Ich bleibe im Wir - Predigt zu Röm 14,(1-6)7-13 von Julia Neuschwander
14,(1-6)7-13

Bastian Balthasar Bux ist etwa zehn Jahre alt. In der Schule hat er kaum Freunde. Auch leidet Bastian darunter, dass sein Vater nur wenig Zeit für ihn hat und wenig Verständnis. Was auch noch von Bastian zu erzählen ist: Er liest sehr gerne. Eines Tages findet Bastian in einem Antiquariat das Buch „Die unendliche Geschichte“, ein Buch, das ihn fesselt und nicht mehr loslässt. Auf seiner Suche nach Anerkennung und Abenteuer reist Bastian bald schon in seiner Phantasie in ein fernes Land. Es ist das Land Phantasien, das Land, das das Buch beschreibt.
Der Autor Michael Ende erzählt, wie Bastian dort auf ganz viele, kleine Wesen trifft, die ihn sogleich freundlich und vorurteilsfrei als Fremdling in ihrer Mitte aufnehmen. Erfreut stellt Bastian fest, dass er nunmehr als Gleicher unter Gleichen in ihre Gemeinschaft mit aufgenommen ist. Er ist froh. Endlich gehört er dazu. Hand in Hand lebt er mit ihnen, tanzt mit ihnen, isst mit ihnen, ist einer von vielen im ganz großen Reigen der Gleichen. Alle sind ganz und gar gleich. Endlich ist er Teil eines großen Ganzen, einer harmonischen Gemeinschaft. Ist das nicht ein Glück? Nein, denn irgendwann stellt er erschrocken fest: Im großen „Wir“ verliert sein „Ich“ an Bedeutung. Seine Vergangenheit, seine eigene Geschichte, seine Herkunft, sein Unterschieden-Sein von den freundlichen Wesen – dies alles scheint immer mehr zu verblassen. Ja, womöglich vergisst er sich noch im Hier und Jetzt, umso länger er bleibt! Daher fasst er bald schon einen Entschluss: Er zieht weiter. Gleich morgen früh bricht er auf...

Das besondere Ich

Wie war das noch? Begann nicht auch die neue Gemeinschaft um Jesus einst mit einzelnen, mutigen Menschen? Einzelnen, die den Aufbruch wagten? Einzelnen, die ihre alten Gemeinschaften verließen, um mit Jesus ins Unbekannte zu ziehen? Die sich dazu von ihrer Herkunftsfamilie, dem vertrauten Umfeld lossagten?
Dabei muss oft etwas Altes enden, damit etwas Neues beginnt. Jesus selbst soll – so erzählt die Bibel – bei einem seiner ersten Predigten in der Öffentlichkeit gar die eigene Mutter und seine Geschwister verleugnet haben. Zu denen um ihn herum soll er gesagt haben: „Ihr seid jetzt meine Mutter und meine Geschwister.“. Und sagte sich damit los von alten Gemeinschaften, Herkunft, Tradition und Familie.

In der Geschichte des Christentums entscheidet sich oft eine einzelne dafür, alte Gemeinschaften zu verlassen und neue Wege zu wagen. Da möchte ein einzelner Jesus nachfolgen und somit einen komplett neuen Weg einschlagen, erzählt die Bibel. Allein. Wie bei Bastian. Das Herausbilden des eigenen „Ich“ und die eigene Entscheidung dazu ist dabei so etwas wie eine große Errungenschaft des Christentums: „Du bist Du“, heisst es in einem beliebten Tauflied (Songtext von Jürgen Werth 1976). In der Taufe wird es besiegelt, das ganz Besondere, Individuelle des einzelnen Menschen. Dass ich gerade darin, in meinem Verschiedensein, Anderssein angenommen bin von Gott, so wie ich bin, dass das die Voraussetzung ist zum freien Denken und Handeln. Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene bis zum hohen Alter hin werde ich mit all meinen Besonderheiten ein Leben lang von Gott geliebt, bedeutet mir die Taufe. Gott begleitet mich überall hin in bedingungsloser Liebe und Annahme – sogar noch in den Tod und darüber hinaus. “Gott liebt dich und Gott bleibt bei dir, wohin du auch gehst.“, eine Zusage Gottes an einen jeden von uns ein ganzes Leben lang. Ein Versprechen wie ein Feuer, wie eine Flamme, die wie der brennende Dornbusch niemals verlischt.
Das bedeutet aber auch für mich: Ich brauche nicht unterzugehen im Zwang desselben um mich herum nur um des lieben Friedens willen. Ich kann meinen Mund aufmachen, wenn es unangenehm ist. Ich kann und darf in einer Gemeinschaft, die meinen Grundsätzen nicht mehr entspricht, meine eigene Meinung haben und natürlich auch sagen. Ich kann eine Gemeinschaft auch ganz verlassen, wenn sie mir nicht mehr entspricht, und bleibe dennoch in allem von Gott geschützt und bewahrt. Ganz wie die ersten Christinnen und Christen. Und wie Bastian Balthasar Bux in der Geschichte von Michael Ende, der die Gemeinschaft trotz all ihrer Geborgenheit wieder verlässt, weil er sich als anders und unterschieden, ja, verschieden empfindet und ihm dieses Unterschieden-Sein wert und wichtig ist.

Das besondere Ich im Wir der Gemeinschaft in der Gemeinde in Rom

Zu Paulus' Zeiten, wie es unser Predigttext beschreibt, hatte sich ebenfalls eine neue, bunt gemischte Gemeinschaft in Rom um Christus, den Auferstandenen, gebildet. Die neue Gemeinschaft eine Gemeinschaft der „Herausgerufenen“, wie die Kirche sich selbst damals nannte. Eine so genannte Ekklesia, gebildet durch den Ruf Gottes und die ganz persönliche Entscheidung der einzelnen Person, sich dieser anzuschließen. In der Gemeinschaft der Herausgerufenen war „das neue Ich im Wir“ aber keineswegs ein Selbstläufer: Fragen blieben offen, Zerwürfnisse drohten. Die gerade erst neu gebildete Gemeinschaft um Christus schien schon wieder auseinander zu brechen: Eine jede mit ihrer ganz besonderen Geschichte, ein jeder mit dem jeweils sehr speziellen Hintergrund. Sklaven, Christen, die aus dem Judentum kamen, Christinnen, die vom antiken Umfeld des Kaisergottkults geprägt waren. Verschiedene Menschen mit unterschiedlichsten Ansichten auch und gerade dazu, wie das christliche Leben nun ganz konkret zu gestalten sei. „Jeder und jede sollte zur eigenen Überzeugung stehen.“, schrieb Paulus damals an die Gemeinde in Rom. Und mahnte damit zu wechselseitigem Respekt als Gemeinschaft um Jesus Christus. Dabei ging es Paulus ganz konkret darum, in den einzelnen täglichen Lebensfragen auf den anderen Menschen Rücksicht zu nehmen um Christi Willen. Paulus erinnert noch einmal daran: „Niemand von uns lebt sich selbst, niemand stirbt sich selbst, sondern in Leben und Sterben gehören wir alle zum lebendigen Gott.“  Dabei geht es ihm nicht um ein Gleichmachen, sondern um die verantwortliche Entscheidung des einzelnen. Ich bin als Christ, als Christin in eine Gemeinschaft der Verschiedenen aus den vielen um mich herausgerufen, in eine Ekklesia, die Kirche, eine Gemeinschaft der einzeln Herausgerufenen, gerade nicht in eine Gemeinschaft der Gleichen wie in der Unendlichen Geschichte. Ich werde zum Ich und trete als Ich in ein Wir ein, um weiter Ich zu bleiben. Mein Unterschieden-Sein zu den anderen hat dabei in dieser Gemeinschaft Bestand, bliebt wert und wichtig.

Ubuntu – vom Ich zum Wir zum Ich

Die Grundhaltung des Ubuntu kommt ursprünglich aus dem südlichen Afrika. Das Wort „Ubuntu“ aus den Bantusprachen der Zulu und Xhosa bedeutet in etwa so etwas wie „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“, sowie die Erfahrung, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen. Ubuntu bedeutet auch: gemeinsam zu Menschen zu werden und sich einander wechselseitig menschlich zu machen. Diese Haltung stützt sich auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung, Achtung der Menschenwürde und auf das Bestreben nach einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft. Gleichzeitig setzt Ubuntu auf das universelle Band des Teilens, das alles Menschliche verbindet. So hat es Nelson Mandela, südafrikanischer Aktivist, Friedensnobelpreisträger und erster schwarzer Präsident in Südafrika selbst erklärt. Dabei ist es bezeichnend, dass Nelson Mandela die Haltung des Ubuntu ja gerade im damaligen Südafrika auf dem Hintergrund von Rassismus und Rassentrennung eingefordert hat. Es geht ihm darum, die Verschiedenheit des einzelnen Menschen zu achten und gleichzeitig eine verantwortliche, friedvolle Gemeinschaft zu stiften unter weissen und schwarzen Menschen. Das war und ist zweifellos etwas Besonderes unter Menschen, die ja gerade in Südafrika auf viele Kapitel von Gewalt und Unrecht, Leid und Schuld zurückblicken. Nur durch eine Haltung wie Ubuntu kann nochmal so etwas wie Leben, Vielfalt und Reichtum nach Südafrika zurückkehren, sagt Nelson Mandela. Und nur durch Ubuntu kann noch einmal so etwas wie Friede zustande kommen, wenn Menschen im anderen Menschen die Menschlichkeit sehen und sich Menschen gegenseitig zur Menschlichkeit einladen.

Der Widerspruch wird aufgelöst

Wenn ich alte Gräben hinter mir lasse, wenn ich andere gerade in ihrem Anderssein annehme, toleriere und akzeptiere, wenn ich echte Begegnung suche, wenn ich von Mensch zu Mensch meine Meinung aussprechen und hinterfragen kann, dann bin ich auf dem Weg zu Ubuntu. Die Bibel sagt, dann bin ich auf dem Weg zu echter Befreiung. Dann gelingt mir als Christenmensch der dreifache Sprung – zum Ich, zum Wir und  wieder zum Ich. Es ist möglich, ein respektvolles „Wir“ zu bilden, wenn ich als Mensch frei in dieses „Wir“ eintrete und ein freier Mensch bleibe in dieser Gemeinschaft.

Martin Luther betonte so gerade die Freiheit eines jeden erlösten, begnadigten Menschen vor Gott, ein Christenmensch, der vor Gott frei ist vor allem Zwang zu guten Werken. Und der gleichzeitig dadurch, dass er selbst angesehen ist vor Gott, wieder anderen aus Dankbarkeit Gutes tut. Martin Luther hat die Freiheit eines Christenmenschen doppelt formuliert, um das freie Ich im verantwortlichen Wir näher zu bezeichnen: „Der Christenmensch ist ein freier Mensch und niemanden untertan. Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedem untertan.“ (Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520).

Im Jugendbuch von Michael Ende „Die unendliche Geschichte“ kommen die scheinbar widersprüchlichen Sätze von Martin Luther am Ende zusammen. Beides ist gleichzeitig möglich. Das Paradoxon, der Widerspruch wird aufgelöst. Und zwar durch die Fähigkeit des Bastian, sich zwischen den verschiedenen Welten und den verschiedenen Sichtweisen hin und her zu bewegen. Bastian kann so als einzelner eigenständig und zugleich mit anderen verbunden bleiben. Er hat zu seinem befreiten Selbst gefunden, das er auch in der Gemeinschaft behält.
Das Buch von Michael Ende endet damit, dass Bastian in seine alten Gemeinschaften zurückkehrt. Mit seinen bunten Erfahrungen aus Phantasien ist er in der Lage, neue und andere Beziehungen zu knüpfen und zu leben. Es werden wertschätzende, bereichernde, vielfältige und friedvolle Beziehungen, erzählt Michael Ende, auch und gerade zum eigenen Vater. So sagt der Buchhändler Karl Konrad Koreander in der „Unendlichen Geschichte“ zu Balthasar Bastian Bux, als Bastian schließlich ins Antiquariat, dem Ausgangspunkt seiner Reise, zurückkehrt: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantasien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantasien und kehren wieder zurück. So wie du, Bastian. Und sie machen beide Welten gesund.“

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Julia Neuschwander

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Als Christ*innen mutig den Mund aufzumachen und dabei den Wert des jeweils besonderen, anderen Menschen zu betonen ist für mich wertvoller Beitrag der Kirche im Bewahren unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Herausbilden des eigenen Selbst in Freiheit und Verbundenheit kann sowohl Thema von Konfirmandinnen und Konfirmanden als auch von Menschen jeglichen Alters sein. Es stellt sich uns in den verschiedenen Lebensphasen immer wieder neu – gerade im Blick auf den anderen und die Gemeinschaft.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Unendliche Geschichte von Michael Ende hat mich bei der Predigtvorbereitung inspiriert. Es ist mir sehr eindrücklich geworden, wie der Junge Bastian Balthasar Bux durch seine Reise in das Land Phantasien sein eigenes Selbst herausbildet und nach seiner Rückkehr zu neuen, wertschätzenden und wechselseitig bereichernden Beziehungen findet.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Als getaufte Christin brauche ich nicht unterzugehen im Zwang desselben um mich herum nur um des lieben Friedens willen. Ich kann meinen Mund aufmachen, wenn es unangenehm ist. Ich kann und darf in einer Gemeinschaft, die meinen Grundsätzen nicht mehr entspricht, meine eigene Meinung haben und natürlich auch sagen. Ich kann eine Gemeinschaft auch ganz verlassen, wenn sie mir nicht mehr entspricht, und bleibe dennoch in allem von Gott geschützt und bewahrt. Wie die ersten Christinnen und Christen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Sehr hilfreich und somit weiterführend für mich in der weiteren Bearbeitung war das farbliche Markieren und Titulieren der einzelnen Textabschnitte durch meine Predigtcoach. So war es mir möglich, meine Ideen, Themen und Gedankenschritte zu sortieren.

Perikope
17.11.2024
14,(1-6)7-13