Gutes Leben für alle? - Gutes Leben für alle! - Predigt zu Jes 55,1-5 von Elke Markmann

Gutes Leben für alle? - Gutes Leben für alle! - Predigt zu Jes 55,1-5 von Elke Markmann
55,1-5

Hunger und Armut sind Realität für viele

Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser, und ihr, die ihr kein Geld habt! Los, kauft und esst! Los, kauft ohne Geld und ohne Preis Milch und Wein!

Unser heutiger Predigttext beginnt mit der Einladung zum guten Leben. „Alle sind eingeladen“ überschreibt die Basisbibel diesen Abschnitt. Die Durstigen und Armen werden angesprochen. Ihnen wird versprochen: Ihr bekommt Wasser, Wein und Milch. Alles, was Ihr braucht und was ihr wünscht. Mehr als das Notwendige! Sogar Milch und Wein.
In vielen Orten gibt es öffentliche Kühlschränke und Verteilstellen für Lebensmittel, die übrig sind. „Too good to go!“ ist eine Initiative, die ermöglicht, dass Lebensmittel nicht weggeworfen werden. In einem Kühlschrank wurden vor einiger Zeit jede Menge vegane Aufschnitte zur Verfügung gestellt.
In einer Kirchengemeinde organisiert eine Mitarbeiterin einen Ring von Menschen, die froh sind, wenn andere etwas übrig haben, weil sie zu viel gekauft haben oder die Gäste nicht alles aufgegessen haben. 

Ihr, die ihr kein Geld habt! Los, kauft und esst! Los, kauft ohne Geld und ohne Preis Milch und Wein!

Das gibt es schon!
Aber dann sehe ich auch: Menschen in den Kriegsgebieten der Welt. In Gaza können die Kinder nicht mehr ernährt werden. Medizinische Versorgung gibt es auch nicht. Die Hilfsgüter kommen nicht zu den Menschen. Hilfsorganisationen werden an der Arbeit gehindert.
Weltweit legen Menschen auf der Suche nach Leben weite Wege zurück. Sie fliehen vor Krieg und Gewalt und noch viel mehr vor Ausbeutung und Hunger. Wo finden sie gutes Leben?

Auf, ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser, und ihr, die ihr kein Geld habt! Los, kauft und esst! Los, kauft ohne Geld und ohne Preis Milch und Wein!

Das fehlt noch an so vielen Orten der Welt! Im Buch des Propheten Jesaja wird die Realität beschrieben:

Warum zählt Ihr Geld ab, ohne Brot zu bekommen, und euren Lohn, ohne satt zu werden? Hört mir gut zu, und ihr werdet Gutes essen und eure Kehle am Nahrhaften laben. 

Selbst wer Arbeit hat, kann davon nicht leben. So war es damals in vielen Teilen der Gesellschaft. So ist es heute für viel zu viele Menschen. Auch hier in Deutschland gibt es die, die von ihrem Lohn nicht leben können. Auch hier in unserer Gemeinde. 

Jesaja richtet sich an das Volk im Exil

Bei Jesaja hört es sich so an, als gäbe es eine Alternative. „Hört mir zu und kommt her zu mir und ihr werdet leben!“
Ach, wäre das schön, wenn es wirklich einen Ausweg aus Hunger und Armut gäbe, wenn gutes Leben für alle möglich wäre! Da bin ich skeptisch. Wenn das so einfach wäre – warum gibt es dann noch Hunger und Not? Was verspricht Jesaja da eigentlich? Zu wem spricht er?
Der Text ist in einer Zeit entstanden, als es den Staat Israel nicht mehr gab. Das babylonische Reich hatte das Volk besiegt und einige aus dem Volk nach Babylon verschleppt. Sie sahen die Zeit im Exil als Strafe Gottes an. In diesem Teil des Jesaja-Buches wird den Menschen im Exil neue Hoffnung gemacht. Gott ist stärker. Gott wird dem jüdischen Volk eine Zukunft geben. Gott richtet einen Bund mit dem Volk auf. Daran erinnern die nächsten Worte in unserem Predigttext:

Neigt eure Ohren und kommt her zu mir, hört, und ihr werdet leben! 
Ich will mit euch einen dauerhaften Bund schließen, zuverlässige Zuwendung, die ich David erwies. 4 Schau, als Zeugen für die Völker setze ich ihn ein, als Fürsten und Gebieter über Völker. 5 Schau, fremde Völker, die du noch nicht kennst, wirst du rufen, und fremde Völker, die dich nicht kannten, eilen zu dir, um Gottes willen, deiner Gottheit, heilig in Israel ist sie, ja, dich schmückt sie.

Ein Bund zwischen Gott und Israel – Den gab es schon einmal. Den Bund hat Gott schon mit Noah geschlossen, mit Mose, mit Abraham und David. Immer wieder in der Geschichte Israels ist vom Bund Gottes mit seinem Volk die Rede.
Immer wieder hat Israel einen Ausweg aus schwierigen Situationen erlebt. Genau das verspricht Gott hier: Es wird weiter gehen! So verstehe ich diesen Text. Er macht Mut, dass die aktuelle Situation nicht das Ende ist, sondern dass es weiter geht. 
Ja, vielleicht ist das die Lösung, zumindest der Anfang einer Lösung: Der Glaube an Gottes Treue und Gottes Zuwendung, an Gottes Nähe. Gott lässt uns nicht im Stich! So haben es die Nachkommen von Noah und Abraham in der Geschichte immer wieder erlebt. Wenn ich mich daran erinnere, kann ich daraus Hoffnung schöpfen und mit aktuellen Schwierigkeiten umgehen. 

Grundhaltung Gottes

Die Rabbinerin Margaret Moers Wenig hat zu Jom Kippur einmal (1990) über Gott gepredigt. Sie predigte über unterschiedliche Gottesbilder und lud dazu ein, sich Gott als Frau vorzustellen, die älter wird. Eine Frau sitzt am Küchentisch und blättert in alten Fotoalben. Sie erinnert sich an die Geschichten mit den Menschen. Und sie wartet auf die Menschen (eine sehr empfehlenswerte Predigt, hier nachzulesen: https://judentum.hagalil.com/gott-ist-eine-frau/).

Mir gefällt dieses Bild. „Komm her, iss und trink und komm zur Ruhe. Ich bin für Dich da.“ 
Das Gute Leben – da kann ich es finden. „Ich bin da!“ So glaube ich Gott. 
Gott wendet sich den Menschen zu. Ich will mit euch einen dauerhaften Bund schließen, zuverlässige Zuwendung. „Zuwendung“ (Bibel in gerechter Sprache) – in anderen Bibelübersetzungen heißt es „beständige Gnade“ (Luther 2017) oder „Zusagen“ (Gute Nachricht) oder „was ich versprochen habe“ (Basisbibel). Gott wendet sich uns Menschen zu. 
Diese Grundhaltung habe ich schon bei Menschen gespürt. Bei dem Freund, der für mich da war, als alles schwer war. Bei meinen Eltern, die verlässlich da waren, wenn ich sie brauchte. Wo ich fühle und weiß, dass ich gesehen werde und willkommen bin, kann ich Ruhe finden und Zuversicht, Hoffnung für das, was kommt. 
Diese Grundhaltung kenne ich von Gott. So glaube ich Gott: Noch viel größer und verlässlicher, zuverlässiger als Menschen: „Ich bin für Dich da! Du kannst jederzeit kommen.“
Diese Grundhaltung ist Gottes Grundhaltung den Menschen gegenüber. Das verspricht der Prophet den jüdischen Menschen im Exil. Die können sich wieder Gott zuwenden. Sie werden gut leben können. Und das wird ausstrahlen in die Völker. Dann werden auch andere kommen und zu eben dieser Gottheit beten. Alle werden erkennen, dass diese Gottheit stark und gerecht ist und Frieden bringt. 

Grundhaltung im menschlichen Miteinander

Diese Grundhaltung Gottes kann auch auf uns ausstrahlen. Davon bin ich überzeugt. Wenn ich bei Gott erlebe, dass ich jederzeit willkommen bin, kann ich das auch ausstrahlen: Gott ist da, für mich und für Dich! 
Diese Grundhaltung wünsche ich mir für mich. Dass ich anderen einen Ort biete, an dem sie gesehen werden und Zukunft finden.
Diese Grundhaltung wünsche ich mir für das menschliche Miteinander, für Staaten und Länder, für Regierungen und Machthaberinnen und Machthaber. Als der Krieg in der Ukraine begann, erlebten wir hier in Deutschland diese Haltung: Kommt! Wir bieten Euch Zuflucht.
Diese Grundhaltung wünsche ich mir für unsere Kirche. In vielen Gemeinden und Gruppen wird genau das gelebt. Sie wenden sich denen zu, die sie brauchen. Sie sind offen und einladend. Sie verteilen Lebensmittel oder laden zu Begegnungen ein. 
Der dauerhafte Bund Gottes verspricht zuverlässige Zuwendung, so schreibt Jesaja. Zuverlässige Zuwendung ist genau das, was ich brauche. Ich denke, wir alle brauchen genau das: wir brauchen Gott, uns zugewandt und verlässlich, auch durch andere Menschen.
Ich wünsche uns, dass wir glauben und erfahren: Gott wendet sich uns zu.
Das wünsche es allen, die Gottes Nähe dringend brauchen: den Armen und den Hungernden; denen, die unter Gewalt und Krieg leiden; denen, die keine Zukunft sehen. Ich wünsche mir, dass sie, dass wir alle Ähnliches erleben können wie der verlorene Sohn, der mit offenen Armen empfangen wird. 

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde an diesem Sonntag in einer Gemeinde predigen, die vom ehemaligen Bergbau geprägt ist. Zur Gemeinde gehören Menschen aus unteren Einkommensschichten und aus der Mittelschicht. Armut und Arbeitslosigkeit, Migration und Integration sind alltägliche Themen im Ort und in der Gemeinde. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich bin gelockt worden vom Bild des guten Lebens für alle – ohne Voraussetzungen. Erst werden die Menschen eingeladen. Erst dann ist vom Bund Gottes die Rede. Es geht nicht darum, bestimmte Bedingungen einzuhalten, damit gutes Leben gelingt. Gott legt Gutes vor.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die zuverlässige Zuwendung Gottes ist für mich ein anderes Bild als der Bund Gottes. Zuverlässigkeit und Zuwendung sind sehr viel „menschlicher“ und näher als der „Bund“, der sich mehr nach Vertrag als nach Miteinander anhört.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Durch den Lektor bin ich an verschiedenen Stellen dazu ermutigt worden, präziser zu formulieren und auszuschmücken, was mir wichtig ist. Ich meine, dadurch meine Predigt mehr fokussiert zu haben. 

Perikope
29.06.2025
55,1-5

Die Ohnmacht überwinden und Mensch werden - Predigt zu Jes 16,1-5 von Heinrich Bedford-Strohm

Die Ohnmacht überwinden und Mensch werden - Predigt zu Jes 16,1-5 von Heinrich Bedford-Strohm
16,1-5

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja sind uralt. Aber die Situation, die sie beschreiben, die kennen wir genau. Es ist Krieg in der Region rund um Israel im 8. Jahrhundert vor Christus. Moab, ein Nachbar Israels östlich des Toten Meeres und traditionell mit Israel durch eine Mischung aus verwandtschaftlicher Nähe auf der einen Seite und Konflikten und Rivalitäten auf der anderen Seite verbunden, ist in großer Bedrängnis. Das assyrische Reich breitet sich durch Angriffskriege aus, macht die Nachbarn tributpflichtig. Die Städte Moabs sind gefallen oder bedroht. In ihrer Not schicken sie symbolisch ein Tributgeschenk, ein Lamm, an das benachbarte Israel mit der Bitte um Asyl, um Schutz. 

„‘Schickt Lämmer des Landesherrn von Sela durch die Wüste zum Berge der Tochter Zion!‘ Wie ein Vogel dahinfliegt, der aus dem Nest vertrieben wird, so werden die Töchter Moabs an den Furten des Arnon sein.“ 

Die Fliehenden ziehen Richtung Süden, über den Fluss Arnon, in der Hoffnung irgendwo sicher zu sein. Wie umherirrende Vögel sind sie, verlassen und schutzlos.
Es ist das Zeugnis einer Flüchtlingskatastrophe, die sich da vor rund 2700 Jahren im biblischen Land abspielt. Sie handelt von Gewalt und Unterdrückung, von Autokraten, die über Leichen gehen, und vor allem: von so vielen verzweifelten Menschen, die dieser Gewalt, diesem Unrecht schutzlos ausgeliefert sind.
Es ist ein bedrängender Appel, dem der Prophet Jesaja eine Stimme gibt: „Gib Rat, sprich Recht, mach deinen Schatten am Mittag wie die Nacht; verbirg die Verjagten, und verrate die Flüchtigen nicht! Lass Moabs Verjagte bei dir herbergen, sei du für Moab eine Zuflucht vor dem Verwüster!“
Ja, wir kennen das nur allzu gut. Damals war es ein Prophet, der dem Leiden eine Stimme gegeben hat. Heute sind es Fernsehbilder, die uns aus aller Welt erreichen, die dieses Leiden in unsere Wohnzimmer bringen. Es ist erschreckend, wie sehr das damit verbundene Elend in jüngster Zeit zugenommen hat. Noch vor wenigen Jahren haben wir die ungeheure Zahl von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit beklagt. Heute spricht das UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, von rund 120 Millionen Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder dem kompletten Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung zur Flucht gezwungen sind. Die meisten davon sind Binnenvertriebene. Andere haben ihr Heimatland verlassen und suchen nun einen Ort, wo sie sicher sind. Die große Mehrzahl haben Zuflucht gefunden in Ländern, die selbst arm sind, die aber trotzdem den Schutz nicht verweigern.
Ja, wir kennen das, was da aus den Worten des Propheten Jesaja herausspricht. Wir kennen die Bedrängnis, die darin zu spüren ist. Wir kennen die Verzweiflung, die aus ihnen herausspricht. Manchmal halten wir sie nicht mehr aus. Wollen sie ausblenden. Einfach nur in Ruhe leben. Uns damit abfinden, dass wir die Welt eben nicht retten können. 
Aber dann kommt sie doch, diese innere Unruhe, diese Störung tief in unserer Seele, die sagt: Schau nicht weg. Vergiss die Menschen nicht, die da jetzt so sehr in Not sind. Sie sind doch geschaffen zum Bilde Gottes, so wie Du. Unendlich kostbar. Auf ihrer Flucht schutzlos, bedroht, ausgeliefert. Du kannst sie doch nicht einfach in das Dunkel Deines Vergessens stoßen!

Liebe Schwestern und Brüder, 
ich kenne dieses innere Selbstgespräch genau. Die Hilflosigkeit angesichts dieses schrecklichen Leids in der Welt. Das Verdrängen dieses Leids, weil man es einfach nicht mehr aushält.
So ist es mir immer wieder gegangen, als ich diese Bilder im Fernsehen gesehen habe, von den Menschen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind. Immer wieder habe ich das vor mir gesehen und mir gesagt: das kann doch nicht sein, dass das vor unseren Augen passiert – und es wird einfach hingenommen! Die Leiche eines kleinen Jungen wird an den Strand gespült, das Bild wird in alle Welt verbreitet wird – und nichts ändert sich! Europa schaut weiter zu, wie Tausende verzweifelter Menschen im Mittelmeer ertrinken! 
Das habe ich mir gesagt. Und habe mich dabei so ohnmächtig gefühlt.
Aber dann habe ich die Menschen gesehen, die das nicht hinnehmen. Der neue Papst Franziskus – wir haben ihn eben begraben – reist auf seiner ersten Auslandsreise nach Lampedusa und spricht in die Ohren der Welt hinein das Wort von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ und ruft dazu auf, Menschlichkeit zu zeigen. Zivile Seenotretter zeigen Mut und diese Menschlichkeit, indem sie das tun, was die europäischen Staaten verweigern, nämlich das schlicht Selbstverständliche: Menschen in Lebensgefahr zu retten.
Und in die Kirchen kommt Bewegung. Spitzenvertreter fahren nach Palermo. Besuchen das von den italienischen Behörden festgesetzte Seenotrettungsschiff Seawatch 3. Sandra Bils sagt als Predigerin im Schlussgottesdienst des Dortmunder Kirchentags den Satz: „Man lässt niemanden ertrinken. Punkt!“. Die EKD gründet wenig später das Bündnis „United4Rescue“ – „Gemeinsam retten“ - zur Unterstützung der Seenotrettung. Und heute gehören ihm 960 Organisationen an – aus Deutschland und weit darüber hinaus. Über 10 000 Menschen helfen mit ihren Spenden. Und es macht einen Unterschied: Viele Tausend Menschen sind von den inzwischen vier Schiffen und einem Suchflugzeug, die das Bündnis unterstützt, gerettet worden. 
Zusammen haben sie alle die Ohnmacht durchbrochen.

Wir wissen nicht, wie es den Menschen ergangen ist, für die Jesaja von 2700 Jahren die Stimme erhoben hat. Aber wir wissen, dass die Hoffnung, die er zum Ausdruck gebracht hat, nicht in den Wind gesprochen war, sondern konkrete Gestalt angenommen hat.

„Wenn der Bedränger ein Ende hat, der Verwüster aufhört und der Bedrücker aus dem Lande muss, dann wird ein Thron bereitet werden aus Gnaden, dass einer in Treue darauf sitze in der Hütte Davids und richte und trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit.“

Es ist die Hoffnung auf den Messias, die dem Volk Israel immer wieder Kraft gegeben hat, auch in den schweren Zeiten die Hoffnung nicht zu verlieren. Wir Christinnen und Christen glauben, dass diese Hoffnung in Jesus von Nazareth, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, menschliche Gestalt angenommen hat. Wir vertrauen darauf, dass wir in diesem Christus in die alte Hoffnung des Volkes Israels mit hineingenommen sind, dass am Ende nicht die Gewalt siegt, dass die Verzweiflung der Opfer nicht das letzte Wort ist, dass ihr Leiden nicht dem Vergessen anheimfällt, sondern ein neuer Himmel und eine neue Erde kommt, in dem kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz mehr ist, und alle Tränen abgewischt sind. Er hat die Armen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Friedensstifter seliggepriesen. Er hat sich an die Seite der Flüchtlinge gestellt und in seiner großen Vision vom Weltgericht gesagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“
Der, von dem Jesaja sagt, er „trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit“, er ist es, auf den wir unsere Hoffnung setzen, er hat in seiner menschlichen Existenz gezeigt, dass ein Leben in der Liebe, ein Leben in der Barmherzigkeit, ein Leben in der Gerechtigkeit möglich ist. Und er hat über zwei Jahrtausende hinweg unzählige Menschen inspiriert, in seine Nachfolge zu treten und ihn in ihrem eigenen Leben zu bezeugen.
Was das bedeutet, hat Dietrich Bonhoeffer in einem Dreiklang beschrieben. Christliche Existenz heißt „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit.“
Im Beten reden wir mit Gott. Wir bringen wir unser Leid, unsere Ohnmacht, unsere unbeantworteten Fragen, unsere Hoffnung vor ihn. Und wir hören auf Gott. Wir hören auf Gott, um Klarheit, Richtung und Orientierung zu bekommen für unseren Weg.
Im Tun des Gerechten bezeugen wir den, zu dem wir beten, in der Welt. Seine Liebe, seine Barmherzigkeit, seine Gerechtigkeit. Ohne das Tun des Gerechten gibt es kein echtes Beten. 
Der gleiche Prophet Jesaja, der dem Leid der Geflüchteten eine Stimme gibt, stellt an anderer Stelle mit scharfen Worten einen religiösen Kult bloß, der das Tun des Gerechten einfach ignoriert: „Wollt ihr das ein Fasten nennen“ – sagt er – „und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen“ (Jes 58, 5-8).
Und später wird Jesus, inspiriert durch solche Worte, seine ganze Hebräische Bibel, und in Erfüllung der Messiashoffnung, die sie zum Ausdruck bringt, sagen: “Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40).
Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der auf Hilfe wartet, für ein würdevolles Leben in den Armenvierteln und den Flüchtlingslagern dieser Welt? Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der droht im Mittelmehr zu ertrinken, weil Europa nicht hilft und sogar zivile Rettungsboote an der Hilfe hindert? Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der uns in einem Kind im Sudan, in Haiti oder auch in Gaza, begegnet, das nicht genug zu essen hat, um zu überleben?
Diese Fragen zu stellen und sich anrühren zu lassen von der Not Anderer, ist nicht der Katalysator für ein schlechtes Gewissen. Es ist das Gegenteil: Es ist der Türöffner für ein erfülltes Leben. Es ist der Weg zu Frieden und Geschwisterlichkeit. Das ist die Quelle der Heilung, denn „dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten.“
Beten und Gerechtigkeit üben – das sind die ersten beiden Teile des Dreiklangs, um Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Und das Dritte ist: das „Warten auf Gottes Zeit“.
Ohne dieses Dritte könnte ich in diesen Tagen nicht leben. Wann, oh wann, hört dieses Leiden endlich auf!? Wann kommt all die sinnlose Gewalt an ihr Ende!? Wann können alle Kinder dieser Welt, die mit Tränen säen, endlich mit Freuden ernten und eine unbeschwerte Kindheit und ein Leben in Würde leben!?
Das Warten ist schwer. Die Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Aber Gottes Zeit kommt. Dann hat der Bedränger ein Ende, der Verwüster hört auf und der Bedrücker muss aus dem Lande, dann wird ein Thron bereitet werden aus Gnaden, dass einer in Treue darauf sitze in der Hütte Davids und richte und trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit.“

Aus dieser Hoffnung leben wir.

AMEN

Implikationen der Osterbotschaft - Predigt zu Jes 25,6-9 von Matthias Loerbroks

Implikationen der Osterbotschaft - Predigt zu Jes 25,6-9 von Matthias Loerbroks
25,6-9

Ein großes Gastmahl, reichhaltiges Essen, guter Wein – das ist nicht nur in der Bibel Inbegriff guten Lebens, Glück für Leib und Seele. Gastgeber ist der Gott Israels und zu Gast sind alle Völker. Alle sind sie gekommen zu diesem Berg, zum Berg Zion, nach Jerusalem. Sie sehen und schmecken, wie freundlich der HERR ist, der Ewige, der Gott Israels.
Bereits zuvor, zu Beginn des Buchs, war davon die Rede, dass die Völker sich aufmachen zu diesem Berg. Sie sind mit ihrem Latein am Ende, sind ratlos. Und obwohl sie sonst in Vielem, in fast Allem zerstritten sind – oder gerade darum –, kommen sie darin überein, dass es gut ist, sich vom Gott Israels Wege weisen zu lassen, weil sie selbst keine Wege sehen, keinen Ausweg – oder nur diesen einen: die Reise nach Jerusalem. Sie kommen zum Zion, um Tora zu lernen, Weisung; sie gehen gemeinsam in die Judenschule. So geht Weisung aus vom Zion in alle Lande, das Wort des HERRN von Jerusalem.
Und nun hören wir: auf diesem Berg gibt es nicht nur was zu lernen, sondern auch was zu essen und zu trinken; und zwar Gutes – die Völker sitzen da nicht zum Zeichen ihrer Umkehrbereitschaft bei Wasser und Brot. Sondern genießen gutes Leben, genießen vielleicht auch die Tischgemeinschaft mit Anderen, auch mit entsetzlich anderen, können nun möglicherweise auch ihnen Gutes abgewinnen.
Und beides, das Lernen und das Festessen, die Mahlgemeinschaft gehören zusammen. Nicht nur weil Lernen ja ein glückhaftes sich Einverleiben sein kann. Sondern vor allem weil der Gott Israels den Völkern in jeder Hinsicht reinen Wein einschenkt. Der aber macht seltsamerweise nicht trunken, der ernüchtert. Dass im Wein Wahrheit steckt, haben schon die alten Römer behauptet. Das stimmt gewiss nicht immer, bei diesem Gelage aber schon. Und diese Wahrheit macht frei.
Während die Gäste gutes Essen und guten Wein genießen, vertilgt der Gastgeber ganz was anderes. Und das klingt weniger schmackhaft. Zweimal hören wir das Wort „verschlingen.“ Er verschlingt den Gesichtsschleier, der alle Völker verschleiert. Die Völker sind verblendet, sind blind, tappen im Dunkeln, blicken nicht durch. Siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker, heißt es an anderer Stelle im Jesajabuch. Doch der Gott Israels, dessen erstes Wort in der Bibel lautet: es werde Licht, will und schafft Aufklärung.
Nun waren es aber gerade die Christen – die Fraktion in fast allen Völkern, die die Osterbotschaft vom Sieg des Lebens feiert –, die jahrhundertelang das Umgekehrte behauptet haben: es sind nicht die Völker, es sind die Juden, die blind sind. Über ihren Augen liegt ein Schleier, über ihrem Gesicht eine Decke, weshalb sie ihre eigene Bibel nicht verstehen. Denn sonst müssten sie doch erkennen, dass Jesus der Christus, der Messias ist. Wir denken an die vielen Kirchenportale, an denen der triumphierenden Kirche eine geknickte Synagoge gegenübersteht, die zum Zeichen ihrer Blindheit eine Augenbinde, einen Gesichtsschleier trägt. Diese falsche Lehre und ihre bildliche Darstellung zeigen, dass die Decke, die den Völkern Sicht und Durchblick nimmt, auch auf den Christen unter ihnen liegt.
Die Osterbotschaft klingt an, wenn wir zum zweiten Mal das Wort „verschlingen“ hören: Er wird den Tod verschlingen auf Dauer. Der Tod, der Allesverschlinger, wird selbst verschlungen. Gott macht kaputt, was uns kaputt macht. Paulus hat dies Wort aufgegriffen in dem Jubelruf, den wir hörten: Der Tod ist verschlungen im Sieg! Und Martin Luther singt es ihm nach: Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet dass, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden. Und wir denken an die vielen Kriege, die Morde in unseren Tagen – die Macht des Todes, seine Zerstörungskraft scheinen ungebrochen. Das Leben siegt? Der Tod – ein Spott, eine lächerliche Figur? Und wir seufzen voll Sehnsucht: Amen, ja, das werde wahr!
Es ist natürlich kein Zufall, dass hier fast zugleich zweimal vom Verschlingen die Rede ist. Denn auch hier gehört beides zusammen: die Enthüllung und Entschleierung, die Aufklärung der Völker und die Vernichtung des Todes. Die Finsternis, die die Völker bedeckt, ist der Schatten des Todes und die Wege, auf denen sie im Dunkeln tappen, sind Wege des Todes, nicht des Lebens. Darum machen sie sich ja auf, um sich Wege weisen zu lassen. Die Osterbotschaft Jesajas wie die des Neuen Testaments ermutigt uns dazu und mutet uns zu, die Irrungen und Wirrungen unseres Lebens und die des Weltgeschehens im Osterlicht zu sehen – und nicht umgekehrt die Osterbotschaft sich verdunkeln zu lassen von der Finsternis, die noch die Völker bedeckt. Nicht an den Tod glauben – so hat der Theologe Ernst Lange die Konsequenzen von Ostern benannt. Das ist ein großes Wort – und ein ungewöhnliches, weil es nicht zum Glauben, sondern zum Unglauben aufruft. Und vielleicht kriegen wir das mit unserem zaghaften und brüchigen Glauben zustande: die Allmacht, die Allgewalt des Todes zu bezweifeln, zu bestreiten?
Im Hebräerbrief (2,14f.) heißt es, Jesus habe mit seinem Tod den Machthaber des Todes, den Teufel, entmachtet, um all die freizubekommen, die durch Furcht vor dem Tod das ganze Leben lang Sklaven waren. Ostern – das ist Befreiung aus der Sklaverei. Gestern ging bei unseren jüdischen Geschwistern das Pessach-Fest zu Ende, das Gedenken an die Befreiung aus Ägypten. Alle vier Evangelien verbinden den Tod und die Auferweckung Jesu mit diesem Fest – und wollen damit diese Ereignisse nicht datieren, sondern interpretieren.
Nicht nur der Gesichtsschleier kommt weg – Gott wird auch die Tränen abwischen von jedem Gesicht. Enthüllung, Aufklärung – das sind gute Sachen, leider höchst aktuell, höchst dringlich, dafür zu arbeiten, zu kämpfen, denn das befreit uns davon, im Dunkeln zu tappen, ohne Durchblick, unmündig hin- und hergetrieben davon, woher und wohin gerade der Zeitgeist weht, und von dem Gebrüll, das sich als Volkes Stimme ausgibt. Es befreit uns auch davon, ein ziel- und damit sinnloses Leben zu leben. Und von der Angst, die uns im Dunkeln befällt, weil da Alles bedrohlich wirkt. Doch das nimmt uns nicht den Kummer, das Leid, den Schmerz. Wenn wir einander die Tränen abwischen, ist das eine liebevolle, eine zärtliche, aber hilflose Geste. Wenn Gott das tut, ist das anders. Er kann wirksam trösten. An anderer Stelle im Jesajabuch hören wir ihn sagen: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der früheren nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Die Auferweckung des Gekreuzigten, der von der bisherigen, der ungerechten, gott-, israel- und menschenfeindlichen Weltordnung zu Tode gequält wurde, ist der Anbruch dieser neuen Welt.
Wenn jener Gesichtsschleier weg ist, dann verschwindet auch die Schmach seines, Gottes Volkes auf der ganzen Erde. Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher, schrieb Hannah Arendt, will sagen: nirgendwo auf der ganzen Erde. Die christliche Mission hat ja die Feindschaft gegen Juden unter allen Völkern verbreitet, auch in Ländern, in denen keine oder fast keine Juden leben. Diese Feindschaft, das weltweite Ressentiment gegen Juden, ist Teil der Verblendung der Völker, ist ihr Inbegriff. Die wird Gott verschlingen. Wie den Tod, seinen letzten Feind, und als eines seiner Machtmittel. Dann werden die Völker rückblickend nur mit dem Kopf schütteln können über ihre Irrtümer und Irrlehren und sprechen: und wir hatten geglaubt, die Juden wären von Gott geschlagen und gemartert worden.
Israel hingegen, anders als die Völkerwelt, reibt sich nicht überrascht und auch beschämt die Augen, sondern darf sich bestätigt fühlen und ist darüber erleichtert und froh. Das ist der, auf den wir hofften, so hören wir zweimal, das ist der Ewige, unser Gott. So ist er. Wir haben nicht vergeblich gehofft, uns mit unserer Hoffnung nicht auf Dauer blamiert.
Wir aber hatten gehofft – so hörten wir die beiden Jünger seufzen, die mit Jesus unterwegs waren. Sie scheinen diese Hoffnung begraben zu haben, als Jesus begraben wurde. Leider erfahren wir nichts vom Inhalt der ambulanten Bibelarbeit, die Jesus daraufhin mit ihnen veranstaltet. Doch es klingt nicht so, als habe er ihnen diese Hoffnung als eine völlig falsche ausgeredet. Er wird sie bestätigt haben. Denn nachdem Jesus plötzlich entschwunden war, gestehen sie einander: brannte nicht unser Herz, als er uns auf dem Weg die Schriften aufschloss?
Ein reichhaltiges Mahl – nicht nur für die Völker bei ihrem Gipfeltreffen in Jerusalem, auch für uns, die Hörer und Hörerinnen der Osterbotschaft aus dem Jesajabuch. Sie macht uns darauf aufmerksam, was alles anklingt und mitschwingt in der Osterbotschaft des Neuen Testaments; was wir sagen, wenn wir einander zurufen: der Herr ist wirklich und wahrhaftig auferweckt worden: ein Ende des Todes, des Terrorregimes, das alle versklavt, und zugleich ein Ende aller Verblendung der Völker, allen falschen Bewusstseins – Aufklärung, Aufdeckung, Enthüllung; wirksamer Trost durch Gott selbst; spurloses Verschwinden der Verachtung, der Verächtlichmachung des jüdischen Volkes in aller Welt; Israels Jubel über seine Befreiung.
Christen sind Protestleute gegen den Tod, so hat der schwäbische Pfarrer und religiöse Sozialist Christoph Blumhardt die Konsequenzen von Ostern formuliert. Von Jesaja belehrt fügen wir hinzu: Protestleute auch gegen Antisemitismus.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Loerbroks

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde wird etwas kleiner sein als am Ostersonntag, vielleicht aber nachdenklicher: Menschen, die noch etwas genauer hören wollen, worum es in der Osterbotschaft geht und was sie impliziert.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Natürlich wollte ich nicht behaupten, Jesaja habe bereits Jahrhunderte zuvor die Auferweckung Jesu vorhergesagt. Sondern mithilfe des Textes zeigen, was alles die Osterbotschaft impliziert.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesaja hätte die christliche Irrlehre von der Blindheit Israels und ihre bildliche Darstellung eine Projektion genannt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Obwohl Redundanz in mündlicher Rede ihr Recht hat, hab ich bei der Durchsicht ein paar Wiederholungen beseitigt. Ich hoffe, damit die Predigt nicht nur gestrafft, sondern auch den Zusammenhang jener Osterimplikationen deutlicher gemacht zu haben.

Perikope
21.04.2025
25,6-9

Hoffnungslieder. Zungen und Ohren - Predigt zu Jes 50,4-9 von Manfred Wussow

Hoffnungslieder. Zungen und Ohren - Predigt zu Jes 50,4-9 von Manfred Wussow
50,4-9

Hoffnungslieder

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Ein Lied wird uns heute geschenkt. Gereimt wurde es noch nicht, es hat aber einen melodischen Klang. Ein Komponist wurde auch noch nicht gefunden. Aber dieses Lied können wir ohne Noten singen. Ein Hoffnungslied. Mutig. Nicht tot zu kriegen.
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben.
Mit den Müden zu reden, weiß ich jetzt. 
Gott weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr.
Wie Jünger hören, höre ich jetzt.
Er hat mir das Ohr geöffnet, Gott, der Herr!
Ich spiele mit meiner Zunge. Sie ist in meinem Mund. Sie ist sehr beweglich. Sie ist eine Alleskönnerin! Sie kann schmecken, Süßes und Bitteres, Heißes und Kaltes. Sie kann fühlen, tasten, streicheln, küssen – und sie kann Worte formen. Harte, verletzende – und beglückende, befreiende. Ich möchte einen anderen Menschen aufbauen, ich möchte ihm eine neue Welt erschließen!
Eine Zunge, die das kann, wünsche ich mir.
Viele Menschen sind müde. Nicht nur von der Arbeit. Nicht nur von einer Krankheit. Sie sind müde geworden, weil ihnen die Hoffnungen abhandengekommen sind. Wenn ein Mensch müde ist, funktioniert auch das Funktionieren nicht mehr.
Ich schaue auf die Ohren. Dafür brauche ich einen Spiegel. Ich kann sie auch in die Hände nehmen. Schön ist es, die Ohren eines lieben Menschen in den Händen zu bergen. Kunstvoll sind sie im Inneren. Mit einer Paukenhöhle, den Gehörknöchelchen und der Ohrtrompete – und noch weiter im Inneren gibt es ein Labyrinth mit der Schnecke und den Bogengängen. Dass ich das Gleichgewicht behalte und im Gleichgewicht bleibe, liegt tief in meinem Ohr.
Manchmal bin ich „ganz Ohr“. Zwei Ohren erschließen mir die Welt. Mal laut, wild durcheinander, hasserfüllt – mal ganz zärtlich, freundlich und neugierig. Ich möchte zuhören, ich möchte verstehen, ich möchte Hoffnungen aufnehmen. Ohren, die das können, wünsche ich mir.
Viele Menschen werden nicht mehr gehört. Sie reden, treffen aber auf Schweigen. Sie können sich nicht verständlich machen. Viele Menschen wollen auch nichts mehr hören. Sie haben genug mit sich.
Gott hat mir eine Zunge gegeben …
Er weckt mir das Ohr!

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Das Lied vom Knecht

Das Hoffnungslied von einem Menschen, der die richtige Zunge und das richtige Ohr hat, hat Jesaja überliefert. Er erzählt von einem Menschen, der in trostloser und angespannter Situation Mut macht, sich auf Gott zu verlassen. 
Damals – 2.500 Jahre sind es her – haben die Babylonier mit ihrer brutalen Übermacht die „heilige“ Stadt Jerusalem verwüstet, den Tempel – immerhin die Wohnung Gottes – verbrannt und den größten Teil der Bevölkerung rücksichtslos nach Babylon deportiert. Israel soll von der Landkarte, aus den Erinnerungen und aus der Geschichte verschwinden. Gott auch. 
Das letzte Wort in dieser Geschichte ist freilich nicht gesprochen. Gott fängt mit seinem Volk neu an.
Jetzt muss auch der Mensch auftreten, der genau dafür eine neue Zunge bekommen hat und ein offenes, aufgewecktes Ohr.
Er wird als Knecht Gottes bezeichnet. Auf dem ersten Blick eine geheimnisvolle Gestalt, die Träume und Hoffnungen auf sich vereint, auf dem zweiten Blick ein Mensch, der einfach da ist. 
Mit den Müden zu reden, weiß ich jetzt …
Wie Jünger hören, höre ich jetzt …
Etwas Neues beginnt.
Wir fangen neu an.
In Babylon sind viele Menschen aus dem Volk Israel müde geworden. Sie wussten nicht mehr, was sie glauben konnten. Vertrautes ist untergegangen. Dabei ist viel geredet worden. Immer um die Runde. Mit jedem Wort ist die Müdigkeit gewachsen, die Enttäuschung, die Gleichgültigkeit.
Der Knecht Gottes, so erzählt Jesaja, ist den Menschen nahe, er ist für sie „ganz Ohr“. Er ist der erste Seelsorger. Diskret. Das laute Wort ist nicht sein Ding. Es sind viele Geschichten, die ab jetzt zu erzählen sind. Von Neuanfängen. Von Mut. Von Wegen, die auf einmal offen sind. Nicht in alten Geschichten unterzugehen, ist eine sehr trotzige Botschaft!

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Knecht Gottes

Was ist das für eine Figur, die Hoffnung verbreitet, müde Menschen aufrichtet und ein offenes Ohr hat?
Schauen wir uns einmal eine Gegenfigur an. Einen – Hassprediger!
Conrad Felixmüller hat 1920 das Bild eines Agitators gemalt (Bild: Conrad Felixmüller, Der Agitator. Otto Rühle spricht https://www.bildindex.de/document/obj02510748 "Er war wirklich ein Mann der Massen, der am Tage zwei, drei Reden vor großen Versammlungsmassen ... sprach. Dann war er absolut nur Muskelpartie, das ganze Gesicht war in höchster Anspannung. Sein Schädel war gespannt, und seine Fäuste waren geballt...“). Damals, vor 100 Jahren, wurden Wortschlachten erst in Sälen ausgetragen, dann auf den Straßen. Die Zeiten waren aus den Fugen geraten. Der Körper des Redners ist eine einzige Rede. Wirr. Hasserfüllt. Aufstachelnd. Dann erst das Gesicht! Weit nach vorne geschoben das Kinn, der Mund zugekniffen und aufgerissen zugleich, die großen Augen wie leere Löcher. Die Welt muss Angst bekommen!
Der Agitator schreit sich müde, er hört nicht zu. Seine Reden sind Peitschen, seine Worte schlagen und töten. Seine Ohren sind zugedröhnt.
Groß aufgerissene Mündern und wilde Tiraden begegnen uns auch heute. Die Botschaft wird eingehämmert, dass die Welt neu geordnet werden müsse. Vom Frieden ist allenthalben die Rede, gemeint sind aber Unterdrückung und Unterwerfung. Die Wahrheit ist schon verraten.
Ich höre viele Menschen, die versteckt oder auch offen darüber reden, wie müde und abgeschlagen sie sich fühlen. Wenn Menschen nur noch etwas erleiden, ziehen sie sich verängstigt zurück. 

Jesaja sieht den Knecht Gottes. 
Seine Zunge steht für Recht und Gerechtigkeit ein,
sein Ohr nimmt das Schreien der Unterdrückten auf.
Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Der Einzug Jesu

Heute feiern wir den Palmsonntag. Mit ihm beginnt die Karwoche. Mit Gründonnerstag, Karfreitag, Osternacht und Ostermorgen. Heute hören wir, wie Jesus in Jerusalem einzieht. Einzieht! Das hört sich groß an. Aber Jesus reitet nicht mit einer Kohorte ein. Das königliche Ross ist nicht sein Reittier. Ein Esel ist’s – das Tier, das Lasten trägt, unentwegt, über Stock und Stein. Die Leute, die das sehen, reißen Palmzweige herunter und legen ihre Klamotten auf den Weg. Sie rufen die Worte der Verheißung: Hosianna, dem Sohn Davids! Hosianna! Hochgelobt sei, der da kommt, im Namen des Herren! Wir singen das beim Abendmahl. 
Es kommt – ein Knecht. Der Knecht Gottes. Der Evangelist hat Jesus die Züge des Knechtes Gottes gegeben. Ihm ist eine Zunge gegeben, die Müden aufzurichten, Schuldige freizusprechen und den Mächtigen die Unschuld zu nehmen. Ihm ist ein Ohr gegeben, das leise Weinen, verstummte Stimmen, verlorene Hoffnungen zu hören. Er geht seinen Weg in das Leiden, in das Leiden der Menschen.

Von dem Knecht Gottes heißt es in dem von Jesaja überlieferten Lied:

Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

Ich sehe da Jesus vor mir. Er hält stand. Vor dem Hohen Rat, vor Pilatus. Vor den Spöttern, den Hetzern. Vor den Gleichgültigen, den Enttäuschten. Er tut das auch für mich. 

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Ein Morgenlied

Das Lied von dem Knecht hat Eingang gefunden in unser Gesangbuch. Eine wundersame Wendung deutet sich an: Ich bekomme die Zunge, müde Menschen aufzurichten. Ich bekomme das Ohr, eine neue Welt zu hören. Ich werde nicht zuschanden!
Das hat Jochen Klepper,  1903 geboren, 1938 in ein Morgenlied gefasst:

„Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.“

Angst und Klage schweigen. Jochen Klepper formuliert: „Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs Neue so, wie ein Jünger hört“
Da ist es wieder, das Bild von dem hörenden Jünger!

Wir wissen sogar den Tag, an dem das Lied entstanden ist. Es ist der 12. April 1938. Jochen Klepper bezieht sich auf die Tageslosung dieses Tages:

Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie ein Jünger. Der Herr hat mir das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und gehe nicht zurück. Denn ich weiß daß ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht. (Jes 50,4–8)

Das ist unser Predigttext!
Klepper vertraut seinem Tagebuch an:

„Weicher, glänzender Tag. Meine kleinen Osterbesorgungen für Mutter, Frau und Töchter. In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön. […] Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4.5.6.7.8, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren.“

Wenn Worte nicht mehr aus dem Ohr gehen (wir nennen sie auch Ohrwürmer), dann ist das Ohr hellwach. So hellwach, dass die vielen anderen Stimmen und Stimmungen, Töne und Misstöne sich nicht mehr dazwischen drängen können.
Ich höre Gottes Zusage, sein schöpferisches Wort, ich sehe sein – Licht!
Es war eine gute Idee, das Lied vom Knecht Gottes in ein Morgenlied zu verwandeln. Es lässt sich sogar noch – oder schon - am Abend singen. Ich werde geweckt! Mit Gottes Wort. 

 „Er will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht,
verheißen und erfüllen, damit mir nichts gebricht …“

Im Knecht-Gottes-Lied heißt es:

Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! 
Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? 
Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Hoffnungslieder! Wir singen sie! Lieder, die mutig machen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Umbrüche und Aufbrüche tauchen überall auf. Meistens verunsichernd und angstbesetzt. Die Gesellschaft driftet auseinander. In dieser Entwicklung steht die Kirchengemeinde mittendrin. Aber sie ist sehr mit sich, ihren Strukturen und Finanzen beschäftigt. Leuchtturm und Refugium ist sie nicht und traut es sich auch nicht zu.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Text! Die vielen Zugänge! Die vielen Geschichten im Hintergrund!  Ein besonderer Mensch ist da für mich Jochen Klepper mit seinem Morgenlied. Aber der Propagandist der 20er Jahre fügt sich ein, wenn auch nicht freiwillig

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Text, überhaupt die Knecht Gottes Lieder, werden mich weiter begleiten. So manche Linie habe ich noch nicht ausgezogen. Ich möchte am liebsten mit der Gemeinde selber ein Hoffnungslied schreiben! Die Aufgabe, auch mit den Menschen außerhalb der Gemeinde „Hoffnungen“ auf die Spur zu kommen, gehört zum „Evangelium“ des Propheten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach gesellt sich als Gesprächspartner dazu und übernimmt die Rolle des „Erstlesers“. Die An- und Rückfragen habe ich abgewogen und so gut es mir möglich war in der „letzten“ Fassung der Predigt berücksichtigt. Der „Erstleser“ hat die Funktion übernommen, für die Gemeinde zu sprechen, die die Predigt noch nicht gehört hat. Das ist ein tolles Unterfangen. DANKE!

Perikope
13.04.2025
50,4-9

Prüft alles und behaltet das Gute - Predigt zu Jes 51,4-6 von Elke Markmann

Prüft alles und behaltet das Gute - Predigt zu Jes 51,4-6 von Elke Markmann
51,4-6

I Mit der Liebe zurück blicken

Alles, was Ihr tut, geschehe in Liebe! 
Das zu Ende gehende Jahr stand unter der Jahreslosung: Alles, was Ihr tut, geschehe in Liebe! Haben Sie nach diesem Grundsatz gelebt? Konnte diese Jahreslosung es in Ihren Alltag schaffen? Was heißt das konkret, alles in Liebe zu tun? 
Die Liebe kann ein guter Maßstab sein. Aber sie muss präzisiert werden. Denn die Liebe ist ja selten eindeutig. Paulus schrieb diesen Satz damals an die Gemeinde in Korinth, um damit aufzuzeigen, welche Beweggründe all ihren Entscheidungen zu Grunde liegen sollten. Wenn es um konkrete Entscheidungen geht, muss das konkrete Handeln aus Liebe entfaltet und präzisiert werden. Das gilt für Gemeinden und Gruppen, aber auch für Einzelne. 
Der Predigttext für den heutigen Altjahresabend hat mich auf eine Spur gebracht. Dort ist von Gerechtigkeit die Rede. Dieses Wort ist genauso vieldeutig wie Liebe. Für mich hängt beides zusammen. 

II Lesung von Jesja 51, 4-5: Nahe ist meine Gerechtigkeit! - ?

Im Buch des Propheten Jesaja heißt es:

Hört mir gut zu, mein Volk und meine Nation, hört her auf mich! Denn Weisung geht von mir aus und mein Recht mache ich im Nu zum Licht der Völker. Nahe ist meine Gerechtigkeit, bereits losgezogen ist mein Heil. Meine Arme werden die Völker richten. Auf mich hoffen die Inseln und auf meinen Arm warten sie. 
Hebt eure Augen zum Himmel und blickt nach unten auf die Erde: Denn der Himmel wird wie Rauch verwehen und die Erde wie ein Kleid zerschlissen werden und die auf ihr wohnen wie Stechmücken sterben. 
Aber mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört. (Jes 5, 4-6 BigS)

III Das Verhältnis von menschlicher Liebe und Gottes Gerechtigkeit

Gerechtigkeit und Liebe. Sie gehören zusammen. Es geht darum, dass Menschen je nach ihren Bedürfnissen und Begabungen von anderen geliebt und gerecht behandelt werden. Das ist ein hoher Anspruch. Liebe und Gerechtigkeit sollen beide in unserem Fokus bleiben. Ich kann mich immer wieder hinterfragen, wie viel Liebe und Gerechtigkeit in meinem Alltag Platz finden. Aber es ist keine individuelle Frage. Und es ist auch keine Schlussfolgerung: Wenn ich nur richtig lieb bin, wird die Welt gerecht. 
Gottes Gerechtigkeit hat noch eine ganz andere Dimension. Gottes Gerechtigkeit und Gottes Heil gehen über unser menschliches Tun und Lassen hinaus. Es geht nicht um mich. Es geht um die Menschen, um die Völker und die Inseln. 

IV Wo ist Gerechtigkeit, Recht und Heil?

Ich blicke zurück auf ein Jahr, in dem Vieles geschehen ist. Und vieles ist nicht den Weg hin zu einer besseren liebevolleren Welt gegangen.
Meine Gedanken wandern nach Vanuatu. Das Land stellte sich der weltweiten Christenheit 2021 durch den Weltgebetstag vor. Vanuatu liegt mitten im Süd-Pazifik und besteht aus vielen Inseln. Dieses Land droht unterzugehen. Der steigende Meeresspiegel bedroht Menschenleben und ganze Länder. Bei der Klimakonferenz im November 24 kämpften Staaten wie Vanuatu um eine Zukunft und um Unterstützung. Sie haben verschwindend wenig Unterstützung bekommen. Vanuatu klagt aktuell vor dem Internationalen Gerichtshof mehr Klimaschutz ein. Ihnen bleibt keine Wahl: Sie müssen alle Wege gehen, um sich selbst zu retten. 
„Auf mich hoffen die Inseln und auf meinen Arm waren sie!“ Es reicht nicht aus, allein auf Gott zu vertrauen oder auf das Wohlwollen und die Einsicht anderer Staaten. Vanuatu und viele andere Länder klagen nun. Sie klagen bei weltlichen Gerichten Gerechtigkeit ein. 
Ich fürchte, dass Vanuatu und andere Inseln nicht stark genug sind. Ich fürchte, dass sie Ähnliches erleben wie bei der Klimakonferenz: Die anderen sind mächtiger und leben auf Kosten der Inseln. 
Was ist dann mit Gottes Gerechtigkeit? Lässt sich Gottes Gerechtigkeit mit menschlicher Gerechtigkeit vergleichen? In vielen biblischen Texten lesen wir, dass das eine nicht unbedingt mit dem anderen zu tun hat. 

V keine guten Aussichten

Bei Jesaja heißt es: Hebt eure Augen zum Himmel und blickt nach unten auf die Erde: Denn der Himmel wird wie Rauch verwehen und die Erde wie ein Kleid zerschlissen werden und die auf ihr wohnen wie Stechmücken sterben. (Jes 51, 6 a BigS)

Keine guten Aussichten! Das, was dann kommt, hört sich nach Apokalypse und Weltuntergang an. 
Und mir kommen Bilder aus den Nachrichten von Rauchschwaden über Flächenbränden in den Sinn. Sie sind nur schwer zu bekämpfen. Menschen müssen ganze Orte verlassen. Malibu ist ein Opfer der Flammen geworden. (aktuelle Nachrichten einfügen)
Wie bei vielen apokalyptischen Texten in der Bibel habe ich auch hier das Gefühl, dass dort direkt von unserer Zeit die Rede ist. Ein düsteres Bild für einen festlich-fröhlichen Abend! Und wirklich keine guten Aussichten für das neue Jahr!

VI Was bleibt!

Und dann bleibe ich am letzten Satz unseres Predigtwortes hängen: Aber mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört. 
Dieser Satz macht mich nachdenklich.
Ich spüre, dass ich mich immer wieder auf einen ähnlichen Weg begebe wie der Predigttext: Am Anfang steht mein festes Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit. Dann fällt mein Blick auf die vielen Orte und Zeiten, wo und wenn alles schief geht. Aber dann wird die Hoffnung und das Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit wieder stark. Am Ende bleibt: Aber mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört. 
Ich vertraue darauf, dass Gott größer ist als all unser Tun und Lassen. Gottes Heil und Gerechtigkeit scheinen immer wieder auf in dieser Welt. Sie werden sich durchsetzen. 

VII Prüft alles und behaltet das Gute!

Mein Blick fällt auf die Jahreslosung 2025: „Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1. Thess 5,21)
Also beginne ich von vorn: Ich prüfe und sichte alles, was ich lese und höre. Ich bedenke die aktuellen Ereignisse der Welt, die Nöte und Sorgen der Menschen, die nicht nur unter dem Klimawandel, sondern auch unter Krieg und Aufständen, Unruhen und Hunger leiden. Ich bedenke mein eigenes Leben und Handeln und meine Entscheidungen – konkret in diesem Jahr. 
Und: Ich behalte das Gute:
Ich behalte die Erzählungen von Menschen, die in den Überflutungsgebieten in Spanien unaufgefordert kommen und anfassen. 
Ich behalte die Schiffe, die geflüchtete Menschen auf dem Mittelmeer vor dem Tod retten.
Ich behalte die Ehrenamtlichen in unserer Kirche, die ihre Ideen einbringen und durch die Kirche lebendig ist.
Ich sehe Schwestern, Pfleger, Ärztinnen und Hebammen, die sich oft weit über das von ihnen Geforderte für Patientinnen und Patienten einsetzen. 
Ich sehe Erzieherinnen, die in den Tageseinrichtungen mit viel zu dünner Personaldecke intensiv mit den Kindern spielen, singen, basteln, ihnen vorlesen und sie trösten. 
Ich sehe Lehrerinnen und Lehrer, die Kindern und Jugendlichen auf ihrem Weg ins Leben helfen. 
Ich prüfe und sehe mich an. Ich blicke auf das, was ich in diesem Jahr getan habe.
Ich prüfe und schaue noch einmal auf unser Predigtwort: Und behalte, was es mir verspricht, für das, was war und ist und werden wird. Gott spricht: mein Heil wird für immer bleiben und meine Gerechtigkeit wird nicht zerstört.

Prüft alles und behaltet das Gute! (1. Thess 5,21)

Ich weiß nicht, wie Sie diesen Silvester-Tag ausklingen lassen werden. Ich lade Sie ein zu einer kleinen Übung: Schreiben Sie auf, an welche guten 100 Ereignisse Sie sich aus diesem Jahr erinnern! Es können kleine gute Ereignisse sein und große. Es braucht dazu etwas Übung und Anlauf, aber dann strömen die guten Erinnerungen. Prüft alles und behaltet das Gute für das kommende Jahr. Denn das gibt Kraft für das, was kommt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch alles Gute für das neue Jahr! 
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrerin Elke Markmann

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde meine Predigt in einer Gemeinde halten, in der kein Gottesdienst zum Neujahrstag geplant ist. Da dies in vielen Gemeinden mittlerweile normal ist, nehme ich auch schon die Jahreslosung 2025 in den Blick. 
Mir selbst ist der Blick zurück am Altjahresabend sehr wichtig. Den möchte ich stärken, ohne den Blick nach vorn völlig aus dem Blick zu verlieren. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Als erste Idee stand die Klammer aus den beiden Jahreslosungen rund um den Predigttext. Zugleich sind die Bilder der letzten Klimakonferenz sehr präsent und die aktuelle Meldung der Klage Vanuatus vor dem internationalen Gerichtshof. Zukunftsängste und Gottvertrauen stehen in den Texten und im Alltag in unseren Kirchen in Spannung. 
Ich werde beim Gottesdienst die Karte zur Jahreslosung von Susanne Niemeyer verteilen, in der die beiden Worte „Alles Gute“ groß und fett gedruckt ins Auge fallen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Hoffnung wird oft enttäuscht. Wichtig ist, dass am Ende die Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit stärker bleibt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Struktur und Aussagekraft. Danke! 

Perikope
31.12.2024
51,4-6

Es ist gut? - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Frank Nico Jaeger

Es ist gut? - Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Frank Nico Jaeger
9,1-6

Im Jahr 1804 bleiben Schnee und Frost bis in den März. Es ist ein kalter Winter, der viele Menschenleben fordert. Auch am 12. Februar ist es kalt. In einer Königsberger Wohnung liegt Immanuel Kant in seinem Bett und wartet auf den Tod. Zeitlebens hat der Philosoph sich gefragt, was man glauben darf. Was man hoffen kann.
In seinen letzten Stunden ist ein Pfarrer bei ihm und als der Philosoph nach einem Glas Wasser verlangt, nimmt er dieses mit den Worten „Es ist gut.“ Es sind die letzten Worte des großen Denkers. 
Ob er damit das Wasser meint, eine Zusammenfassung seines Lebens formuliert oder einfach den Moment des nahen Sterbens beschreibt, bleibt offen. 

300 Jahre nach der Geburt des Königsbergers fragt sich die Welt immer noch: Was darf ich hoffen? Was ist realistisch? Was hätte Immanuel Kant zu dieser Zeit gesagt? Ein „Es ist gut“ käme mir angesichts des dunklen Jahres nicht über die Lippen. Zu viele Rück- und Tiefschläge hat die Welt einstecken müssen. Es ist gut? Ich denke nicht. 
Aber gute Hoffnungen gibt es trotzdem viele. Eine Frau, die das erlebt hat, feiern wir heute. Maria hat auch nicht aufgegeben. Hat den Kopf nicht in den Sand gesteckt. Ist nicht auf halber Strecke umgedreht. 
Also geht es doch und am Ende eines harten, teilweise erschütternden Jahres fragt man zu Recht, was darf die Welt hoffen? Was darf ich hoffen?

Auf Frieden möchte ich hoffen. Auf die Niederlage des Aggressors. Das ist auch eine gute Hoffnung. Und ich hoffe gleich mit, dass Syrien nicht im Chaos versinkt. Dass sich die Inflation in Luft auflöst und ein halbes Pfund Butter nicht mehr 2,09 Euro kostet. Ich wünsche mir, dass Demonstrationen nicht zum Hass aufrufen und Frieden herrscht unter allen Völkern. Ich hoffe, wer Ordnung und Recht, wer Frieden und Freiheit bejaht, muss Unordnung, Unrecht, Unterdrückung und Krieg verneinen. 
Die Zuversicht ist eben nicht klein zu kriegen.

Gott hat einst extra das Licht angemacht. Damit es in die traurigsten Ecken scheint. Heute auch und Kant sagt: Die Hoffnung ist nicht dumm oder naiv. Und ich denke: Vielleicht können wir doch aus Fehlern lernen?

Über das Wetter im Jahr 733 v. Chr. wissen wir wenig, aber schon damals redet ein Mensch ein bisschen wie Kant über die Hoffnung. Verbreitet Zuversicht. Sagt seinem Volk, was man hoffen darf. Was realistisch ist. Gut ist es nämlich auch damals nicht.
Jesaja heißt der Prophet und er spart nicht mit großen Worten.
Das mag daran liegen, dass die schönen Farben der Schöpfung längst nicht mehr hell strahlen, grässliche Klänge durch die Welt hallen und Blut die Kleider färbt. Die Zeiten sind dunkel. 
Aber Jesaja prophezeit, dass der Schrei eines Neugeborenen die leidende Welt erlösen wird. Dass das Grau in Grau verschwindet. Dass wieder geerntet und geteilt wird. Dass alles Militärische den Flammen übergeben wird. Dass die Welt sich erneuern wird. 
Jesajas Worte tun gut – auch in dieser Zeit. Darum sagt er, richtet euch nicht ein im Dunklen. Nehmt den Ernst der Lage wahr, aber ergebt ihm euch nicht. Die Welt erscheint dunkel und verbraucht. Wohl wahr, ein tödlicher Egoismus hat sich in ihr breit gemacht, der die guten Strukturen bedroht. Die Demokratie ist gefährdet, Falschmeldungen machen die Runde und an zu vielen Ecken auf der Welt regieren das Gewehr und die Gewalt. 

Natürlich wählt Jesaja große Worte für eine Welt, die sich verlassen wähnt. Die Wüste wächst und das Licht der Hoffnung scheint spärlicher. Es ist dem Propheten hoch anzurechnen, dass er trotzdem ein Hoffnungsbild malt. Nicht als Placebo, nicht als Vertröstung. Der Trost, den Jesaja verheißt, ist konkret. Und schreit. Durchdringend und laut.
Die Nacht ist klar und kalt. Die Szenerie ist nüchtern. Aber die Hoffnung lebt. 

All das klingt dieser Tage ein wenig merkwürdig – nicht nur rund um dieses Weihnachtsfest. Aber mit Kant setze ich auf die Aufgeklärten, die guten Kräfte und mit Jesaja setze ich auf die Hoffnung, dass die Dinge sich grundlegend verändern lassen. 
Mit der Welt hoffe ich, dass das Blöde nicht gewinnt, weil das immer zum Bösen führt. Weil das Böse die Blöden braucht, so ‚wie der Sonnenkönig das Solarium‘.

300 Jahre nach der Geburt des Königsberger Philosophen Immanuel Kant und fast dreitausend Jahre nach dem Propheten Jesaja fragt die Welt immer noch: Was darf ich hoffen? Was ist realistisch? 
Irgendwo schreit ein Kind und zerreißt die Starre. Dieses Kind ist das Licht, das in der Dunkelheit stört. Eben noch im Tal des Todes, jetzt auf dem Weg zum Fest. Das ist kein Zweckoptimismus, das ist ein realistischer Weg. Eine Möglichkeit. 

Weil ich glaube, dass wir aus Fehlern lernen können – langsam, aber immerhin! 
Weil ich glaube, dass das bisschen Vernunft, das wir haben, uns besser macht, weitsichtiger. Rücksichtsvoller, freundlicher, menschlicher. 
Weil ich glaube, dass diese Welt und alles, was darinnen ist, mehr verdient hat. Gott hat diese Welt nicht aufgegeben. Und das feiern wir heute. 

Im Dezember 2024 mag das Wetter unentschieden sein. Die Lage in der Welt ist es nicht. Existenzangst liegt vielerorts mit unterm Baum. Und da ist die Sorge darum, wie es weitergeht. Wird es Frieden geben? Was wird aus den USA kommen? Die Tafeln haben nicht genug Lebensmittel, um alle versorgen zu können. Die Verschnaufpausen für uns, für die Welt werden weniger. Es steht nicht gut um uns. 
Also. Was darf ich hoffen? Was ist realistisch? 

Der Heilige Abend, die Weihnachtszeit ist die Zeit der Wunder und Wünsche. Und mein Wunschzettel sieht so aus: Ich wünsche mir mehr Rücksicht. Weniger Hass. Mehr Nachdenken, weniger Urteilen. Weniger Extremismus und mehr Bereitschaft zuzuhören. 
Möglicherweise ist das naiv und unrealistisch. Von einem „es ist gut“ bin ich mindestens 2,09 Euro entfernt, aber wie sagte einst ein großer jüdischer Denker: „Wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist.“ In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Amen. 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Frank Nico Jaeger

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Heiligabend. Die Stadtkirche ist gut gefüllt. Im Halbdunkel sitzen die Ungeübten neben denen, die vertraut sind mit Liturgie und Tag. Gemein haben alle diesen Ort, den sie für diesen Abend ausgewählt haben. Das ist für diesen Moment ihrer aller Kirche. Und so ist es auch mit der Geschichte. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ein Päckchen Butter kostet aktuell 2,09 Euro, VW will Menschen in großer Zahl entlassen, die Ukraine erlebt den dritten Kriegswinter, Immanuel Kant fragt, was darf man hoffen und in dieser Dunkelheit einer gefallenen und erschöpften Welt macht Gott das ganz große Licht an. 

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wunder gibt es immer wieder. 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Kollege hat seinen Auftrag sehr ernst genommen und maßgeblich zum Schliff beigetragen.

Perikope
24.12.2024
9,1-6