(14) Flüchtlingsrequiem // Predigt über Jes 58, 6-10 von Dielind Jochims

(14) Flüchtlingsrequiem // Predigt über Jes 58, 6-10 von Dielind Jochims
58,6-10

Jesaja 58, 6-10

6 Nein – ein Fasten, das mir gefällt, sieht anders aus: Löst die Fesseln der Menschen, die man zu Unrecht gefangen hält, befreit sie vom drückenden Joch der Sklaverei und gebt ihnen ihre Freiheit wieder! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! 

7 Teilt euer Brot mit den Hungrigen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! 

8 Dann wird mein Licht eure Dunkelheit vertreiben wie die Morgensonne, und in kurzer Zeit sind eure Wunden geheilt. Eure barmherzigen Taten gehen vor euch her, und meine Herrlichkeit beschließt euren Zug. 

9 Wenn ihr dann zu mir ruft, werde ich euch antworten. Wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: ›Ja, hier bin ich.‹ Beseitigt jede Art von Unterdrückung! Hört auf, verächtlich mit dem Finger auf andere zu zeigen, macht Schluss mit aller Verleumdung! 

10 Nehmt euch der Hungernden an und gebt ihnen zu essen, versorgt die Notleidenden mit allem Nötigen! Dann wird mein Licht eure Finsternis durchbrechen. Die Nacht um euch her wird zum hellen Tag.

 

Liebe Alle, schön, dass ihr da seid. Schön und wichtig.

Licht und Finsternis, das sind nicht nur physikalische Begriffe. Licht und Finsternis, das Bild sagt auch etwas aus über das Klima des Miteinander-Lebens, über Humanität oder fehlende Menschlichkeit. Von Licht in der Dunkelheit lebt dieses Requiem, kleine Lichter entlang der Liste der vielen Toten. 

Licht und Finsternis. Licht in der Finsternis. Oder Finsternis, die wahrhaft dunkel ist. In was für einer Zeit leben wir? Ist es Licht? Ist es dunkel? Und woran messen wir das?

In einer jüdischen Legende fragt ein Schüler den Rabbi: Wann überwindet der Tag die Nacht? Was ist die Stunde des Morgenglanzes? Ist es dann, wenn man ein Schaf von einem Hund oder einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?

Die Antwort des Rabbis: Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und dir ein Licht aufgeht und du erkennst: Ich sehe meine verletzliche Schwester oder meinen verletzlichen Bruder. Bis dahin ist Nacht noch bei uns.

Es sind migrationspolitisch erbärmliche Zeiten. Finstere Nacht. Nicht nur beklagen wir wie jedes Jahr die vielen Toten auf den Migrationsrouten, denen Europa die Rettung verweigert hat. Deutlich wie mir nicht zuvor wird die aktive Bekämpfung.            

Don‘t shoot us! 

Aber es wird geschossen. Auf Helfende und Flüchtende. 

Zwar hat bisher kein europäischer Beamter den Finger am Abzug. Aber die Waffen werden geliefert, die Schützen werden ausgebildet, die Milizen lässt man gewähren. Europa lässt nicht nur sterben. Europa arbeitet für das Sterben. Nicht nur, was die Seenotrettung angeht. Abschottung, Ausgrenzung, Drohungen, Angstmache, Stadtbild-Diskussionen. Nichts von dem macht das Leben heller. Wo wird in das Gesicht eines Menschen geblickt und darin ein Bruder, eine Schwester erkannt? Es wird dunkel. Für Geflüchtete oder Menschen, die aussehen, als könnten sie welche sein. Für die, die als „anders“ gesehen werden. Und im Endeffekt für uns. Für uns alle. Unsere Politik lässt es dunkel bleiben, dunkel werden. 

Und nicht nur die Politik. Die Globalisierung der Gleichgültigkeit in der Gesellschaft, die hatte Papst Franziskus bei seinem Besuch auf Lampedusa 2013 angeprangert. Eine Globalisierung der Ohnmacht sei daraus erwachsen, sagt Papst Leo 2025. Eine Haltung, die angesichts des Gefühls, dass wir doch nichts wirklich tun können, Gefahr läuft, gar nichts mehr zu tun, zu resignieren. 

Und ich denke weiter, es gibt dazu inzwischen auch eine Globalisierung der Abgrenzung, der Feindseligkeit, des Misstrauens. Ob Gleichgültigkeit, Ohnmacht oder Misstrauen. Ich kann sie sogar nachvollziehen, diese Gefühle. Jeder kennt sie vermutlich von Zeit zu Zeit. 

Niemand kann sich alle Not zu Herzen nehmen. Ohnmacht auszuhalten ist schwer, und doch gehört es dazu zu unserem Wirken, zu unserem Leben. Und selbst das Misstrauen, das so zersetzend sein kann, weil wir doch vertrauen möchten und müssen, um in dieser Welt nicht zu verzweifeln, selbst das Misstrauen kann ich manchmal nachvollziehen. Viel Vertrauen ist verloren gegangen in den letzten Jahren. 

Gleichgültigkeit, Ohnmacht, Misstrauen. Sie sind nachvollziehbar, wir alle kennen sie. Nur: Sie machen unsere Welt nicht besser und kein bisschen heller. 

Als Haltung, als Leitsterne, als Licht taugen sie nicht. Wir brauchen etwas anderes. Am besten mindestens genauso globalisiert. Der Prophet Jesaja beschreibt es in einfachen Worten. 

„Löst die Fesseln der Menschen, die man zu Unrecht gefangen hält, befreit sie vom drückenden Joch der Sklaverei und gebt ihnen ihre Freiheit wieder! Schafft jede Art von Unterdrückung ab! Teilt euer Brot mit den Hungrigen, nehmt Obdachlose bei euch auf, und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft, gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt, und verschließt eure Augen nicht vor den Nöten eurer Mitmenschen! Beseitigt jede Art von Unterdrückung! Hört auf, verächtlich mit dem Finger auf andere zu zeigen, macht Schluss mit aller Verleumdung! Nehmt euch der Hungernden an und gebt ihnen zu essen, versorgt die Notleidenden mit allem Nötigen!“ 

Das ist Gottesdienst! Das ist, wie Jesaja sagt „gottgefälliges Handeln“.                        

Freiheit. Sicherheit. Solidarität. Gerechtigkeit. 

Schon vor fast 3000 Jahren war klar, dass SO die Welt, das Miteinander heller werden kann. Nicht mit Othering,  Stadtbilddiskussionen, Sterben-Lassen.

Wir waren vor wenigen Wochen in Spanien, auch auf der kleinsten Kanareninsel El Hierro. Dort landet bei nur 8000 dauerhaften BewohnerInnen die große Zahl der Boots-Flüchtlinge aus Westafrika an, 46000 waren es letztes Jahr. Für die, die El Hierro nicht lebend erreichen, wird auf einem der drei Dorffriedhöfe eine Trauerfeier ausgerichtet, ein Grab bestellt. Neben den Gräbern der Dorfbewohner.                     

Für jeden wird eine Grabplatte, ein Stein gefertigt. Nach dem Namen wird geforscht. Und jedes Mal sind bei den Beerdigungen nicht nur überlebende Familienmitglieder anwesend, sondern Ersthelfer:innen vom Hafen, Besitzer der Restaurants an der Hafenmole, Inselbewohner, der Bürgermeister manchmal. Eine ältere Dame faltet für jedes Grab ein kleines buntes Boot.

Ein bisschen Würde, wenn auch posthum. So wie wir es mit diesem Requiem versuchen. Eine Erinnerung daran, dass jeder dieser Menschen einen Namen, eine Familie, Hoffnungen, Träume hatte. DAS macht unsere Welt etwas heller. Gemeinschaften, die Würde bewahren. Für die Toten - und auch für die Lebenden.

Die meisten Geflüchteten von El Hierro werden nach kurzer Zeit weiterverteilt. Auf der Insel gibt es kaum Perspektiven. Wir haben eine Ausnahme kennengelernt: Omar ist geblieben. Als Minderjähriger kam er von Guinea auf der Insel an und wurde quasi von El Hierro adoptiert. Jeder kennt ihn und grüßt ihn. Omar ist unverzichtbares Mitglied der Ersthelfenden, ist bei jeder Anlandung da. Er spricht 11 Sprachen. Bald will er anfangen, bei der Polizei zu arbeiten. Als Dolmetscher. Für Geflüchtete. Zurückgeben möchte er etwas von dem, was ihm Gutes widerfahren ist, sagt er.

DAS macht unsere Welt etwas heller. Menschen, die zurückgeben, wenn sie Gutes erfahren haben. Die etwas wie ein Licht weitertragen. Vielleicht ist das essentiell dafür, dass Gott durch uns die Welt heller machen kann: Dass wir selbst erfahren haben, wie etwas gut wird. Dass wir selbst Licht in uns spüren. Die Quäker nennen es „das von Gott“, Gott in uns, ein göttliches Licht in jedem von uns. Das befähigt uns zu scheinen. 

Spürt ihr, spüren Sie es manchmal? Dieses Licht? Das es warm macht in uns und heller in Herz und Kopf?

Wir sind alle dazu gedacht zu leuchten. 

Nelson Mandela hat das in seiner Antrittsrede 1994 mit einem Gedanken von Marianna Williamson berühmt gemacht:

Wir wurden geboren, um die Göttlichkeit, die in uns liegt, 

auf die Welt zu bringen.

Sie ist nicht nur in einigen von uns, sie ist in jedem!

Und indem wir unser eigenes Licht strahlen lassen, 

geben wir anderen Menschen unbewusst die Erlaubnis 

das Gleiche zu tun.

Wenn wir von unserer eigenen Angst befreit sind, 

befreit unser Dasein automatisch die anderen.

 

Wunderschön. 

Und gleichzeitig: Dass unsere Welt heller wird, ist ja viel mehr als eine individualistische Tugendethik. Es ist eine gemeinschaftliche Aufgabe, eine gemeinschaftliche Verheißung. Vielleicht ist es schwer, zu glauben, dass das gute Leben für alle möglich ist? Ja. Oft. Aber: Menschen entkamen den Sklavenhäusern dieser Welt, Herrschende wurden von den Thronen gestürzt. Menschen wurden aus dem Meer gerettet, wurden bewahrt vor dem Verhungern und Verdursten in der Wüste. Das war und ist möglich. Und wir kennen doch gar nicht die Grenzen des Möglichen.                

Ich bin mir sicher, das „das von Gott“ in allem, was lebt, wirken kann. Auch in uns. Und es wartet darauf, frei und sichtbar zu werden. 

Amen.

mit morgenroten flügeln - Predigt über Jes 58, 6-11 von Jochen Riepe

mit morgenroten flügeln - Predigt über Jes 58, 6-11 von Jochen Riepe
58,6-11

mit morgenroten Flügeln‘ -  Predigt über Jes 58, 6-11    

Gedenktag des Hl. Martin (Beginn der vorweihnachtlichen Fastenzeit)     

11. November 2025                      

 

  ‚Das aber ist ein Fasten, an dem ich Wohlgefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast. Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg. Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus. Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen‘.                                                                                                                                                                

I

Stellen wir uns vor… in der Frühe das erste Licht im Osten. Noch zögernd erhellt es die Dunkelheit, bald aber legt es uns einen Mantel um und vertreibt die Kälte. Stellen wir uns vor… wir, ja, wir!‚ mit morgenroten Flügeln‘ (J.W. Goethe) lassen los, geben frei und erfahren im Verzicht auf Bemächtigung etwas Neues, ‚Reines‘, ‚Heilung‘.  

                                                                                    

II

Ich nenne sie Madeleine. Die Dame, die ich im Altenheim besuchte, feierte Geburtstag. Die Mitarbeiterinnen hatten sie ‚feingemacht‘. Sie trug eine weiße Bluse. Was für ein dezent-leuchtender, wärmender Anblick. Und: Was für ein Lebenslauf, von dem Madeleine ihrem Besucher erzählte. Von Krieg und Flucht. Von den Mühen des Einlebens im Ruhrgebiet. Vom frühen Tod des Ehemannes, von der Sorge um die Kinder und der Sorge der Kinder um die Mutter.

Alles schwere Themen, und doch war es, als hätten diese Erinnerungen einen geheimnisvollen, neuen Ort gefunden, wären gleichsam entrückt oder fromm gesprochen: In Gottes Hände gelegt worden. Gutgelaunt, soz. ‚im Herzen gereinigt‘ (Apg 15, 9), saß die Erzählerin vor mir, und ich spürte nachher wieder einmal mehr das Geschenk einer Begegnung, in der ‚die Weisheit die Torheit übertraf‘ (Koh 2,13), ja verschwinden ließ.

                                                                            

III 

Fasten‘, fest werden, im Herzen rein werden‘: ‚Lass los … lass ledig die, auf die du das Joch gelegt hast‘ - das ist ein Fasten, das Gott ‚gefällt‘. In den Spuren von Madeleines Lebenserinnerungen bekommen diese energischen Rufe des Propheten eine besondere Nuance oder Klangfarbe. Jenseits der Rituale, der Vorschriften und Traditionen, des in Sack und Asche Gehens mit hängendem Kopf, jenseits all dieser Äußerlichkeiten und manchmal verkrampften Innerlichkeiten geht es ihm um eine Reinigung des ganzen Menschen, um einen Menschen, der frei wird für Gottes ‚Mitteilung‘ und gleichsam eine weiße Bluse tragen darf. 

Lass los … gib frei, ‚die du bedrückst… brich mit den Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus‘, vieles ließ sich damals und lässt sich heute beim ersten Hören unter dieser Ermahnung versammeln. Gewiss sollte ein Reicher in Jerusalem an die Schuldsklaven in seinem Haushalt denken. Oder ein Gutsbesitzer an seine Tagelöhner. Wer zum Tempel ging, sah die Bettler und Hungernden, und heute wird jeder Hörer  an die  Menschen denken, die die Hamas in Geiselhaft hielt: ‚Bring them home now‘. Ja, es gibt eine ethische und politische Dimension des Fastens, an der keiner vorbeikommt, der sich der Stimme des Propheten nicht verschließt.

                                                                              

IV

Aus dem Gespräch mit meiner Jubilarin nehme ich aber noch etwas anderes mit. ‚Reinigung‘, Verzicht, Askese – sie beginnen doch mit etwas Alltäglichem. Ich ‚Tor‘! Oft genug baue ich um mich herum eine Sorgenwelt auf, in die ich die Meinen mit hineinziehe und gleichsam zu Gefangenen meiner Befürchtungen, dieser ‚rotierenden Bangnis‘ (J. Bernig) mache und sie persönlichen, familiären oder kosmischen Untergangs-Phantasien aussetze.  Aber ‚mit selbsteigner Pein‘ (EG 361.2) lässt sich Gott bekanntlich ‚gar nichts nehmen‘.  (Groß)Eltern- , Mutter- oder Vatersorge sind etwas Natürliches, Gegebenes, aber dieses Gegebene bedarf der bewussten Gestaltung, um nicht in einen Zwang umzuschlagen und uns zur zweiten Natur zu werden.

Madeleine hatte vielleicht dies erkannt. Jedenfalls fiel mir auf: Keine Klagen. Keine Vorhaltungen, auch wenn der Besuch der Kinder längere Zeit ausblieb und auch an ihrem Ehrentage nicht möglich war. Sie hatte sie freigegeben, nachdem ihre Tochter ihr einmal sagte: ‚Mutter, wir verreisen, aber gib mir deinen Segen dazu. Belaste uns nicht mit deinen Befürchtungen, mache uns nicht das Herz schwer, denn dann können wir uns nicht erholen‘. Aber auch umgekehrt: Heute, da die Kinder sich Sorgen um sie machen, ob sie gut im Heim betreut würde, ob die Mitarbeiter  freundlich zu ihr seien … da hatte sie ihnen – sichtlich genervt-  versichert: ‚Nun lasst mich doch los. Ich habe einen Mund. Ich melde mich schon, wenn etwas nicht stimmt‘.

                                                                                   

V

Ich glaube, der rosige Glanz der alten Dame, ja, ihre Wärme, ihr Humor und ihre Beherztheit, sind  ein gutes Gegenbild zur Selbstzerknirschung, zum ‚In-Sack-und-Asche-Gehen‘ und zum herabhängenden Kopf, den der Prophet bei den Fastenden in Jerusalem beobachtet und ironisch aufspießt. Dieter Hallervorden könnte es uns vormachen. Zeichen der Trauer und des Verzichts gehören zum Fasten, aber die Frage bleibt ja: Was ist sein Grund, der gute Boden, aus dem es erwächst, und welche Früchte gedeihen auf ihm. 

Reinigung‘, loslassen, freigeben, all dieses als menschliches Ziel und oft ‚menschlich-allzu menschliche‘ Veranstaltung hat ja ihren Grund in Gottes eigenem Handeln, in seinem Ruf: ‚Tröstet. Tröstet mein Volk‘ (Jes 40, 1); in der Freude darüber, dass er die Seinen aus der Gefangenschaft befreit, dass er ‚des Vergangenen‘, der Sünde und Missetat, ‚nicht mehr gedenken‘ will (Jes 65,17), und seinen Bund mit ihnen erneuert. Ja, dem Aufgang der Sonne gleich, sollten sie eine neue Gemeinschaft bauen – unter den Bedingungen ihrer Zeit und diesem Bau die Regel geben: ‚… entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut‘

Die Frage des Rabbis ist ja bekannt: Wann überwindet der Tag die Nacht? Was ist die Stunde des Morgenglanzes? Ist es dann, wenn man ein Schaf von einem Hund unterscheiden kann … wenn man einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann… Wir kennen die Antwort: Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und dir ein Licht aufgeht: Meine verletzliche Schwester oder mein verletzlicher Bruder. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.

                                                                                 

VI

Die Fastenrufe des Propheten, die uns einen ‚St. Martins-Mantel-aus- Licht‘ umlegen,  springen auf diese Weise noch einmal in unsere Zeit und unseren Umgang  miteinander.  ‚Gib frei … lass los…‘ -  das kann man ja auch auf jene ‚Gefangene‘ beziehen, die ich der Lust an Gerüchten und Verdächtigungen folgend oder einfach aufgrund mangelnder Bildung  immer wieder mache. Und nicht nur ich. Die Zeit- oder Mediendiagnose ist ja bekannt: Wir schließen die aus, deren Meinung uns nicht passt. Wir glauben nur die eigene Botschaft. Ja, wir halten soz. die Ohren zu, wenn ‚der‘ spricht.  Ein Abweichler, ein Dissident. Andersdenkende, ‚Querdenker‘ – einst ein Ehrentitel-  werden zu Feinden gemacht. Ein Jurist sieht die Gefahr einer Entwicklung  ‚vom Rechts- zum Einschüchterungsstaat ‘ (V. Böhme-Neßler).

Kann es in einer Gemeinschaft kälter und  - törichter zugehen? Tiefschwarze Nacht herrscht,  wo alles Vertrauen, alle Wahrhaftigkeit und Unvoreingenommenheit  ausgetrieben wurde.  Dabei liegt doch auf der Hand, was diese Dunkelheit erhellen kann: Eine ‚fastende‘ Gemeinde, in der sich die Menschen Gottes zurückhalten und allem Urteilen ein ‚Hören auf‘ unterlegen. Wie klärend, eben reinigend, kann ein zivilisiertes, ‚bürgerliches‘, Gespräch sein, in der die Position des anderen ruhig gehört und bedacht wird, und ich darauf verzichte, Kläger, Richter und womöglich Henker in einem zu sein. Welcher Glanz, welcher Humor kann in den Räumen leuchten, in denen der Andere als zu ‚meinem Fleisch und Blut‘ gehörig anerkannt wird. 

                                                                                

VII

Die alte Dame schloss ihre Erzählungen mit der Bitte um ein gemeinsames Gebet.  Sie, die ‚Weltüberlegene‘, wusste oder lebte es ja: All das, was wir loslassen, muss irgendwo hin und löst sich nicht einfach in Wohlgefallen auf. Trotz aller Bemühungen um Körperhygiene oder seelischer Zerknirschtheit, das, was ich freigebe, braucht ein Gegenüber, ein leidenschaftlich mich liebendes Gegenüber,  und einen Ort, da es angenommen, verarbeitet und endgültig losgelassen wird. ‚Weiße Kleider‘ (Apk Joh 4,4):  Es bedarf der göttlichen Liebes-Arbeit und ‚Mühe‘(Jes 43,24).

Heilung und ‚Festigkeit‘ werden darum dem zukommen, der sein Leben in Gottes Hände legen mag und um Vergebung und Freispruch bittet. Erzwingen lässt es sich nicht, aber empfangen dürfen wir es: Wir, ja: wir! ‚mit morgenroten Flügeln…‘ ‚Martin Luther ist jeden Morgen zur Beichte gegangen. Wir gehen jeden Morgen unter die Dusche‘ (M. Josuttis). Darum: Es ist gut, die Wohltat für den Körper und die für die Seele besser zusammenzuhalten. Wem können wir vertrauen, uns anvertrauen, und wer braucht unser Ohr und möchte uns gegenüber sein Herz öffnen.

                                                                             

VIII

Alle, die Besuche im Auftrag der Gemeinde machen, ahnen es schon, aber weil heute Martinstag ist und traditionell mit diesem Datum das vorweihnachtliche Fasten und Teilen begann, will ich es ausdrücklich machen: Ein Umschlag mit einer Gabe lag auf dem Sideboard im Altenheimzimmer bereit. Madeleine überreichte ihn mir und sagte schlicht: ‚Ist für Brot für die Welt‘: ‚Brich dem Hungrigen dein Brot‘. 

Amen.

 

 

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Jochen Riepe

1.         Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

Die Feier /Andacht am Martinstag  ist in der Regel mit einer  szenischen Lesung oder einer spielerischen Darbietung der Martins-Legende verbunden, die der Gemeinde natürlich im Sinn ist und bleibt. Meine  Predigt nimmt auf Legende bzw. Spiel mit der Mantel-Licht-Motivik möchte aber den Text unter dem Aspekt der ‚Freigabe‘ noch einmal besonders gewichten.

2.         Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

Mich hat es gereizt, einen ‚auratischen‘, ins Licht der Morgenröte getauchten, Jubilarbesuch zum homiletischen Leitfaden (‚Modell‘) zu machen und mit dem Propheten ins Gespräch zu bringen: Fasten als lebenslanges, heilsames Loslassen und Freigeben, das sowohl soziale und politische wie auch persönlich-seelsorgerliche ‚Licht-Blicke‘ impliziert. Daß ich meine (inzw. verstorbene) Jubilarin ‚Madeleine‘ genannt habe, verdankt sich dem Film von Christian Carion: Im Taxi mit Madeleine (F 2022 mit Line Renaud in der Titelrolle).  Die Jubilarin und die Film-Madeleine hätten sich gut verstanden.

3.         Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten? 

In der Zeit der Vorbereitung  bewegte den Prediger so manche Sorge, und es tat ihm gut, sich mit seiner Gemeinde unter die prophetischen Mahnworte zu stellen (als ‚erster Hörer‘) und sich Gottes Verheißung – wie  einst der Bettler- als einen ‚Licht–der-Morgenröte-Mantel‘ umlegen zu lassen, ein Mantel, der die ‚rotierende Bangnis‘ (J. Bernig, Eschenhaus. Roman, 2023, S.21) überwinden hilft. M. Josuttis‘ Satz unterstrich dies gleichermaßen für den Körper und den Geist  (Kraft des Glaubens, S. 42).

4.         Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung? 

Den Hinweis der Predigt-Coachin, Mahnworte und Verheißung (Morgenröte!) aus Jesaja 58 der schriftlichen Predigt voranzustellen (der ja auf der Kanzel als Predigttext des Tages zuvor gelesen wird), setze ich gern um.

Perikope
11.11.2025
58,6-11

Die kleine und große Wallfahrt - Predigt zu Jes 2,1-5 von Christiane Borchers

Die kleine und große Wallfahrt - Predigt zu Jes 2,1-5 von Christiane Borchers
Jes 2,1-5

„Komm Ruth“, ruft die Mutter ihre Tochter, die reisefertig an der Haustür steht. „Wir wollen los, der Weg ist weit, es dauert bis wir in Jerusalem sind. „Ich komme“ hört die Mutter die Stimme ihrer Tochter aus dem oberen Geschoss. Ruth greift nach ihrem Umhang, klemmt sich den Beutel unter dem Arm und rennt nach unten. Vater und Mutter stehen bereit zum Aufbruch, ebenso Joses und Michal, ihre Brüder. Die Familie geht auf Wallfahrt. In Jerusalem wird das Passahfest gefeiert. Es ist gut, rechtzeitig da zu sein, die Familie möchte eine Herberge ergattern und nicht unter freien Himmel schlafen. Ruth darf in diesem Jahr das erste Mal mitgehen. Sie ist alt genug, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Sie weiß Bescheid über die religiösen Bräuche. Die haben ihr Vater und Mutter erzählt. Aber es ist etwas anderes, über die Bräuche Bescheid zu wissen oder sie selbst mitzuerleben. Sie ist furchtbar aufgeregt und freut sich riesig. Sie ist noch nie in Jerusalem gewesen, überhaupt noch nicht in einer Stadt. Sie kennt ihr Dorf, die beiden Äcker, die ihren Eltern gehören und auf denen sie bei der Ernte mithilft. Sie kennt die Weidegründe, wo sie die Schafe und Ziegen zum Grasen hintreiben muss. Sie kennt Nachbarn und Nachbarskinder, Leute, die am anderen Ende des Dorfes wohnen, die genauso leben wie ihre Familie, aber eine Stadt, in der feine Leute wohnen, wo Händler Waren anpreisen, wo Wasserverkäufer durch die Straßen ziehen, wo es vornehme Häuser gibt und einen prächtigen Tempel, in dem Priester den Tempeldienst verrichten, das kennt sie nicht. 

„Los Ruth, beeil dich“, treiben Joses und Michal sie an. Typisch ihre Brüder, die zappelig und ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfen. Der Vater kontrolliert die Fenster, ob sie zu sind, schließt die Haustür ab. Während ihrer Abwesenheit wird Gad, der Mann aus der Nachbarschaft ein Auge aufs Haus haben und nach den Tieren sehen. Gad ist zu alt, um an der Wallfahrt teilzunehmen. Er hat Ruth‘s Eltern von seinem Bäumen Datteln und Orangen mitgegeben, damit sie die Früchte für ihn opfern. Auch Vater und Mutter sind in Vorfreude auf das Passahfest, auf den Tempel und die herausgeputzte Stadt, ebenso die Brüder. Joses durfte im vorletzten Jahr mit, Michal im letzten. Die Familie zieht los.

Nachbarn schließen sich an. Die Gruppe wird größer, weitere Nachbarn und Freunde kommen hinzu. Da sind ihre Freundinnen Susanna und Rabea mit ihren Familien. Susanna und Rabea haben Ruth von weitem entdeckt und winken ihr zu. Einige Männer führen Esel für die Lasten mit, die sie tragen. Sie müssen Wasservorräte mitnehmen, unterwegs sind nicht alle Brunnen gefüllt. Die Menschen sind frohgestimmt und freuen sich auf das Passahfest, aufgeregtes Lachen und Geschnatter begleitet die Reisenden. Das Dorf liegt hinter ihnen. Bald wird es still, jede/r hängt seinen/ ihren Gedanken nach. Ruth ist gespannt wie ein Flitzebogen. Sie wiederholt im Geiste die Frage, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt während den Feierlichkeiten stellen muss „Was ist es, was diese Nacht von den anderen unterscheidet?“ Sie hat sie tausendmal in der letzten Zeit vor sich hin gesprochen. Als jüngstes Kind hat sie das Vorrecht, diese Frage an den Vater zu richten. Der würde mit der Geschichte vom Auszug aus Ägypten beim Passahfest antworten: wie ihre Vorfahren in der Nacht aufgebrochen sind, um vor dem Pharao zu fliehen. In aller Eile hatten sie das Brot gebacken und eingesteckt. Es reichte nur für ungesäuerte Brote, die Zeit drängte. Jeder kennt die Geschichte, trotzdem wird sie immer wieder von Neuem erzählt. Sie darf nicht vergessen werden. Die Israeliten sollen sich erinnern, dass Gott hilft. Ruth findet es großartig, die Geschichte zu hören. Sie gibt dem Leben ein stabiles Fundament und erinnert daran, dass Gott aus Unterdrückung und Unfreiheit herausführt, sagt ihr Vater. 

Die Sonne hat den höchsten Stand überschritten und hat nicht mehr so viel Kraft. Es ist angenehm zu laufen. Zwei Pausen haben sie unterwegs eingelegt. Ruth durfte ein kleines Brot essen und kühles Wasser aus dem Wasserschlauch trinken. Die Esel sind brave Tiere, sie trotten klaglos vor sich hin. Mit jedem Schluck Wasser wird die Last für sie ein wenig leichter. Der Nachmittag bricht an, alle sind müde vom Laufen, es wird Zeit, sich einen Platz für die Nacht zu suchen. Ruth und ihre beiden Freundinnen Susanna und Rabea wählen einen Baum, unter dem sie schlafen möchten. Ihre Familien lagern sich neben sie. Die anderen Familien bereiten sich ebenfalls auf die Nacht vor, einige schlagen ihre Zelte auf. Ruth hat sich eng an Susanna und Rabea gekuschelt, über ihnen der Sternenhimmel. Es ist wunderbar, die körperliche Nähe der Freundinnen zu spüren. Erschöpft und zufrieden schläft sie ein und träumt von der Wallfahrt nach Jerusalem. 

„Temon“ flüstert Ada ihrem Mann zu und dreht sich auf ihrer Schlafmatte ihm zu „schläfst du schon?“ Nein“ antwortet er und drückt sie sanft an sich. Die Sterne leuchten in der Dunkelheit, manche flackern, als ob sie verlöschen wollen. „Der Tag war heute schön, die Kinder sind gut gelaufen, sie schlafen jetzt fest. Der Sternenhimmel strahlt Ruhe und Geborgenheit aus, wenn es doch auch in Juda so friedlich zuginge“ sagt Ada besorgt. „Du machst dir Gedanken“, nimmt Temon den Faden auf. „Ja, wer weiß wie lange wir noch in Freiheit sind, Sanherib, der assyrische König, hat die Macht übernommen, er wird uns nicht mehr lange zugestehen, dass wir unbehelligt unser Leben führen können. Er wird nach jüdischen Häusern, Land und Besitz greifen. Möglicherweise werden wir gar umgesiedelt.“  „Er hält sich zurück“, beruhigt Temon seine Frau. „Jerusalem steht noch, den Tempel rührt er nicht an, wir dürfen ungehindert nach Jerusalem wallfahren.“  „Ja“, sagt sie. Sie will nur zu gern glauben, dass ihrem Volk nichts passiert. Undenkbar, wenn ihren Kindern etwas zustoßen sollte, undenkbar, wenn ihr Mann nicht an ihrer Seite wäre. Sie schmiegt sich fest an ihren Mann. Seine Worte, sein liebevolles Kuscheln, der Sternenhimmel, wiegen sie in einen wenn auch unruhigen Schlaf. Erst in den frühen Morgenstunden verfällt sie in einen erholsamen Schlaf.

In der zweiten Nacht hat Ada einen ungewöhnlichen Traum. Sie träumt: Alle Völker der Erden ziehen gen Zion. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen: aus Norden und Süden, aus Osten und Westen. Sie haben alle das gleiche Ziel: sie wollen auf den heiligen Berg zum Haus Gottes. Von Jerusalem geht Weisung aus für die Welt. Alle Völker sehnen sich nach Frieden und suchen nach Recht. Der Gott Israels spricht Recht unter den Völkern. Jeder Mensch erweist dem anderen Respekt, Schwerter werden zu Pflugscharen geschmiedet, mit denen der Acker gepflügt wird, Spieße wandeln sich zu Sicheln, mit denen das Korn geschnitten wird. Alle Welt preist Gottes Gerechtigkeit. Das Kriegshandwerk lernt keiner mehr. Die Völker sind fröhlich und wandeln im Licht Gottes. Israel wird zum leuchtenden Vorbild für die Völker Welt. 

Wie ein Schleier verschwindet das Bild, als Ada erwacht. Noch nicht ganz wach, aber auch nicht mehr schlafend, spürt Ada dem Erlebten nach. Langsam und etwas verwirrt öffnet sie die Augen. Sie hätte gerne in dieser wunderbaren friedlichen Welt länger verweilt. Unwillig löst sie sich von ihren Traumbildern, erhebt sich und schüttelt ihre Schlafmatte aus.  

Heute ist dritte Tag der Wallfahrt. Heute werden sie Jerusalem erreichen. Ada weckt die Kinder, Temon setzt Wasser auf für den Tee. Die Familie nimmt ein einfaches Frühstück ein, dann macht sie sich auf den Weg. Die wallfahrenden Menschen werden von Tag zu Tag mehr. In Scharen pilgern sie nach Jerusalem zum Passahfest. Und dann sehen sie die Stadt mit dem prächtigen Tempel, der plötzlich hinter den Hügeln auftaucht. Hoch oben steht der Tempel auf einen Berg, unzählige große und kleine Häuser aus Lehm schmiegen sich um ihn herum. Majestätisch glänzt der Tempel in der Morgensonne. Er ist schon von weitem zu sehen. 

Die Augen der Alten beginnen zu leuchten, auch Ada und Temon sind jedes Jahr von neuem berührt, Ruth erlebt den Anblick das erste Mal. Mit offenem Mund starrt sie auf den Tempel, Susanna und Rabea stockt der Atem, alle drei Mädchen sind überwältigt von so viel Erhabenheit und Schönheit. Die Jungs machen sich über das ehrfurchtsvolle Staunen der Mädchen lustig. „Mund zu“ neckt Joses seine Schwester, „Luft holen“, setzt Michal nach und zieht Susanna lachend an den Haaren. Dass auch sie ins Staunen geraten sind ob so viel Macht und Glanz geben sie nicht zu. Sie verstecken sich hinter Witzeleien. Ein paar Stunden, dann werden sie die Heilige Stadt erreichen. 

Die Sonne schickt ihre volle Kraft. Jeder hat mit sich selbst zu tun.  „Ich hatte heute Nacht einen merkwürdigen Traum“ offenbart Ada sich ihrem Mann. „Was hast du geträumt“, fragt er teilnehmend. „ Ich träumte von einer Welt, in der es keinen Krieg gibt. Ich träumte, alle Menschen lebten in Frieden, jeder suche das Wohl des anderen, die Völker wallfahrten in großen Scharen zum Zion, stellten sich freiwillig unter Gottes Wort, wollten begierig seine weisenden Worte hören, sehnten sich nach Recht und Gerechtigkeit. Allen voran zogen die Israeliten zum Heiligen Berg in Zion. Der Traum war eigentlich kein Traum, er wirkte irgendwie real.“ 

Stille, nichts, kein Wort, Temon hat fasziniert zugehört. Vom Friedensreich hat sie geträumt, von Bildern allumfassenden Glücks, Bilder, die der Seele gut tun. Er kann und möchte nicht sprechen, jedes Wort hätte den Zauber zerstört.  Er blickt sie liebevoll an und drückt zärtlich ihre Hand. Schweigend laufen sie weiter bis sie Jerusalem erreichen. Die Stadt ist laut und geschäftig, übertönt den Zauber der Vision, wegwischen kann der Stadtlärm sie nicht. Die Vision hat sich in ihre Herzen eingebrannt. 

Die Kinder wuseln aufgeregt hin und her, machen sich gegenseitig auf noch nie gesehene Besonderheiten aufmerksam: „Guck mal, Säcke voller Granatäpfel“ „Und hier, die bunten Gewürze“ „ Wie es hier duftet“, ruft Susanna und zieht genussvoll den Duft nach Salbei und Thymian über die Nase ein. Temon und Ada schauen sich nach einer Herberge um, wo sie das Passahfest feiern können. Ruth wird ihre Frage zur rechten Zeit stellen: „Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte.“ Temon wird die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählen. Ruth wird aufmerksam zuhören als hörte sie sie zum ersten Mal, selbst die Jungen werden still sein und dem Vater lauschen. Nach dem Fest spricht Temon zu seiner Frau: „Dein Traum erinnert mich an die alte Vision unseres Volkes: die Völker ziehen am Ende der Tage zum Berg Zion, Gott ist  Richter und spricht Recht. Alle Völker wandeln in seinen Licht.“ „Jeder Mensch träumt von Frieden“, fährt Temon fort, „jeder Mensch möchte in Freiheit leben, jeder Mensch sehnt sich nach Gerechtigkeit.  

Ich stelle mir das so vor: Die Wallfahrt, die wir alljährlich machen ist ein Abglanz der großen Wallfahrt. Indem wir uns auf die kleine begeben, üben wir die große ein. Der König von Assur Sahnherib mag uns drangsalieren, unserer Wurzeln berauben und ins Exil schicken. Die eigentlichen Wurzeln sind tiefer, sie reichen weit in die Vergangenheit, in unseren Glauben an einen Gott, der wirkt und sein Friedenreich aufrichtet. Der Glaube an die endgültige Wallfahrt gibt Kraft, mit schlimmen Ereignissen leichter umzugehen. Das glaube ich fest.“ „Das glaube ich auch“, bekräftigt Ada ihren Mann und schließt ihn in den Arm. Es tut so gut, ihm zuzuhören. Sie haben sich, sie haben die Kinder, Nachbarn und Freunde. „Mama, wann gehen wir wieder nach Hause?“ fragt Ruth ihre Mutter. „Heute, mein Schatz“ lächelt Ada beglückt und wickelt das Schultertuch um ihre Tochter. Zufrieden und beseelt machen sie sich gemeinsam mit anderen Familien auf den Rückweg. Amen.   

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin em. Christiane Borchers

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?  
Die Kirchengemeinde, der ich angehöre, steht mir vor Augen. Die Kirche ist aus dem 12. Jahrhundert mit wundervoller Ausstrahlung. Die Kronleuchter sind an auch wenn die Sonne scheint. Das erhöht die Festlichkeit, die aus dem Alltag heraushebt. Der Gottesdienstbesuch ist eher zurückhaltend an einem Sonntag im Sommer, an dem  kein besonderer Anlass begangen wird.  

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?  
Die Vision selbst

3.    Welche Entdeckung wird Sie begleiten?
Wir dürfen/müssen an Visionen festhalten, gerade in schwieriger politischer und/oder in schwieriger persönlicher Situation wie z.B. Martin Luther King: Ich habe einen Traum….

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir hilfreiche Vorschläge unterbreitet, die die Predigt an einigen Stellen flüssiger oder klarer gemacht hat. Ich bin dankbar für das qualifizierte Feedback, das ich sonst kaum bekomme.  

Perikope
10.08.2025
Jes 2,1-5

Gutes Leben für alle? - Gutes Leben für alle! - Predigt zu Jes 55,1-5 von Elke Markmann

Gutes Leben für alle? - Gutes Leben für alle! - Predigt zu Jes 55,1-5 von Elke Markmann
55,1-5

Hunger und Armut sind Realität für viele

Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser, und ihr, die ihr kein Geld habt! Los, kauft und esst! Los, kauft ohne Geld und ohne Preis Milch und Wein!

Unser heutiger Predigttext beginnt mit der Einladung zum guten Leben. „Alle sind eingeladen“ überschreibt die Basisbibel diesen Abschnitt. Die Durstigen und Armen werden angesprochen. Ihnen wird versprochen: Ihr bekommt Wasser, Wein und Milch. Alles, was Ihr braucht und was ihr wünscht. Mehr als das Notwendige! Sogar Milch und Wein.
In vielen Orten gibt es öffentliche Kühlschränke und Verteilstellen für Lebensmittel, die übrig sind. „Too good to go!“ ist eine Initiative, die ermöglicht, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. In einem Kühlschrank wurden vor einiger Zeit jede Menge vegane Aufschnitte zur Verfügung gestellt.
In einer Kirchengemeinde organisiert eine Mitarbeiterin einen Ring von Menschen, die froh sind, wenn andere etwas übrig haben, weil sie zu viel gekauft haben oder die Gäste nicht alles aufgegessen haben. 

Ihr, die ihr kein Geld habt! Los, kauft und esst! Los, kauft ohne Geld und ohne Preis Milch und Wein!

Das gibt es schon!
Aber dann sehe ich auch: Menschen in den Kriegsgebieten der Welt. In Gaza können die Kinder nicht mehr ernährt werden. Medizinische Versorgung gibt es auch nicht. Die Hilfsgüter kommen nicht zu den Menschen. Hilfsorganisationen werden an der Arbeit gehindert.
Weltweit legen Menschen auf der Suche nach Leben weite Wege zurück. Sie fliehen vor Krieg und Gewalt und noch viel mehr vor Ausbeutung und Hunger. Wo finden sie gutes Leben?

Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser, und ihr, die ihr kein Geld habt! Los, kauft und esst! Los, kauft ohne Geld und ohne Preis Milch und Wein!

Das fehlt noch an so vielen Orten der Welt! Im Buch des Propheten Jesaja wird die Realität beschrieben:

Warum zählt Ihr Geld ab, ohne Brot zu bekommen, und euren Lohn, ohne satt zu werden? Hört mir gut zu, und ihr werdet Gutes essen und eure Kehle am Nahrhaften laben. 

Selbst wer Arbeit hat, kann davon nicht leben. So war es damals in vielen Teilen der Gesellschaft. So ist es heute für viel zu viele Menschen. Auch hier in Deutschland gibt es die, die von ihrem Lohn nicht leben können. Auch hier in unserer Gemeinde. 

Jesaja richtet sich an das Volk im Exil

Bei Jesaja hört es sich so an, als gäbe es eine Alternative. „Hört mir zu und kommt her zu mir und ihr werdet leben!“
Ach, wäre das schön, wenn es wirklich einen Ausweg aus Hunger und Armut gäbe, wenn gutes Leben für alle möglich wäre! Da bin ich skeptisch. Wenn das so einfach wäre – warum gibt es dann noch Hunger und Not? Was verspricht Jesaja da eigentlich? Zu wem spricht er?
Der Text ist in einer Zeit entstanden, als es den Staat Israel nicht mehr gab. Das babylonische Reich hatte das Volk besiegt und einige aus dem Volk nach Babylon verschleppt. Sie sahen die Zeit im Exil als Strafe Gottes an. In diesem Teil des Jesaja-Buches wird den Menschen im Exil neue Hoffnung gemacht. Gott ist stärker. Gott wird dem jüdischen Volk eine Zukunft geben. Gott richtet einen Bund mit dem Volk auf. Daran erinnern die nächsten Worte in unserem Predigttext:

Neigt eure Ohren und kommt her zu mir, hört, und ihr werdet leben! 
Ich will mit euch einen dauerhaften Bund schließen, zuverlässige Zuwendung, die ich David erwies. 4 Schau, als Zeugen für die Völker setze ich ihn ein, als Fürsten und Gebieter über Völker. 5 Schau, fremde Völker, die du noch nicht kennst, wirst du rufen, und fremde Völker, die dich nicht kannten, eilen zu dir, um Gottes willen, deiner Gottheit, heilig in Israel ist sie, ja, dich schmückt sie.

Ein Bund zwischen Gott und Israel – Den gab es schon einmal. Den Bund hat Gott schon mit Noah geschlossen, mit Mose, mit Abraham und David. Immer wieder in der Geschichte Israels ist vom Bund Gottes mit seinem Volk die Rede.
Immer wieder hat Israel einen Ausweg aus schwierigen Situationen erlebt. Genau das verspricht Gott hier: Es wird weiter gehen! So verstehe ich diesen Text. Er macht Mut, dass die aktuelle Situation nicht das Ende ist, sondern dass es weiter geht. 
Ja, vielleicht ist das die Lösung, zumindest der Anfang einer Lösung: Der Glaube an Gottes Treue und Gottes Zuwendung, an Gottes Nähe. Gott lässt uns nicht im Stich! So haben es die Nachkommen von Noah und Abraham in der Geschichte immer wieder erlebt. Wenn ich mich daran erinnere, kann ich daraus Hoffnung schöpfen und mit aktuellen Schwierigkeiten umgehen. 

Grundhaltung Gottes

Die Rabbinerin Margaret Moers Wenig hat zu Jom Kippur einmal (1990) über Gott gepredigt. Sie predigte über unterschiedliche Gottesbilder und lud dazu ein, sich Gott als Frau vorzustellen, die älter wird. Eine Frau sitzt am Küchentisch und blättert in alten Fotoalben. Sie erinnert sich an die Geschichten mit den Menschen. Und sie wartet auf die Menschen (eine sehr empfehlenswerte Predigt, hier nachzulesen: https://judentum.hagalil.com/gott-ist-eine-frau/).

Mir gefällt dieses Bild. „Komm her, iss und trink und komm zur Ruhe. Ich bin für Dich da.“ 
Das Gute Leben – da kann ich es finden. „Ich bin da!“ So glaube ich Gott. 
Gott wendet sich den Menschen zu. Ich will mit euch einen dauerhaften Bund schließen, zuverlässige Zuwendung. „Zuwendung“ (Bibel in gerechter Sprache) – in anderen Bibelübersetzungen heißt es „beständige Gnade“ (Luther 2017) oder „Zusagen“ (Gute Nachricht) oder „was ich versprochen habe“ (Basisbibel). Gott wendet sich uns Menschen zu. 
Diese Grundhaltung habe ich schon bei Menschen gespürt. Bei dem Freund, der für mich da war, als alles schwer war. Bei meinen Eltern, die verlässlich da waren, wenn ich sie brauchte. Wo ich fühle und weiß, dass ich gesehen werde und willkommen bin, kann ich Ruhe finden und Zuversicht, Hoffnung für das, was kommt. 
Diese Grundhaltung kenne ich von Gott. So glaube ich Gott: Noch viel größer und verlässlicher, zuverlässiger als Menschen: „Ich bin für Dich da! Du kannst jederzeit kommen.“
Diese Grundhaltung ist Gottes Grundhaltung den Menschen gegenüber. Das verspricht der Prophet den jüdischen Menschen im Exil. Die können sich wieder Gott zuwenden. Sie werden gut leben können. Und das wird ausstrahlen in die Völker. Dann werden auch andere kommen und zu eben dieser Gottheit beten. Alle werden erkennen, dass diese Gottheit stark und gerecht ist und Frieden bringt. 

Grundhaltung im menschlichen Miteinander

Diese Grundhaltung Gottes kann auch auf uns ausstrahlen. Davon bin ich überzeugt. Wenn ich bei Gott erlebe, dass ich jederzeit willkommen bin, kann ich das auch ausstrahlen: Gott ist da, für mich und für Dich! 
Diese Grundhaltung wünsche ich mir für mich. Dass ich anderen einen Ort biete, an dem sie gesehen werden und Zukunft finden.
Diese Grundhaltung wünsche ich mir für das menschliche Miteinander, für Staaten und Länder, für Regierungen und Machthaberinnen und Machthaber. Als der Krieg in der Ukraine begann, erlebten wir hier in Deutschland diese Haltung: Kommt! Wir bieten Euch Zuflucht.
Diese Grundhaltung wünsche ich mir für unsere Kirche. In vielen Gemeinden und Gruppen wird genau das gelebt. Sie wenden sich denen zu, die sie brauchen. Sie sind offen und einladend. Sie verteilen Lebensmittel oder laden zu Begegnungen ein. 
Der dauerhafte Bund Gottes verspricht zuverlässige Zuwendung, so schreibt Jesaja. Zuverlässige Zuwendung ist genau das, was ich brauche. Ich denke, wir alle brauchen genau das: wir brauchen Gott, uns zugewandt und verlässlich, auch durch andere Menschen.
Ich wünsche uns, dass wir glauben und erfahren: Gott wendet sich uns zu.
Das wünsche es allen, die Gottes Nähe dringend brauchen: den Armen und den Hungernden; denen, die unter Gewalt und Krieg leiden; denen, die keine Zukunft sehen. Ich wünsche mir, dass sie, dass wir alle Ähnliches erleben können wie der verlorene Sohn, der mit offenen Armen empfangen wird. 

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde an diesem Sonntag in einer Gemeinde predigen, die vom ehemaligen Bergbau geprägt ist. Zur Gemeinde gehören Menschen aus unteren Einkommensschichten und aus der Mittelschicht. Armut und Arbeitslosigkeit, Migration und Integration sind alltägliche Themen im Ort und in der Gemeinde. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich bin gelockt worden vom Bild des guten Lebens für alle – ohne Voraussetzungen. Erst werden die Menschen eingeladen. Erst dann ist vom Bund Gottes die Rede. Es geht nicht darum, bestimmte Bedingungen einzuhalten, damit gutes Leben gelingt. Gott legt Gutes vor.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die zuverlässige Zuwendung Gottes ist für mich ein anderes Bild als der Bund Gottes. Zuverlässigkeit und Zuwendung sind sehr viel „menschlicher“ und näher als der „Bund“, der sich mehr nach Vertrag als nach Miteinander anhört.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Durch den Lektor bin ich an verschiedenen Stellen dazu ermutigt worden, präziser zu formulieren und auszuschmücken, was mir wichtig ist. Ich meine, dadurch meine Predigt mehr fokussiert zu haben. 

Perikope
29.06.2025
55,1-5

(5) Die Ohnmacht überwinden und Mensch werden // Predigt über Jes 16,1-5 von Heinrich Bedford-Strohm

(5) Die Ohnmacht überwinden und Mensch werden // Predigt über Jes 16,1-5 von Heinrich Bedford-Strohm
16,1-5

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja sind uralt. Aber die Situation, die sie beschreiben, die kennen wir genau. Es ist Krieg in der Region rund um Israel im 8. Jahrhundert vor Christus. Moab, ein Nachbar Israels östlich des Toten Meeres und traditionell mit Israel durch eine Mischung aus verwandtschaftlicher Nähe auf der einen Seite und Konflikten und Rivalitäten auf der anderen Seite verbunden, ist in großer Bedrängnis. Das assyrische Reich breitet sich durch Angriffskriege aus, macht die Nachbarn tributpflichtig. Die Städte Moabs sind gefallen oder bedroht. In ihrer Not schicken sie symbolisch ein Tributgeschenk, ein Lamm, an das benachbarte Israel mit der Bitte um Asyl, um Schutz. 

„‘Schickt Lämmer des Landesherrn von Sela durch die Wüste zum Berge der Tochter Zion!‘ Wie ein Vogel dahinfliegt, der aus dem Nest vertrieben wird, so werden die Töchter Moabs an den Furten des Arnon sein.“ 

Die Fliehenden ziehen Richtung Süden, über den Fluss Arnon, in der Hoffnung irgendwo sicher zu sein. Wie umherirrende Vögel sind sie, verlassen und schutzlos.
Es ist das Zeugnis einer Flüchtlingskatastrophe, die sich da vor rund 2700 Jahren im biblischen Land abspielt. Sie handelt von Gewalt und Unterdrückung, von Autokraten, die über Leichen gehen, und vor allem: von so vielen verzweifelten Menschen, die dieser Gewalt, diesem Unrecht schutzlos ausgeliefert sind.
Es ist ein bedrängender Appel, dem der Prophet Jesaja eine Stimme gibt: „Gib Rat, sprich Recht, mach deinen Schatten am Mittag wie die Nacht; verbirg die Verjagten, und verrate die Flüchtigen nicht! Lass Moabs Verjagte bei dir herbergen, sei du für Moab eine Zuflucht vor dem Verwüster!“
Ja, wir kennen das nur allzu gut. Damals war es ein Prophet, der dem Leiden eine Stimme gegeben hat. Heute sind es Fernsehbilder, die uns aus aller Welt erreichen, die dieses Leiden in unsere Wohnzimmer bringen. Es ist erschreckend, wie sehr das damit verbundene Elend in jüngster Zeit zugenommen hat. Noch vor wenigen Jahren haben wir die ungeheure Zahl von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit beklagt. Heute spricht das UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, von rund 120 Millionen Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder dem kompletten Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung zur Flucht gezwungen sind. Die meisten davon sind Binnenvertriebene. Andere haben ihr Heimatland verlassen und suchen nun einen Ort, wo sie sicher sind. Die große Mehrzahl haben Zuflucht gefunden in Ländern, die selbst arm sind, die aber trotzdem den Schutz nicht verweigern.
Ja, wir kennen das, was da aus den Worten des Propheten Jesaja herausspricht. Wir kennen die Bedrängnis, die darin zu spüren ist. Wir kennen die Verzweiflung, die aus ihnen herausspricht. Manchmal halten wir sie nicht mehr aus. Wollen sie ausblenden. Einfach nur in Ruhe leben. Uns damit abfinden, dass wir die Welt eben nicht retten können. 
Aber dann kommt sie doch, diese innere Unruhe, diese Störung tief in unserer Seele, die sagt: Schau nicht weg. Vergiss die Menschen nicht, die da jetzt so sehr in Not sind. Sie sind doch geschaffen zum Bilde Gottes, so wie Du. Unendlich kostbar. Auf ihrer Flucht schutzlos, bedroht, ausgeliefert. Du kannst sie doch nicht einfach in das Dunkel Deines Vergessens stoßen!

Liebe Schwestern und Brüder, 
ich kenne dieses innere Selbstgespräch genau. Die Hilflosigkeit angesichts dieses schrecklichen Leids in der Welt. Das Verdrängen dieses Leids, weil man es einfach nicht mehr aushält.
So ist es mir immer wieder gegangen, als ich diese Bilder im Fernsehen gesehen habe, von den Menschen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind. Immer wieder habe ich das vor mir gesehen und mir gesagt: das kann doch nicht sein, dass das vor unseren Augen passiert – und es wird einfach hingenommen! Die Leiche eines kleinen Jungen wird an den Strand gespült, das Bild wird in alle Welt verbreitet wird – und nichts ändert sich! Europa schaut weiter zu, wie Tausende verzweifelter Menschen im Mittelmeer ertrinken! 
Das habe ich mir gesagt. Und habe mich dabei so ohnmächtig gefühlt.
Aber dann habe ich die Menschen gesehen, die das nicht hinnehmen. Der neue Papst Franziskus – wir haben ihn eben begraben – reist auf seiner ersten Auslandsreise nach Lampedusa und spricht in die Ohren der Welt hinein das Wort von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ und ruft dazu auf, Menschlichkeit zu zeigen. Zivile Seenotretter zeigen Mut und diese Menschlichkeit, indem sie das tun, was die europäischen Staaten verweigern, nämlich das schlicht Selbstverständliche: Menschen in Lebensgefahr zu retten.
Und in die Kirchen kommt Bewegung. Spitzenvertreter fahren nach Palermo. Besuchen das von den italienischen Behörden festgesetzte Seenotrettungsschiff Seawatch 3. Sandra Bils sagt als Predigerin im Schlussgottesdienst des Dortmunder Kirchentags den Satz: „Man lässt niemanden ertrinken. Punkt!“. Die EKD gründet wenig später das Bündnis „United4Rescue“ – „Gemeinsam retten“ - zur Unterstützung der Seenotrettung. Und heute gehören ihm 960 Organisationen an – aus Deutschland und weit darüber hinaus. Über 10 000 Menschen helfen mit ihren Spenden. Und es macht einen Unterschied: Viele Tausend Menschen sind von den inzwischen vier Schiffen und einem Suchflugzeug, die das Bündnis unterstützt, gerettet worden. 
Zusammen haben sie alle die Ohnmacht durchbrochen.

Wir wissen nicht, wie es den Menschen ergangen ist, für die Jesaja von 2700 Jahren die Stimme erhoben hat. Aber wir wissen, dass die Hoffnung, die er zum Ausdruck gebracht hat, nicht in den Wind gesprochen war, sondern konkrete Gestalt angenommen hat.

„Wenn der Bedränger ein Ende hat, der Verwüster aufhört und der Bedrücker aus dem Lande muss, dann wird ein Thron bereitet werden aus Gnaden, dass einer in Treue darauf sitze in der Hütte Davids und richte und trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit.“

Es ist die Hoffnung auf den Messias, die dem Volk Israel immer wieder Kraft gegeben hat, auch in den schweren Zeiten die Hoffnung nicht zu verlieren. Wir Christinnen und Christen glauben, dass diese Hoffnung in Jesus von Nazareth, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, menschliche Gestalt angenommen hat. Wir vertrauen darauf, dass wir in diesem Christus in die alte Hoffnung des Volkes Israels mit hineingenommen sind, dass am Ende nicht die Gewalt siegt, dass die Verzweiflung der Opfer nicht das letzte Wort ist, dass ihr Leiden nicht dem Vergessen anheimfällt, sondern ein neuer Himmel und eine neue Erde kommt, in dem kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz mehr ist, und alle Tränen abgewischt sind. Er hat die Armen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Friedensstifter seliggepriesen. Er hat sich an die Seite der Flüchtlinge gestellt und in seiner großen Vision vom Weltgericht gesagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“
Der, von dem Jesaja sagt, er „trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit“, er ist es, auf den wir unsere Hoffnung setzen, er hat in seiner menschlichen Existenz gezeigt, dass ein Leben in der Liebe, ein Leben in der Barmherzigkeit, ein Leben in der Gerechtigkeit möglich ist. Und er hat über zwei Jahrtausende hinweg unzählige Menschen inspiriert, in seine Nachfolge zu treten und ihn in ihrem eigenen Leben zu bezeugen.
Was das bedeutet, hat Dietrich Bonhoeffer in einem Dreiklang beschrieben. Christliche Existenz heißt „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit.“
Im Beten reden wir mit Gott. Wir bringen wir unser Leid, unsere Ohnmacht, unsere unbeantworteten Fragen, unsere Hoffnung vor ihn. Und wir hören auf Gott. Wir hören auf Gott, um Klarheit, Richtung und Orientierung zu bekommen für unseren Weg.
Im Tun des Gerechten bezeugen wir den, zu dem wir beten, in der Welt. Seine Liebe, seine Barmherzigkeit, seine Gerechtigkeit. Ohne das Tun des Gerechten gibt es kein echtes Beten. 
Der gleiche Prophet Jesaja, der dem Leid der Geflüchteten eine Stimme gibt, stellt an anderer Stelle mit scharfen Worten einen religiösen Kult bloß, der das Tun des Gerechten einfach ignoriert: „Wollt ihr das ein Fasten nennen“ – sagt er – „und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen“ (Jes 58, 5-8).
Und später wird Jesus, inspiriert durch solche Worte, seine ganze Hebräische Bibel, und in Erfüllung der Messiashoffnung, die sie zum Ausdruck bringt, sagen: “Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40).
Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der auf Hilfe wartet, für ein würdevolles Leben in den Armenvierteln und den Flüchtlingslagern dieser Welt? Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der droht im Mittelmehr zu ertrinken, weil Europa nicht hilft und sogar zivile Rettungsboote an der Hilfe hindert? Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der uns in einem Kind im Sudan, in Haiti oder auch in Gaza, begegnet, das nicht genug zu essen hat, um zu überleben?
Diese Fragen zu stellen und sich anrühren zu lassen von der Not Anderer, ist nicht der Katalysator für ein schlechtes Gewissen. Es ist das Gegenteil: Es ist der Türöffner für ein erfülltes Leben. Es ist der Weg zu Frieden und Geschwisterlichkeit. Das ist die Quelle der Heilung, denn „dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten.“
Beten und Gerechtigkeit üben – das sind die ersten beiden Teile des Dreiklangs, um Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Und das Dritte ist: das „Warten auf Gottes Zeit“.
Ohne dieses Dritte könnte ich in diesen Tagen nicht leben. Wann, oh wann, hört dieses Leiden endlich auf!? Wann kommt all die sinnlose Gewalt an ihr Ende!? Wann können alle Kinder dieser Welt, die mit Tränen säen, endlich mit Freuden ernten und eine unbeschwerte Kindheit und ein Leben in Würde leben!?
Das Warten ist schwer. Die Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Aber Gottes Zeit kommt. Dann hat der Bedränger ein Ende, der Verwüster hört auf und der Bedrücker muss aus dem Lande, dann wird ein Thron bereitet werden aus Gnaden, dass einer in Treue darauf sitze in der Hütte Davids und richte und trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit.“

Aus dieser Hoffnung leben wir.

AMEN

Implikationen der Osterbotschaft - Predigt zu Jes 25,6-9 von Matthias Loerbroks

Implikationen der Osterbotschaft - Predigt zu Jes 25,6-9 von Matthias Loerbroks
25,6-9

Ein großes Gastmahl, reichhaltiges Essen, guter Wein – das ist nicht nur in der Bibel Inbegriff guten Lebens, Glück für Leib und Seele. Gastgeber ist der Gott Israels und zu Gast sind alle Völker. Alle sind sie gekommen zu diesem Berg, zum Berg Zion, nach Jerusalem. Sie sehen und schmecken, wie freundlich der HERR ist, der Ewige, der Gott Israels.
Bereits zuvor, zu Beginn des Buchs, war davon die Rede, dass die Völker sich aufmachen zu diesem Berg. Sie sind mit ihrem Latein am Ende, sind ratlos. Und obwohl sie sonst in Vielem, in fast Allem zerstritten sind – oder gerade darum –, kommen sie darin überein, dass es gut ist, sich vom Gott Israels Wege weisen zu lassen, weil sie selbst keine Wege sehen, keinen Ausweg – oder nur diesen einen: die Reise nach Jerusalem. Sie kommen zum Zion, um Tora zu lernen, Weisung; sie gehen gemeinsam in die Judenschule. So geht Weisung aus vom Zion in alle Lande, das Wort des HERRN von Jerusalem.
Und nun hören wir: auf diesem Berg gibt es nicht nur was zu lernen, sondern auch was zu essen und zu trinken; und zwar Gutes – die Völker sitzen da nicht zum Zeichen ihrer Umkehrbereitschaft bei Wasser und Brot. Sondern genießen gutes Leben, genießen vielleicht auch die Tischgemeinschaft mit Anderen, auch mit entsetzlich anderen, können nun möglicherweise auch ihnen Gutes abgewinnen.
Und beides, das Lernen und das Festessen, die Mahlgemeinschaft gehören zusammen. Nicht nur weil Lernen ja ein glückhaftes sich Einverleiben sein kann. Sondern vor allem weil der Gott Israels den Völkern in jeder Hinsicht reinen Wein einschenkt. Der aber macht seltsamerweise nicht trunken, der ernüchtert. Dass im Wein Wahrheit steckt, haben schon die alten Römer behauptet. Das stimmt gewiss nicht immer, bei diesem Gelage aber schon. Und diese Wahrheit macht frei.
Während die Gäste gutes Essen und guten Wein genießen, vertilgt der Gastgeber ganz was anderes. Und das klingt weniger schmackhaft. Zweimal hören wir das Wort „verschlingen.“ Er verschlingt den Gesichtsschleier, der alle Völker verschleiert. Die Völker sind verblendet, sind blind, tappen im Dunkeln, blicken nicht durch. Siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker, heißt es an anderer Stelle im Jesajabuch. Doch der Gott Israels, dessen erstes Wort in der Bibel lautet: es werde Licht, will und schafft Aufklärung.
Nun waren es aber gerade die Christen – die Fraktion in fast allen Völkern, die die Osterbotschaft vom Sieg des Lebens feiert –, die jahrhundertelang das Umgekehrte behauptet haben: es sind nicht die Völker, es sind die Juden, die blind sind. Über ihren Augen liegt ein Schleier, über ihrem Gesicht eine Decke, weshalb sie ihre eigene Bibel nicht verstehen. Denn sonst müssten sie doch erkennen, dass Jesus der Christus, der Messias ist. Wir denken an die vielen Kirchenportale, an denen der triumphierenden Kirche eine geknickte Synagoge gegenübersteht, die zum Zeichen ihrer Blindheit eine Augenbinde, einen Gesichtsschleier trägt. Diese falsche Lehre und ihre bildliche Darstellung zeigen, dass die Decke, die den Völkern Sicht und Durchblick nimmt, auch auf den Christen unter ihnen liegt.
Die Osterbotschaft klingt an, wenn wir zum zweiten Mal das Wort „verschlingen“ hören: Er wird den Tod verschlingen auf Dauer. Der Tod, der Allesverschlinger, wird selbst verschlungen. Gott macht kaputt, was uns kaputt macht. Paulus hat dies Wort aufgegriffen in dem Jubelruf, den wir hörten: Der Tod ist verschlungen im Sieg! Und Martin Luther singt es ihm nach: Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet dass, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden. Und wir denken an die vielen Kriege, die Morde in unseren Tagen – die Macht des Todes, seine Zerstörungskraft scheinen ungebrochen. Das Leben siegt? Der Tod – ein Spott, eine lächerliche Figur? Und wir seufzen voll Sehnsucht: Amen, ja, das werde wahr!
Es ist natürlich kein Zufall, dass hier fast zugleich zweimal vom Verschlingen die Rede ist. Denn auch hier gehört beides zusammen: die Enthüllung und Entschleierung, die Aufklärung der Völker und die Vernichtung des Todes. Die Finsternis, die die Völker bedeckt, ist der Schatten des Todes und die Wege, auf denen sie im Dunkeln tappen, sind Wege des Todes, nicht des Lebens. Darum machen sie sich ja auf, um sich Wege weisen zu lassen. Die Osterbotschaft Jesajas wie die des Neuen Testaments ermutigt uns dazu und mutet uns zu, die Irrungen und Wirrungen unseres Lebens und die des Weltgeschehens im Osterlicht zu sehen – und nicht umgekehrt die Osterbotschaft sich verdunkeln zu lassen von der Finsternis, die noch die Völker bedeckt. Nicht an den Tod glauben – so hat der Theologe Ernst Lange die Konsequenzen von Ostern benannt. Das ist ein großes Wort – und ein ungewöhnliches, weil es nicht zum Glauben, sondern zum Unglauben aufruft. Und vielleicht kriegen wir das mit unserem zaghaften und brüchigen Glauben zustande: die Allmacht, die Allgewalt des Todes zu bezweifeln, zu bestreiten?
Im Hebräerbrief (2,14f.) heißt es, Jesus habe mit seinem Tod den Machthaber des Todes, den Teufel, entmachtet, um all die freizubekommen, die durch Furcht vor dem Tod das ganze Leben lang Sklaven waren. Ostern – das ist Befreiung aus der Sklaverei. Gestern ging bei unseren jüdischen Geschwistern das Pessach-Fest zu Ende, das Gedenken an die Befreiung aus Ägypten. Alle vier Evangelien verbinden den Tod und die Auferweckung Jesu mit diesem Fest – und wollen damit diese Ereignisse nicht datieren, sondern interpretieren.
Nicht nur der Gesichtsschleier kommt weg – Gott wird auch die Tränen abwischen von jedem Gesicht. Enthüllung, Aufklärung – das sind gute Sachen, leider höchst aktuell, höchst dringlich, dafür zu arbeiten, zu kämpfen, denn das befreit uns davon, im Dunkeln zu tappen, ohne Durchblick, unmündig hin- und hergetrieben davon, woher und wohin gerade der Zeitgeist weht, und von dem Gebrüll, das sich als Volkes Stimme ausgibt. Es befreit uns auch davon, ein ziel- und damit sinnloses Leben zu leben. Und von der Angst, die uns im Dunkeln befällt, weil da Alles bedrohlich wirkt. Doch das nimmt uns nicht den Kummer, das Leid, den Schmerz. Wenn wir einander die Tränen abwischen, ist das eine liebevolle, eine zärtliche, aber hilflose Geste. Wenn Gott das tut, ist das anders. Er kann wirksam trösten. An anderer Stelle im Jesajabuch hören wir ihn sagen: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der früheren nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Die Auferweckung des Gekreuzigten, der von der bisherigen, der ungerechten, gott-, israel- und menschenfeindlichen Weltordnung zu Tode gequält wurde, ist der Anbruch dieser neuen Welt.
Wenn jener Gesichtsschleier weg ist, dann verschwindet auch die Schmach seines, Gottes Volkes auf der ganzen Erde. Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher, schrieb Hannah Arendt, will sagen: nirgendwo auf der ganzen Erde. Die christliche Mission hat ja die Feindschaft gegen Juden unter allen Völkern verbreitet, auch in Ländern, in denen keine oder fast keine Juden leben. Diese Feindschaft, das weltweite Ressentiment gegen Juden, ist Teil der Verblendung der Völker, ist ihr Inbegriff. Die wird Gott verschlingen. Wie den Tod, seinen letzten Feind, und als eines seiner Machtmittel. Dann werden die Völker rückblickend nur mit dem Kopf schütteln können über ihre Irrtümer und Irrlehren und sprechen: und wir hatten geglaubt, die Juden wären von Gott geschlagen und gemartert worden.
Israel hingegen, anders als die Völkerwelt, reibt sich nicht überrascht und auch beschämt die Augen, sondern darf sich bestätigt fühlen und ist darüber erleichtert und froh. Das ist der, auf den wir hofften, so hören wir zweimal, das ist der Ewige, unser Gott. So ist er. Wir haben nicht vergeblich gehofft, uns mit unserer Hoffnung nicht auf Dauer blamiert.
Wir aber hatten gehofft – so hörten wir die beiden Jünger seufzen, die mit Jesus unterwegs waren. Sie scheinen diese Hoffnung begraben zu haben, als Jesus begraben wurde. Leider erfahren wir nichts vom Inhalt der ambulanten Bibelarbeit, die Jesus daraufhin mit ihnen veranstaltet. Doch es klingt nicht so, als habe er ihnen diese Hoffnung als eine völlig falsche ausgeredet. Er wird sie bestätigt haben. Denn nachdem Jesus plötzlich entschwunden war, gestehen sie einander: brannte nicht unser Herz, als er uns auf dem Weg die Schriften aufschloss?
Ein reichhaltiges Mahl – nicht nur für die Völker bei ihrem Gipfeltreffen in Jerusalem, auch für uns, die Hörer und Hörerinnen der Osterbotschaft aus dem Jesajabuch. Sie macht uns darauf aufmerksam, was alles anklingt und mitschwingt in der Osterbotschaft des Neuen Testaments; was wir sagen, wenn wir einander zurufen: der Herr ist wirklich und wahrhaftig auferweckt worden: ein Ende des Todes, des Terrorregimes, das alle versklavt, und zugleich ein Ende aller Verblendung der Völker, allen falschen Bewusstseins – Aufklärung, Aufdeckung, Enthüllung; wirksamer Trost durch Gott selbst; spurloses Verschwinden der Verachtung, der Verächtlichmachung des jüdischen Volkes in aller Welt; Israels Jubel über seine Befreiung.
Christen sind Protestleute gegen den Tod, so hat der schwäbische Pfarrer und religiöse Sozialist Christoph Blumhardt die Konsequenzen von Ostern formuliert. Von Jesaja belehrt fügen wir hinzu: Protestleute auch gegen Antisemitismus.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Loerbroks

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde wird etwas kleiner sein als am Ostersonntag, vielleicht aber nachdenklicher: Menschen, die noch etwas genauer hören wollen, worum es in der Osterbotschaft geht und was sie impliziert.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Natürlich wollte ich nicht behaupten, Jesaja habe bereits Jahrhunderte zuvor die Auferweckung Jesu vorhergesagt. Sondern mithilfe des Textes zeigen, was alles die Osterbotschaft impliziert.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesaja hätte die christliche Irrlehre von der Blindheit Israels und ihre bildliche Darstellung eine Projektion genannt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Obwohl Redundanz in mündlicher Rede ihr Recht hat, hab ich bei der Durchsicht ein paar Wiederholungen beseitigt. Ich hoffe, damit die Predigt nicht nur gestrafft, sondern auch den Zusammenhang jener Osterimplikationen deutlicher gemacht zu haben.

Perikope
21.04.2025
25,6-9