das auch selbstbewusst vertreten und viele, die umgekehrt auf der Suche sind, was Gott und Glaube (auch Kirche) für sie (noch) bedeuten können, darunter viele Konfirmand*innen mit ihren Familien.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Predigt habe ich „suchend“ geschrieben – das Bild der Schnitzeljagd hat sich erst beim Schreiben ergeben und mich weitergelockt und das Bild, das ich ursprünglich stark machen wollte, vollkommen verdrängt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich ist der Gedanken des nahen und gleichzeitig sich entziehenden Gottes wichtig. Nähe und Distanz, Suchen und Finden gehören gleichermaßen zu Gott und zur Gottesbeziehung. Das macht für mich Lebendigkeit des Glaubens aus.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Fokussierung auf weniger Beispiele, die dafür stärker ausgearbeitet werden, einerseits und die Feststellung, dass in manchen unscheinbaren Sätzen Stärken sind, die ich selber gar nicht gesehen habe.
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Stimmen und einstimmen - Predigt zu Jes 40,1-11 von Christiane Quincke
I. Tränen
»Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott.
Redet herzlich mit Jerusalem, sagt über die Stadt: »Ihre Leidenszeit ist zu Ende, ihre Schuld ist restlos abgezahlt. Denn für all ihre Vergehen wurde sie vom Herrn doppelt bestraft.«
Nimm sie in den Arm, Gott. Nimm sie in den Arm und halte sie fest. Die Mütter und Töchter in Teheran, in Saqqez und Shiraz und Zahedan. Erschossen, weil sie ihre Haare frei wehen lassen. Die Eltern der 16jährigen Mahak Hashemi, die ihre Tochter nur schweigend begraben durften. Die Großmutter von der 7jährigen Hasti Naroui: Sie ging mit ihr zum Freitagsgebet und konnte sie nach einem Tränengasangriff nur noch tot im Schoß wiegen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Und sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.
Nimm sie in den Arm, die Mütter und Töchter aus Kiew und Charkiw und Mariupol. Die die Massengräber öffneten und ihre Söhne und Väter und Töchter identifizierten. Die sich versteckten und doch gefunden wurden von den Folterern. Die ihre Heimat verließen und nun hier um ihre Liebsten bangen.
Nimm sie in den Arm, Gott, und halte sie. Sage zu ihnen: Eure Leidenszeit ist zu Ende.
Ist sie zu Ende?
Nichts wünscht du dir sehnlicher.
Dass Gott auch zu dir herzlich spricht und dich in den Arm nimmt.
Weil auch du manchmal nicht weißt, wohin mit deiner Not.
Weil dich die Tränen der Frauen und Mädchen im Iran und in der Ukraine berühren.
Weil du mit der Großmutter von Hasti weinst.
Und weil deine ganze verdammte Ohnmacht dich erdrückt.
Und vielleicht singst du mit mir:
Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt?
O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal. (EG 7,4)
II. Wüstenbahn
Eine Stimme ruft: »Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn! Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße! Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen. Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach. Der Herr wird in seiner Herrlichkeit erscheinen, alle Menschen miteinander werden es sehen. Denn der Herr selbst hat es gesagt.«
Eine Stimme ruft: Gott kommt und verändert die Welt. Gott kommt und alles gerät in Bewegung. Oder alles stoppt. Jedenfalls ist alles anders.
Gott stellt sich vor die russischen Panzer. Gott nimmt ihren Hijab ab und tanzt auf der Straße. Gott singt „Baraye“, aber verweigert die Nationalhymne eines Terrorregimes.
Gott ist da – gerade dort, wo du ihn nicht vermutest. In der Wüste, im Stall, am Kreuz. Gott steht am Fließband bei Amazon. Putzt die Schultoilette. Friert auf der Parkbank. Trinkt müde einen Kaffee in der Cafeteria der Klinik, bevor es zur nächsten OP geht.
Gott kommt. Gott ist da. Und Gott sei Dank kann das niemand verhindern.
Ich höre diese Stimme. Du auch? Ich möchte dieser Stimme glauben. Mehr denn je.
Und auch wenn es mir schwer fällt, so singe ich leise (und du vielleicht mit):
Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt. Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt. Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht. (EG 16,5)
III. Kraftlosigkeit
Eine Stimme spricht: »Verkünde!«
Manchmal ist sie zu laut, diese Stimme vom Advent. Manchmal will ich nichts als Stille. Alles scheint so vergeblich.
Ich fragte: »Was soll ich verkünden? Alle Menschen sind doch wie Gras. In ihrer ganzen Schönheit gleichen sie den Blumen auf dem Feld. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, wenn der Wind des Herrn darüber weht. Nichts als Gras ist das Volk!«
Ich teile die Worte der Iranerinnen im Netz. Aber wird es ihnen helfen? Ist das Regime nicht doch stärker?
Ich habe Decken für die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine zum Diakoniepunkt gebracht. Aber was nützt das ihren Verwandten?
Ich sehe, wie viel zu viele Menschen zu viel arbeiten.
Ich selber arbeite zu viel. Will Hoffungsworte verkünden und mühe mich mit ihnen ab. Brauche selbst dafür zu viel Kraft.
Kennst du das?
Mich macht das müde. Und sprachlos. Mir fehlen die Worte.
Und es tut mir gut, auch dieses Fehlen in der Bibel zu finden.
(Melodie von „Peacechild“)
IV. Stimme der Hoffnung
»Ja, das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt für alle Zeit.« Steig auf einen hohen Berg, du Freudenbotin für die Stadt Zion! Verkünde deine Botschaft mit kraftvoller Stimme, du Freudenbotin für Jerusalem! Verkünde sie, hab keine Angst! Sprich zu den Städten Judas: »Seht, da kommt euer Gott!
Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Sei eine Freudenbotin. Verstumme nicht.
Wenn du kannst, sei laut.
Aber auch deine leise Stimme ist wichtig.
Vielleicht ist sie brüchig, heiser, zitternd.
Es ist deine Stimme, mit der du zu Gott betest.
Es ist deine Stimme, mit der du ein kleines gutes Wort sagst in einer Welt, die diese guten kleinen Worte so nötig hat.
Es ist deine Stimme, die die Zwischentöne einbringt.
Hab keine Angst, sagt die Stimme.
Hörst du die Stimmen, die rufen: Frauen. Leben. Freiheit!?
Hast du die andere Stimme gehört, die einst rief: Ich habe einen Traum. I have a dream.
Vor 60 Jahren.
Die schwarze Stimme eines Predigers in der Wüste einer rassistischen Welt.
Martin Luther King:
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.
Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück.
Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen.
Sei Freudenbote. Sei Freudenbotin.
Hau einen Stein der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Das Wort unseres Gottes lässt sich nicht aufhalten.
Dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist und unvergleichlich ist und niemand niemand niemand das Recht hat, das anzuzweifeln – das ist stärker als jede Verzweiflung, jedes Verstummen, jede Patrone.
Ein großes Wort. Ein kleines Wort.
Stark genug, um ewig zu sein und eine Welt zu verwandeln.
Licht in der Nacht.
Stimmst du mit ein?
Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht, es hat Hoffnung und Zukunft gebracht; es gibt Trost, es gibt Halt in Bedrängnis, Not und Ängsten, ist wie ein Stern in der Dunkelheit.
IV. Weitergehen
Tröste, tröste sie, Gott.
Nimm die Frauen und Töchter in den Arm, die in Teheran und Shiraz, in Mariupol und Charkiw. Nimm Sabine in den Arm, die um ihre Mutter weint. Und Frida, deren Opa zum Schluss niemanden mehr erkannte.
Trockne ihre Tränen. Schreie mit ihnen.
Tröste, tröste mich, Gott.
Gib mir meine Stimme zurück. Hilf mir, sie zu erheben. Für sie. Für die Welt. Für dich.
Seht, Gott, der Herr! Er kommt mit aller Macht und herrscht mit starker Hand. Seht, mit ihm kommt sein Volk! Die er befreit hat, ziehen vor ihm her. Wie ein Hirte weidet er seine Herde: Die Lämmer nimmt er auf seinen Arm und trägt sie an seiner Brust. Die Muttertiere führt er sicher.«
Darauf hoffe ich, Gott.
Mit dir zünde ich die 3. Kerze heute an.
Mit dir gehe ich durch die Wüste.
Mit dir flüstere ich das kleine, unscheinbare Wort, das so viel Kraft hat.
Mit dir haue ich die Steine der Hoffnung aus dem Berg der Verzweiflung.
Mit dir träume ich von einer Welt, die Platz hat für wehende Haare in Teheran, Frieden in der Ukraine und sichere Häfen für alle.
Von einer Welt, in der auch die kleine, leise Stimme gehört wird.
Und mit dir stimme ich an:
Peacechild, in the sleep of the night, in the dark before light you come, in the silence of stars, in the violence of wars – Savior, your name.
Amen.
Lied: Peacechild / Friedenskind
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe erschöpfte Menschen vor Augen und die, die mit der derzeitigen Nachrichtenlage überfordert sind – und Menschen, die sich vielleicht mit dem Motiv der „Sprachlosigkeit“ identifizieren können und dennoch auf ein „gutes Wort“ warten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass Martin Luther King in seiner berühmten Rede „I have a dream“ den 4. Vers von Jesaja 40 zitierte und aktualisierte (und damit auch kontextualisierte) inspirierte mich dazu, auch die restlichen Verse – ähnlich wie Strophen eines Liedes – zu aktualisieren und direkt in die aktuelle politische Situation sprechen zu lassen. Und: diese Aufteilung in „Strophen“ brachte mich dazu, Liedstrophen dazu zu nehmen….
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Große Worte müssen manchmal auch in ihrer Größe ausgehalten werden. Sie übersteigen – jedenfalls momentan – meinen eigenen Glauben. Diese Ambivalenz wird in Jesaja 40 schön sichtbar – und das darf auch in der Predigt Platz finden.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mir geholfen, etwas von der Schwere, die vorher übermächtig war, wegzunehmen, und ermutigte mich zu Umstellungen meiner Predigtteile, die den einzelnen Strophen zu mehr Kontur verhalfen.
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Altes Lied mit neuem Klang - Predigt zu Jes 49,1-6 von Elisabeth Tobaben
Liebe Gemeinde,
„By the waters of Babylon, there we sat down, there we wept and we remembered Zion ...“ an den Wassern Babylons saßen wir und weinten und dachten an Zion.
Die Gruppe Bonnie M. landete vor Jahren einen riesen Hit mit den alten Worten aus Psalm 137. Vielen dürfte die Melodie noch immer im Ohr sein. „Sie wollen ein Lied von uns“, heißt es weiter, „aber wie sollen wir Gott in der Fremde ein Loblied singen?“
Eine spannende Geschichte steckt hinter diesem Song: Der babylonische Feldherr Nebukadnezar hatte 587 vor Christi Geburt Jerusalem erobert und die Stadt und den Tempel in Schutt und Asche gelegt. Damals waren viele Juden, vor allem die gut ausgebildeten Fachkräfte, von den Siegermächten verschleppt worden, in die babylonische Gefangenschaft. Eigentlich ging es ihnen dort gar nicht so schlecht, im Zweistromland von Euphrat und Tigris. Sie durften sich Häuser bauen, konnten eigene Felder bestellen, sie durften weiter ihren Gott Jahwe verehren, durften mitten zwischen den Gottesdiensten der fremden Religion der Sieger ihre eigenen Feste feiern, ihre religiösen Riten vollziehen. Was fehlte, war der Tempel! Der Ort, an dem sie ihre Opfer darbringen konnten. Den Ort, von dem sie wussten: Hier ist uns Gott besonders nahe, den gab es nicht mehr! Und so schwebte über allem die Frage: Sollen wir uns integrieren? Als Heimatvertriebene, hier wo wir jetzt leben müssen, einheimische Partner*innen heiraten, ein Haus bauen, die Sprache lernen, versuchen, die fremde Religion zu verstehen? Oder sollen wir uns vielleicht doch besser abgrenzen, unter uns bleiben, und damit die Hoffnung auf Rückkehr und Wiederaufbau lebendig halten? Das Heimweh jedenfalls war geblieben, nach Jerusalem, nach dem Berg Zion. Auch wenn sie wussten, dass dort alles kaputt war, nichts mehr so aussah, wie sie es in Erinnerung hatten: Trotzdem sehnten sie sich zurück. An den Wassern Babylons saßen wir und weinten und erinnerten uns an dich, Zion, die Heimat, das Zuhause, den Tempelberg in Jerusalem.
Singen wir es in der Kanonfassung von Don McLean und Lee Hayes.
„Lieder zwischen Himmel und Erde“ Nr. 23 By the waters of Babylon
Einer der Verschleppten ist der Prophet Jesaja. Auch er singt, er findet offenbar in einem alten Lied seine derzeitige Stimmung besonders gut ausgedrückt. Er singt:
1 Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleib an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war
2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt.
3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.
4 Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz, wiewohl mein Recht bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott ist.
5 Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich vor dem Herrn wertgeachtet, und mein Gott ist mein Stärke –.
6 Er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen; sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.
Jesaja erzählt von seinem Auftrag, es scheint ihm äußerst schwer gefallen zu sein, ihn zu erfüllen. Er klingt resigniert: „Ich aber dachte, ich arbeite vergeblich und verzehre meine Kraft umsonst und unnütz!“ Das klingt nach Erschöpfungsdepression, wir würden sagen: Der Prophet leidet womöglich am Burnout-Syndrom, er ist ausgebrannt und leer, nichts geht mehr, alles wird zu viel, die Wogen schlagen über ihm zusammen. Das Gefühl, völlig erfolglos zu sein mit seiner Arbeit, zieht ihn herunter. Er denkt sich: Es interessiert eigentlich keinen, was ich hier mache; keiner hört mir wirklich zu, Israel lässt sich nicht sammeln. Seine Trostversuche laufen ins Leere, er kommt nicht an. Er kann nicht mehr. Dass Jesaja seine Landsleute weinend an den Wassern Babylons sitzen sieht, trägt sicher dazu bei, dass die depressive Grundstimmung auf ihn überspringt. Das kann ja manchmal sehr schnell gehen.
Doch halt – das alles liegt jetzt ja längst in der Vergangenheit! Als er das Lied singt, hat Jesaja seine Krise bereits überwunden! Die große Frage ist – und das könnte für uns heute ja auch interessant sein – wie hat er das denn eigentlich geschafft? Was hat geholfen? Wie ist er wieder herausgekommen aus dem dunklen Loch?
Er erinnert sich. „Was hat denn früher schon einmal geholfen?“, ist die entscheidende Frage und der Weg, die eigenen Ressourcen in den Blick zu bekommen. „Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht“, sagt Jesaja. Ich vermute, er war ein scharfzüngiger Redner, der die Dinge auf den Punkt zu bringen wusste. Eine besondere Begabung! Er erkennt: Es geht gar nicht um enorme Anstrengungen, die ich unternehmen soll... Jesaja weiß: Er hat es mit dem Gott zu tun, „der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht berufen hat...“ Er weiß sich beauftragt, ist nicht aus eigenem Antrieb unterwegs. „Ich habe dich zum Licht gemacht für die Heiden“, sagt ihm Gott, zum Licht für die ganze damals bekannte Welt. Eine entscheidende Eigenschaft des Lichtes ist: Es breitet sich aus, einfach so, ist schon von weitem zu sehen, auch wenn es noch so klein ist. Die Leuchtfeuer an unseren Küsten machen sich das zu nutze, sie warnen Schiffe mit ihren Lichtzeichen davor, der Küste oder den vorgelagerten Sandbänken zu nahe zu kommen.
Dass die Inseln im Text vorkommen, das mag uns heute morgen hier auf der Insel Juist besonders erfreuen. Was es heißt, ein bisschen abgelegen und tidenabhängig schwer erreichbar zu sein, davon können wir ein Lied singen! Diese Inseln vor der Mittelmeerküste, die der Prophet direkt anspricht, stehen allerdings als besonders abgelegene Gegenden für den Rand der damals bekannten Welt. So weit, bis an die Enden der Erde, bis zu den fernsten Völkern und sogar auf die Inseln, soll das Wort des Propheten gelangen, und damit das göttliche Licht. Jesajas Auftrag wird erweitert: Er soll nicht nur die Zerstreuten Israels wieder zusammenbringen, sondern auch noch Licht sein für die Heiden, also auch den Nichtjuden das Heil bringen und die Liebe Gottes.
Für die Verschleppten gibt es plötzlich wider Erwarten doch ein Hoffnungszeichen: Die Perser hatten die Babylonier geschlagen, und der Perserkönig Kyros hatte ein Edikt herausgegeben, das den Jerusalemern im Exil die Rückkehr ermöglichen sollte. So, und als da Jesaja auftritt, nennt man ihn den Tröster, übrigens auch, um ihn von anderen Kollegen mit demselben Namen zu unterscheiden. Er soll seine Leute ermutigen, die Chance zu ergreifen und zurückzukehren nach Jerusalem. „Tröstet, tröstet mein Volk“, mit diesem Zitat beginnen die Aufzeichnungen über ihn. Später wird sich seine Spur verlieren, Jesaja 2. ist offenbar nicht mit den anderen nach Jerusalem zurückgekehrt, es gibt sogar Spekulationen darüber, ob er vielleicht im Exil umgebracht worden sei.
Bis an die Enden der Erde ... Dass das Licht, das von Gott kommt, auch die erreichen kann, die so weit weg sind, das ist das eigentliche Wunder. Manchmal geschieht das einfach, wenn alte Texte plötzlich lebendig werden, alte Lieder ganz neu zu klingen beginnen.
Es ist der 10. November 1989. Ich bin mit meinem Auto unterwegs vom Weserbergland Richtung Duderstadt im Eichsfeld, die Stadt lag damals noch direkt an der Grenze zur DDR. Ich wollte dort JS Bachs h-Moll-Messe mitsingen. Die Straßen sind völlig verstopft, jede Menge Trabis kommen mir entgegen, die Fahrer halten alle die Hand mit dem V-Zeichen aus dem Fenster. Parkplätze gibt es überhaupt nicht mehr, ich muss die letzten gut 5 km zu Fuß zurücklegen, und komme natürlich viel zu spät und mit brennenden Füßen in die Probe. Als ich versuche, mich durch die völlig überfüllte St.-Servatiuskirche auf meinen Platz im Chor durchzukämpfen, intoniert die Kantorei gerade: „Et in in terra pax“ - „Und Friede auf Erden...“ Ich lasse vom Podest aus meinen Blick über die Kirche schweifen, überall sehe ich völlig aufgelöste, tränenüberströmte Menschen, die in genau diesem Text ihre eigenen Hoffnungen entdecken, Frieden und Freiheit. Das gibt es manchmal, dass ein Text, eine Musik aus alter Zeit genau den Nerv der Gegenwart treffen, zum Trost wird und Hoffnung weckt. Friede auf Erden und Freiheit, das war die Sehnsucht der Menschen um die Wendezeit. Und in Duderstadt fanden sie ihre Gefühle und ihre Träume wieder in einer damals etwa 250 Jahre alten Musik!
Es soll ein Licht aufgehen für alle Menschen, und Gottes Heil soll die Enden der Erde berühren. Damit bekommt Jesajas Lied zum Schluss eine ganz große Weite. Ein altes Lied beginnt neu zu klingen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an die Insel- und Urlaubergemeinde auf der Insel Juist. Viele der Gäste sind zu Hause kirchlich engagiert und oft auch theologisch gebildet. Daneben gibt es aber auch Gäste mit einer schwierigen kirchlichen Vergangenheit, die es hier mit der Kirche „noch einmal versuchen“ wollen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Idee, dass es sich bei Jesaja 49 um ein Lied handelt, auch da ich selber gerne singe; und die Idee, das alte Lied durchsichtig werden zu lassen für gegenwärtige Erfahrungen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die eröffnete Weite, die sich als verbindendes Thema auch in anderen Texten dieses Sonntags wiederfindet.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Vor allem die Anregung meines Predigtcoaches, die einzelnen Teile der Predigt gegenüber dem Entwurf noch einmal umzustellen, hat mich besonders inspiriert.
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Ein Lied, das keine Schnulze sein will - Predigt zu Jes 12,1-6 von Frank Nico Jaeger
Zornig im Wald.
Bevor der Tag richtig heiß wird, habe ich mich auf den Weg gemacht. Mein Ziel ist der kühle Wald. Noch schnell ein bisschen Sport, bevor die Hitze kommt. Vor meinem Aufbruch eine Tasse Kaffee und ein schneller Blick in die aktuelle Tageszeitung. Das Titelbild zeigt brennende Bäume. Darüber steht: Höchste Waldbrandgefahr.
Oben im Wald treffe ich dann auf zwei rauchende Frauen. Die beiden sind vertieft in ihr Gespräch und aschen automatisch die verbrannten Teile ihrer Zigaretten auf den ausgetrockneten Waldboden.
Was ist denn hier los? Hinter mir ist eine dritte Frau aufgetaucht und baut sich jetzt vor den Raucherinnen auf. Ob diese nicht wüssten, dass man im Wald nicht rauchen soll. Erwischt! Eine versucht noch, etwas zur Ehrenrettung zu stammeln. Bloß, es nützt nichts. Die unbekannte Frau ist schon wieder auf dem Rückweg, sagt laut etwas von „unverantwortlich“ und „so dumm kann kein Mensch sein“ und schüttelt dabei energisch mit dem Kopf. Als sie an mir vorbeigeht, ruft sie, ich bin eigentlich nicht so, aber ich kann auch anders.
Ich bin eigentlich nicht so.
Mit mehr Wucht hätte der Tag nicht beginnen können. Meine Sympathie gehört der zornigen Frau, die so schön geschimpft hat, morgens im Wald. Ich mag den Wald. Schon immer und die aktuelle und anhaltende Trockenheit macht mir Sorgen. Schwer nur zu ertragen die großen Schneisen, die die letzten Dürrejahre in ihn hineingefressen haben. Die Bilder von brennenden Wäldern überall auf der Welt machen es nicht besser. Es gibt eigentlich nur noch drei Jahreszeiten, schreibt einer auf Twitter: Winter, Frühling, Feuer. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken.
Und jetzt diese Frau, im morgendlichen Wald, die das ausspricht, was ich denke. Klar hätte sie das netter sagen können, freundlichere Worte wählen können, ruhiger im Auftreten sein können. Aber wozu?
Ich bin beeindruckt: Der offen zur Schau getragenen Achtlosigkeit der Menschen kann man nicht mit Gleichmut begegnen. Und wenn die Vernunft gehört werden soll, dann wird sie laut sein müssen. Zornig werden müssen. Vielleicht sind die Vernünftigen einfach zu leise. Nicht nur in unserer Zeit.
Ich danke dir, HERR, dass du zornig gewesen bist.
Das sind Worte des Propheten Jesaja ben Amoz. Er hat in seinem Leben einige Krisen und Katastrophen erlebt. Hat sie auch alle kommentiert und immer wieder gewarnt. Mal freundlich und leise, mal zornig und laut. Aber nichts hat sich verändert. Jetzt hat er darüber sogar ein Lied geschrieben und singt eine Einladung zum Handeln: Stellt euch vor, wie es sein wird, wenn wir jetzt was ändern.
Und zum Handeln gibt es allen Grund. Die Zeiten sind schlecht: Es droht Unheil aus der Richtung des Großreichs Assyrien, die Menschen machen sich Sorgen: um Haus und Hof, um Hab und Gut, um das Leben selbst. Das Volk steckt fest im Würgegriff des Schicksals.
Aber Jesaja glaubt fest daran, dass die Geschichte trotzdem gut ausgeht. Dass sich das Blatt wendet und es doch einen Ausweg aus dem ganzen Schlamassel gibt. Genau davon handelt sein Lied.
Danken für den Zorn?
Und zu dieser Handlung gehört auch der Dank für Gottes Zorn. Wenn ich bete, danke ich Gott für alles, was er für mich und meine Lieben getan hat. Ich bitte um Schutz und Bewahrung, hoffe auf einen milden Verlauf und darauf, dass mein Tagwerk gelingen möge, bete für Frieden und selbstverständlich habe ich Gott auch schon gedankt, aber noch nie für seinen Zorn. Jesaja ben Amoz schon.
Es gibt eine Geschichte im Neuen Testament, die alle vier Evangelisten beschreiben: Der zornige Jesus im Tempel stößt wütend Tische um. Anfang dreißig randaliert der Gottessohn im Heiligtum, weil er es nicht erträgt, wie die Menschen mit dem Tempel, dem Wohnzimmer Gottes, umgehen. Wessen Tisch durch die Luft fliegt, darf sich getrost provoziert fühlen.
Und Jesus? Der ist verärgert, enttäuscht, wütend über die Uneinsichtigkeit. Ihn ärgert die Unbeweglichkeit, mit der Teile des Volkes auf die altbekannte Botschaft reagieren.
Nicht nach der eigenen Verantwortung und Schuld fragen?
Möglichst immer einen Schuldigen parat haben, der die Prügel kassiert?
Von Nächstenliebe faseln, aber die syrische Familie für den Bus zahlen lassen?
Vor all diesen Problemen steht Gott, zuckt die Schultern und merkt, wie der Zorn in ihm wächst. Was hat er nicht alles versucht. Am Ende hat er sogar mal einen Regenborgen in die Welt gepflanzt, als Zeichen seines guten Willens. Aber auch das geriet bald wieder in Vergessenheit. Dabei ist es nicht seine Schuld, dass Wälder oder Häuser brennen. Er ist nicht schuld an den Kriegen auf dieser Welt und er holzt auch nicht den Regenwald ab. Er ist zornig, weil die Menschen es besser wissen könnten. Verdienen Geld mit Spekulationen auf Grundnahrungsmittel und bauen lieber Sprit statt Getreide auf den Feldern an. Verplempern Trinkwasser in Gartenpools oder aschen gedankenlos auf staubtrockenen Waldboden.
Da soll man nicht zornig werden?
Für Jesaja, den singenden Propheten, ist Gottes Zorn Ausdruck seiner Liebe. Eine Art Wachrütteln, wie ein umgestoßener Tisch im Tempel oder ein lauter Anschiss morgens früh im Wald.
Jesaja ben Amoz ist Realist. Selbstverständlich singt er darüber, dass Gott zornig sein kann. Sein Lied ist keine Schnulze. Sein Lied beschreibt eine andere Seite Gottes. Sein Lied kennt einen Gott, der auch anders kann.
Und Jesaja schreibt ein Lied
Jesus wütet, Gott zürnt und Jesaja singt mit geliehener Hoffnung darüber, dass es besser werden kann.
Dass sich was ändert.
Dass die Vernunft zurückkehrt und sich durchsetzt.
Dass Menschen einsichtig sind und Fehler korrigieren wollen und bei sich selbst damit anfangen.
Und wenn Menschen im dritten Hitzesommer nacheinander achtlos in den Wald aschen, darf man trotzdem die Hoffnung nicht fahren lassen.
Dann darf man auch mal aus der Haut fahren und schimpfen.
Und dabei an Gott denken, der auch zornig werden kann.
Und der eigentlich gar nicht so ist, aber eben auch anders kann.
AMEN.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Am 14. Sonntag nach Trinitatis sind die großen Ferien vorbei und der Sommer klingt aus. Das Freibad hat noch geöffnet, ein großes Volksfest steht endlich wieder vor der Tür. Die, die an diesem Tag kommen, bilden die Kerngemeinde ab. Ein paar Tourist*innen setzen bunte Farbsprenkler in das ansonsten überwiegend beige Grundrauchen. Es wird ein typischer Sonntag sein, Mitte September.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Wald brennt. In Europa, Amerika und Asien. Zeitgleich laufen Menschen durch die Welt und aschen auf den staubtrockenen Boden. Ich begreife das nicht und spüre Wut, Zorn. Irgendwann muss sich doch was ändern.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesaja singt mit geliehener Hoffnung. Er zapft Gott an, der ist ein Hoffnungsspeicher.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Konzentration und Kürzung.