Der Weihnacht zweiter Tag und zweiter Fall - Predigt zu Röm 1,1-7 von Jürgen Kaiser
Zweiter Weihnachtstag. Es wird wieder ruhiger. Die Aufregung der Heiligen Nacht ist verrauscht, die Geschenke sind ausgepackt, die Töpfe gespült, die Essensreste eingetuppert. Jetzt ist die Zeit der Weihnachtsnachlese. Die noch ungeöffnete Weihnachtspost lesen. Vielleicht erfahre ich außer den üblichen Grüßen noch was Neues von Menschen, von denen ich lange nichts gehört habe. Oder gehe in die Kirche, um zu hören, was Weihnachten jenseits von Stall und Krippe ist. Oder beides: Weihnachtspost lesen und erfahren, was Weihnachten jenseits von Stall und Krippe ist.
Weihnachtspost in der Kirche. Ein uralter Brief von Paulus. Wie geht es dem eigentlich? Lange nichts von ihm gehört. Was schreibt er? Keine Weihnachtsgrüße, keine Weihnachtsgeschichte, nichts vom Kind, nicht mal ein Stern, aber viel von Jesus Christus.
Den Anfang des Römerbriefes am zweiten Weihnachtstag vorzulesen, ist ein bisschen so, als hätte sich da zwei, drei Tage – und nehmen wir die zur Vorweihnachtszeit gewordene Adventszeit hinzu – drei, vier Wochen lang ein Appetit angestaut, der jetzt endlich gefüttert werden will. Nach wochenlangem Süßkram endlich ein paar saure Gurken. Ein Überdruss an Zimt und Zucker, an Sternen und Kerzen, an Stall und Krippen, Maria und Josef, Ochs und Esel sehnt sich nach Schwarzbrot und Ballaststoffen, nach Theologie und gehaltvollen Texten. An Heilig Abend kam das Christkind zur Welt und am zweiten Weihnachtstag kommt die Theologie hinterher.
Der Anfang des Römerbriefes. Kräftiges Zeug.
Paulus, Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausersehen, das Evangelium Gottes zu verkündigen, das er durch seine Propheten in heiligen Schriften schon seit langem verheißen hat - das Evangelium von seinem Sohn, der nach dem Fleisch aus dem Samen Davids stammt, nach dem Geist der Heiligkeit aber eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht, seit der Auferstehung von den Toten: das Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn, durch den wir Gnade und Apostelamt empfangen haben, Glaubensgehorsam zu erwirken und seinen Namen zu verbreiten unter allen Völkern, zu denen auch ihr als in Jesus Christus Berufene gehört -, an alle in Rom, die von Gott geliebt und zu Heiligen berufen sind: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
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Das ist der Anfang des Römerbriefes und wenn ihr euch jetzt eingestehen müsst, eigentlich nichts verstanden zu haben, weil alles so an euch vorbeigerauscht ist – eine Art von Jesus-Christus-Rauschen –, dann muss euch das nicht bedrücken. Es liegt am Text, nicht an euch. Es liegt an Paulus, der es so aufgeschrieben hat.
Eine harte Nuss ist ihm da vor die Füße gefallen. Lasst sie uns knacken und sehen, was drinsteckt!
Was wir gehört haben, ist ein einziger Satz. Im griechischen Original ein einziger Satz mit sage und schreibe 93 Wörtern. Der Hauptsatz steht außen rum, in der Schale und ist ganz kurz. Der Hauptsatz ist das, was eigentlich gesagt werden soll und das ist: Paulus an alle in Rom: Herzliche Grüße, Gnade und Friede von Gott euch allen!
Also doch ein bisschen Weihnachtspost. Ein Friedensgruß. Friede sei mit euch. Denen in Rom und denen in Israel, im Libanon, in Syrien und im Gazastreifen und denen in der Ukraine. Friede euch und aller Welt, Friede von Gott.
Aber was ist unter der Schale, worin besteht der Kern, die 71 Wörter dazwischen? Weihnachtsgrammatik. Der Kern besteht substantiell aus Jesus Christus und ganz viel Genitiv. Wenn ich richtig gezählt habe, stehen 37 von 93 Wörtern im Genitiv, das sind 40 %. So viel Genitiv, das geht nur im Griechischen. Jesus Christus kommt viermal vor, immer im Genitiv.
Ihr erinnert euch: Genitiv, der zweite Fall, von lateinisch genus und griechisch γένος. Der Fall der Abstammung, was bei jedem von uns der Fall ist, denn von irgendjemand kommen wir alle. Wir sind die Kinder unserer Eltern. Die einen macht das stolz, den anderen ist es peinlich. Kind deiner Eltern – mit dem Genitiv der Abstammung musst du ein Leben lang auskommen. Der Genitiv bezeichnet das Herkommen, aber auch allgemein das, wovon das Nomen abhängt, ein Genitiv der Abhängigkeit. Den Genitiv der Abstammung kriegst du nicht los, aber den Genitiv der Abhängigkeit, den wollen wir loswerden. Unabhängig sein wollen wir. Frei sein, meine eigene Herrin sein. Ein Nomen sein, einen Namen haben, ein Subjekt sein ohne Genitiv. Brauch ich nicht, will ich nicht, ich bin ich und keines andern.
Ist Freiheit Selbstbestimmung? Macht Selbstbestimmung glücklich?
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Früher, als es noch die durch Abstammung großen Herren gab, die Edlen und die Adligen, die Kaiser und Könige und Fürsten, da gab es vieler solcher Briefe, die mit 93 oder mehr Wörtern in einem Satz anfingen. Wenn die Herren einen Brief von ihren Kanzlern schreiben ließen, dann schrieben sie „Ich, Wilhelm oder Friedrich oder Heinrich, Herr von …“ Und dann kommen die ganzen Besitztümer im Genitiv, all die Gegenden, die von ihm abhängig waren. So stellte sich ein Herr in Briefen und Urkunden vor, protzte mit seinem Besitz. Ich bin, was ich habe.
So macht es auch der Paulus. Er stellt sich in seinem Schreiben den Römern vor in einem 93 Wörter langen Vorspruch mit vielen Genitiven. Macht es ebenso und macht doch das genaue Gegenteil von dem, was die Herren taten. Er sagt nicht, worüber er alles Herr sei, was alles ihm gehöre, sondern er sagt, dass er Diener, Sklave sei, nämlich Sklave von Jesus Christus. Also nicht: Ich, Wilhelm, Friedrich, Heinrich, Herr von dem und dem…, sondern Ich, Paulus, Sklave von Jesus Christus, der dies und das ist.
Man kann diesen einen riesigen Satz mit dem Gruß und den vielen Genitiven im Deutschen gar nicht angemessen übersetzen. So viel Genitiv verträgt die deutsche Sprache gar nicht. Und wahrscheinlich verträgt auch unser Gemüt nicht so viel Abhängigkeit. Oder doch?
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Da schreibt einer einen Brief, sagt im ersten Wort, wie er heißt – Paulus – und im zweiten Wort, dass er ein Sklave ist. Lese ich den Brief aber weiter, wundere ich mich. Es ist nicht der Brief eines Sklaven. Keine Klage über ein bedauernswertes Schicksal, keine Ängste, keine Bitte, ihm zu helfen und ihn zu befreien. Im Gegenteil. Da stellt sich einer als Sklave vor und schreibt dann sehr selbstbewusst und erstaunlich souverän. Und nicht nur dies. Der ganze Römerbrief ist ein einziger Freiheitsbrief. Er atmet Freiheit mit jedem Zug, in jedem Satz, sogar in jedem Genitiv und etwa in der Mitte des Briefes fällt dann endlich das Wort Freiheit. Paulus schreibt von der Freiheit der Kinder Gottes. Die ganze Schöpfung werde frei werden von der Sklaverei der Vergänglichkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8,21).
Dieser Paulus ist ein Kind Gottes. Er ist ein Sklave, er ist abhängig und doch frei. Er ist so abhängig und so frei wie Kinder abhängig und doch frei sind. Es gibt offenbar eine Abhängigkeit, in der wir uns frei fühlen. Diese freimachende Abhängigkeit hat einen Namen: Liebe.
Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Röm 8,38f)
Gottes Liebe macht frei. Sich von Gott geliebt wissen, macht frei von allem anderen. Nichts, gar nichts, kein Geschöpf dieser Welt, auch nicht der Tod, auch nicht das Leben hat dann noch Macht über uns.
Du bist ein Kind Gottes. Du bist an Gott gebunden, bist abhängig von ihm und gerade in dieser Abhängigkeit bist du ein freier Mensch, frei von allem anderen. Denn diese Abhängigkeit ist Liebe und diese Liebe macht dich frei.
Du musst dich nicht selbst bestimmen, du musst dir nicht selbst alles vergeben, du musst dich nicht selbst trösten und in den Arm nehmen, du musst dir nicht alles selbst danken, du musst dich nicht mal selbst lieben. Denn auch das kommt am Ende von Gott. Wer sich von ihm geliebt weiß, wird sich auch selbst lieben und annehmen. Liebe ist die schönste Abhängigkeit und die wahre Freiheit.
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Zweiter Weihnachtstag. Es ist wieder ruhiger geworden. Die Geschenke sind ausgepackt, die Töpfe gespült. Zeit für die Weihnachtsnachlese. Uralte Weihnachtspost. Ein Brief aus einer Zeit, als es Weihnachten noch nicht gab und Ostern wohl noch nicht gefeiert wurde und Himmelfahrt noch nicht im Kalender stand und alles doch schon da war. Weil Jesus Christus schon da war, der seiner irdischen Herkunft nach von David abstammt, was wir an Weihnachten feiern, der von den Toten auferstanden ist, was wir an Ostern bejubeln, und der von Gott zum Sohn eingesetzt wurde und bei Gott im Himmel ist. Alles hineingepackt in einen einzigen langen Satz, in dem Paulus zuerst Paulus sagt und dann gleich Jesus Christus und ganz wenig über sich sagt und ganz viel über den. So machen es die Liebenden. Sie schwärmen vom anderen und wenn sie griechisch schwärmen, schwärmen sie im Genitiv.
Ein bisschen schwärmen darf man noch am zweiten Weihnachtstag. Ein bisschen darf der Rausch der Heiligen Nacht noch weiterrauschen. So ein schöner Weihnachtsbrief. Und so viel Liebe zum Genitiv und Liebe im Genitiv, Liebe im zweiten Fall.
Der Weihnacht zweiter Tag und zweiter Fall. Fall in love. Gott ist Mensch geworden in Jesus Christus aus Liebe zu uns, ein ganzes Menschenleben, damit du erlebst, was Liebe ist, wie Liebe ist und wer Liebe ist. Du wirst frei sein und glücklich, du geliebtes Kind Gottes.
Gnade mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde, die am zweiten Weihnachtstag im Französischen Dom in Berlin zusammenkommt, besteht überwiegend aus eher gut gebildeten Menschen, die öfter in die Kirche kommen und nicht nur an Weihnachten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Diesmal hat mich der griechische Text nicht nur beschäftigt, sondern auch inspiriert und zum Versuch angeregt, aus Grammatik eine Botschaft zu schütteln.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass mich auch ein Episteltext – sonst nicht so meine Sache – begeistern kann und dass ich mich auch mit einer Predigt fast ohne jeden gesellschaftlichen oder politischen Aktualitätsbezug auf die Kanzel wagen kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider hat sich kein Coach gefunden. Es ist aber gut, Zeit zu haben und den Predigtentwurf erst zu überarbeiten, wenn er ein paar Tage gelegen hat und diesen Schritt dann wieder ein paar Tage später zu wiederholen.
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Nicht aufhören zu hoffen - Predigt zu Röm 15,4-13 von Andreas Schwarz
4 Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. 5 Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, 6 damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. 7 Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre. 8 Denn ich sage: Christus ist ein Diener der Beschneidung geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind; 9 die Heiden aber sollen Gott die Ehre geben um der Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht: »Darum will ich dich loben unter den Heiden und deinem Namen singen.« 10 Und wiederum heißt es: »Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk!« 11 Und wiederum: »Lobet den Herrn, alle Heiden, und preisen sollen ihn alle Völker!« 12 Und wiederum spricht Jesaja: »Es wird kommen der Spross aus der Wurzel Isais, und der wird aufstehen, zu herrschen über die Völker; auf den werden die Völker hoffen.« 13 Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Herr, lass unsere Füße sichere Tritte tun,
dein Wort geleite uns auf allen unseren Wegen.
Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang
Sei gelobt der Name des Herrn. Amen.
Hoffentlich kommen viele Menschen zu den Weihnachtsgottesdiensten.
Hoffentlich erleben wir schöne Gottesdienste, die Freude machen und den Glauben stärken.
Hoffentlich vertragen wir uns gut mit all den Menschen, denen wir an Weihnachten begegnen.
Hoffentlich schaffe ich alles, was ich schaffen möchte – oder was von mir erwartet wird:
Geschenke zu besorgen, Essen zu planen und alles dafür zu besorgen, das Haus sauber und geschmückt zu haben.
Und hoffentlich funktioniere ich nicht nur, sondern habe auch Grund, mich zu freuen und gute Gemeinschaft zu genießen.
Advent ist eine besondere Zeit zu hoffen.
Es gibt genug zu hoffen, in jedem Leben.
Nichts ist perfekt oder vollkommen so, wie gewünscht.
Immer bleibt etwas offen, unerfüllt.
Wir werden enttäuscht.
Wir müssen verzichten, Abstriche machen.
Wir erleiden Abschied und Verlust.
Wir sind beteiligt an Missverständnis und Unverständnis, an Vorwürfen, Streit und Entzweiung.
Wir wünschen uns das Leben besser.
Ich denke dabei an das persönliche Leben, so wie es sich gestaltet: gesundheitlich und besonders auch, was unsere Beziehungen angeht.
Ich habe das gemeindliche Leben vor Augen und wünsche, dass mehr Menschen die Einladungen annehmen, dass mehr Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und diese auch zu tragen.
Ich denke an das kirchliche Leben in der Hoffnung, dass die Gemeinden spüren zusammenzugehören, dass sie bewusst ein kirchliches Profil zu haben, dass sie erleben, wie sie geführt und geleitet werden und sich auf einem gemeinsamen Weg wissen.
Weil so vieles anders ist, lückenhaft, fehlerhaft, unvollständig, darum gibt es auch so viel zu hoffen.
Hoffentlich wird es in der Zukunft besser, als es jetzt ist und zuletzt gewesen ist.
Was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.
Wie gut, wenn wir im Advent hören, dass unser Gott ein Gott der Hoffnung ist.
Wie hilfreich, wenn uns heute am 3. Advent gesagt wird, der Sinn der Heiligen Schrift ist der, uns Hoffnung zu machen.
Gott redet mit uns, damit wir etwas erwarten.
Gott hat uns die Bibel gegeben, damit wir darin den Grund zur Freude finden. Zur Vorfreude auf das Bessere, das kommt.
Wir haben die Schrift, können auf sie hören und in ihr lesen, damit wir hoffen.
Damit wir nicht einer negativen Stimmung erliegen.
Wenn Erfahrungen unangenehm sind, steigt die Gefahr, alles im schlechten Licht zu sehen und darum zu resignieren:
Alles wird schlechter, es geht nur noch bergab, es hat alles keinen Sinn mehr.
Und dann kommt es auch so.
Selbsterfüllende Prophezeiung nennt man das.
Menschen hören etwas Unangenehmes, erleben es vielleicht auch so und glauben dann, dass es immer schlechter wird. Sie reden es sich ein und verhalten sich auch so. Und dann kommt es auch so und sie fühlen sich bestätigt.
Dabei haben wir es selbst herbeigeführt.
Weil wir keine Hoffnung haben.
Wir hören, was Gott sagt, damit wir hoffen – auf das, was kommt, und dass es besser ist als das, worunter wir womöglich leiden.
Das Anstrengende daran ist: Wir müssen dabei mitwirken. Das Schöne daran ist, wir dürfen daran mitwirken.
Nicht, dass wir die Zukunft gut machen.
Aber an der Hoffnung sind wir beteiligt.
Die kommt nicht einfach über uns, wir gestalten sie mit.
Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, wie es Christus Jesus entspricht, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Ehre.
Es passieren wundervolle und bewegende Dinge, wenn wir Gottesdienst feiern. Nicht nur, dass wir schöne Orgelmusik hören, wir werden auch angeleitet, gemeinsam zu singen. Zur gleichen Zeit singen wir die gleichen Worte; nicht irgendwelche. Wir loben und preisen Gott mit denselben Liedern.
Uns unterscheidet ganz viel.
Es gibt vermutlich auch keine andere Veranstaltung, die wir genau in dieser Zusammensetzung besuchen würden, als diesen Gottesdienst.
Wir haben so unterschiedliche Geschichten und Interessen, befinden uns an völlig verschiedenen Lebensstationen und kommen hierher, hören, beten und – vor allem – singen gemeinsam. Loben Gott einmütig.
Was wir hören und noch mehr, was wir selbst gemeinsam singen, befördert die Hoffnung.
Wer mit anderen zusammen Gott dankt und lobt, der tut mehr, als er selbst leisten und bewerkstelligen kann. Der drückt seine Einstellung hörbar und mit anderen verbunden aus: Leben ist nicht nur, was wir daraus machen. Leben ist, was Gott uns schenkt und für die Zukunft verspricht.
„Ich kann auch alleine und zuhause glauben, dazu brauche ich keine Kirche.“
Das höre ich immer wieder einmal von Menschen, die damit erklären, warum sie aus der Kirche austreten oder, wenn sie denn drinbleiben, warum sie nicht zum Gottesdienst kommen.
Mag sein, dass da etwas Wahres dran ist. Dass es Gründe gibt, so zu entscheiden und ich muss das nicht verstehen. Ich habe es auch nicht zu beurteilen.
Aber ohne das gemeinsame Singen, mit anderen Gott danken und loben, schneidet man sich selbst von einer Kraftquelle ab, die man alleine nicht haben kann.
Wobei die anderen ja schon auch ein Problem sein können. Manchmal sind ja gerade die anderen ein Grund, wegzubleiben. Weil die komisch sind oder anders, weil man keine Gemeinsamkeit spürt oder sich über sie geärgert hat.
Das war wohl auch schon in Rom so. Nicht ohne Grund ermahnt Paulus die Gemeindeglieder, einander anzunehmen. Das gehört offensichtlich dazu; wo Menschen miteinander zu tun haben, da gibt es auch Spannungen, Differenzen und womöglich Trennungen.
Hoffnung und Gemeinschaft. Das gehörte scheinbar schon immer zusammen. Heute erleben wir vielleicht mehr als jemals zuvor, wie wahr das ist. Gesellschaften driften mehr und mehr auseinander, nicht nur in den USA, auch bei uns. Menschen sind gedanklich und mit ihren Meinungen und Positionen so weit auseinander, dass es fast nicht mehr möglich ist, miteinander zu reden ohne zu streiten. Die Politiker geben dafür leider ein lebhaftes Beispiel vor.
Und dann sind da die vielen Menschen, die die Hoffnung verlieren. Die Hoffnung, dass diese Welt noch zu retten ist, dass der Klimawandel abgeschwächt wird und Leben länger und erträglicher möglich bleibt auf dieser Erde. Die Hoffnung, dass Völker und Gruppierungen aufhören, Krieg gegen andere zu führen, als würde Gewalt irgendetwas zum Guten bewegen.
Was kann nötiger und hilfreicher sein als Hoffnung und Gemeinschaft?
Gerade für eine christliche Gemeinde. Die sich aus unterschiedlichsten Menschen zusammengefunden hat und auf einem gemeinsamen Weg ist. Jetzt in unsicherer Zeit. Wie geht es weiter? Wer kommt? Und vor allem: wann? Wenn überhaupt? Haben wir eine Zukunft und eine Chance darauf?
Paulus lädt uns ein, aus Gottes Geschichte mit seinem Volk und mit seinem Wort Hoffnung zu schöpfen.
Wir haben die Bibel, können darin lesen und darauf hören. Wir können entdecken, wie Gott zu seinem Wort steht, das er vor Jahrtausenden an seine Menschen gerichtet hat. Dass er treu ist und hält, was er verspricht.
Es braucht Kraft und Geduld in ungeklärten Zeiten.
Aber vor allem braucht es Hoffnung und Gemeinschaft.
Gott lässt seine Gemeinde nicht im Stich. Er wird sie auch in Zukunft leiten und führen, auf welchen Wegen auch immer. Für alle ist es gut, wenn sie immer wieder spüren, dass niemand mit seiner Sorge allein ist, wenn Gemeinde sich trifft, miteinander betet, feiert, singt, auf sein Wort hört und sich gegenseitig trägt und stützt.
Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Im Gottesdienst werden Menschen sein, die den Advent bewusst leben. Es ist noch nicht Weihnachten, es ist die liturgische Farbe violett, wir singen kein Gloria. Aber es ist alles nach vorn ausgerichtet. Schon Vorfreude auf Weihnachten und was das jeweils in den Familien bedeutet. Aber auch das Wissen um die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens. Eine bereitete Situation für die Botschaft der Hoffnung, die Menschen gerne hören und dankbar aufnehmen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Meine auch persönliche Wahrnehmung ist, wie lebens- und überlebenswichtig es ist, eine Hoffnung zu haben, eine begründete, eine zugesagte. Ich glaube, dass eine solche Hoffnung die Kraft hat, über das hinauszuschauen, was das Leben im Moment belastet und einschränkt. Das Dunkle und Schwere ist nicht zu leugnen, es hat seinen Platz im Leben. Aber die Hoffnung hat eine hilfreiche Wirkung, die Kerzen im Advent lassen das aufleuchten. Das schenkt mir selbst Freude, mit der Gemeinde diesen Gottesdienst zu feiern in der ehrlichen Spannung zwischen Leid und Hoffnung auf Zukunft.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottesdienst zu feiern – sowohl als leitender Pfarrer, als auch inzwischen zunehmend als Mitfeiernder – verbindet Menschen miteinander, die Sehnsucht haben und Hoffnung brauchen. Dadurch, dass sie zum Gottesdienst kommen, geben sie zu erkennen, dass sie von dort Nahrung für ihre Hoffnung erwarten. Wir sind mit unseren völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen so sehr auf einem gemeinsamen Weg, das nehme ich aus diesem Predigtwort für die Zukunft gerne mit.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Dass bleibend sprachliche Beobachtungen und Korrekturen auch zur inhaltlichen Klarheit geführt haben. Ich bin dankbar, dass auch diese Predigt durch wertschätzende Kritik ungewollte Floskeln verloren hat und von allgemeinen zu persönlichen Aussagen geführt wurde.
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Ich bleibe im Wir - Predigt zu Röm 14,(1-6)7-13 von Julia Neuschwander
Bastian Balthasar Bux ist etwa zehn Jahre alt. In der Schule hat er kaum Freunde. Auch leidet Bastian darunter, dass sein Vater nur wenig Zeit für ihn hat und wenig Verständnis. Was auch noch von Bastian zu erzählen ist: Er liest sehr gerne. Eines Tages findet Bastian in einem Antiquariat das Buch „Die unendliche Geschichte“, ein Buch, das ihn fesselt und nicht mehr loslässt. Auf seiner Suche nach Anerkennung und Abenteuer reist Bastian bald schon in seiner Phantasie in ein fernes Land. Es ist das Land Phantasien, das Land, das das Buch beschreibt.
Der Autor Michael Ende erzählt, wie Bastian dort auf ganz viele, kleine Wesen trifft, die ihn sogleich freundlich und vorurteilsfrei als Fremdling in ihrer Mitte aufnehmen. Erfreut stellt Bastian fest, dass er nunmehr als Gleicher unter Gleichen in ihre Gemeinschaft mit aufgenommen ist. Er ist froh. Endlich gehört er dazu. Hand in Hand lebt er mit ihnen, tanzt mit ihnen, isst mit ihnen, ist einer von vielen im ganz großen Reigen der Gleichen. Alle sind ganz und gar gleich. Endlich ist er Teil eines großen Ganzen, einer harmonischen Gemeinschaft. Ist das nicht ein Glück? Nein, denn irgendwann stellt er erschrocken fest: Im großen „Wir“ verliert sein „Ich“ an Bedeutung. Seine Vergangenheit, seine eigene Geschichte, seine Herkunft, sein Unterschieden-Sein von den freundlichen Wesen – dies alles scheint immer mehr zu verblassen. Ja, womöglich vergisst er sich noch im Hier und Jetzt, umso länger er bleibt! Daher fasst er bald schon einen Entschluss: Er zieht weiter. Gleich morgen früh bricht er auf...
Das besondere Ich
Wie war das noch? Begann nicht auch die neue Gemeinschaft um Jesus einst mit einzelnen, mutigen Menschen? Einzelnen, die den Aufbruch wagten? Einzelnen, die ihre alten Gemeinschaften verließen, um mit Jesus ins Unbekannte zu ziehen? Die sich dazu von ihrer Herkunftsfamilie, dem vertrauten Umfeld lossagten?
Dabei muss oft etwas Altes enden, damit etwas Neues beginnt. Jesus selbst soll – so erzählt die Bibel – bei einem seiner ersten Predigten in der Öffentlichkeit gar die eigene Mutter und seine Geschwister verleugnet haben. Zu denen um ihn herum soll er gesagt haben: „Ihr seid jetzt meine Mutter und meine Geschwister.“. Und sagte sich damit los von alten Gemeinschaften, Herkunft, Tradition und Familie.
In der Geschichte des Christentums entscheidet sich oft eine einzelne dafür, alte Gemeinschaften zu verlassen und neue Wege zu wagen. Da möchte ein einzelner Jesus nachfolgen und somit einen komplett neuen Weg einschlagen, erzählt die Bibel. Allein. Wie bei Bastian. Das Herausbilden des eigenen „Ich“ und die eigene Entscheidung dazu ist dabei so etwas wie eine große Errungenschaft des Christentums: „Du bist Du“, heisst es in einem beliebten Tauflied (Songtext von Jürgen Werth 1976). In der Taufe wird es besiegelt, das ganz Besondere, Individuelle des einzelnen Menschen. Dass ich gerade darin, in meinem Verschiedensein, Anderssein angenommen bin von Gott, so wie ich bin, dass das die Voraussetzung ist zum freien Denken und Handeln. Als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene bis zum hohen Alter hin werde ich mit all meinen Besonderheiten ein Leben lang von Gott geliebt, bedeutet mir die Taufe. Gott begleitet mich überall hin in bedingungsloser Liebe und Annahme – sogar noch in den Tod und darüber hinaus. “Gott liebt dich und Gott bleibt bei dir, wohin du auch gehst.“, eine Zusage Gottes an einen jeden von uns ein ganzes Leben lang. Ein Versprechen wie ein Feuer, wie eine Flamme, die wie der brennende Dornbusch niemals verlischt.
Das bedeutet aber auch für mich: Ich brauche nicht unterzugehen im Zwang desselben um mich herum nur um des lieben Friedens willen. Ich kann meinen Mund aufmachen, wenn es unangenehm ist. Ich kann und darf in einer Gemeinschaft, die meinen Grundsätzen nicht mehr entspricht, meine eigene Meinung haben und natürlich auch sagen. Ich kann eine Gemeinschaft auch ganz verlassen, wenn sie mir nicht mehr entspricht, und bleibe dennoch in allem von Gott geschützt und bewahrt. Ganz wie die ersten Christinnen und Christen. Und wie Bastian Balthasar Bux in der Geschichte von Michael Ende, der die Gemeinschaft trotz all ihrer Geborgenheit wieder verlässt, weil er sich als anders und unterschieden, ja, verschieden empfindet und ihm dieses Unterschieden-Sein wert und wichtig ist.
Das besondere Ich im Wir der Gemeinschaft in der Gemeinde in Rom
Zu Paulus' Zeiten, wie es unser Predigttext beschreibt, hatte sich ebenfalls eine neue, bunt gemischte Gemeinschaft in Rom um Christus, den Auferstandenen, gebildet. Die neue Gemeinschaft eine Gemeinschaft der „Herausgerufenen“, wie die Kirche sich selbst damals nannte. Eine so genannte Ekklesia, gebildet durch den Ruf Gottes und die ganz persönliche Entscheidung der einzelnen Person, sich dieser anzuschließen. In der Gemeinschaft der Herausgerufenen war „das neue Ich im Wir“ aber keineswegs ein Selbstläufer: Fragen blieben offen, Zerwürfnisse drohten. Die gerade erst neu gebildete Gemeinschaft um Christus schien schon wieder auseinander zu brechen: Eine jede mit ihrer ganz besonderen Geschichte, ein jeder mit dem jeweils sehr speziellen Hintergrund. Sklaven, Christen, die aus dem Judentum kamen, Christinnen, die vom antiken Umfeld des Kaisergottkults geprägt waren. Verschiedene Menschen mit unterschiedlichsten Ansichten auch und gerade dazu, wie das christliche Leben nun ganz konkret zu gestalten sei. „Jeder und jede sollte zur eigenen Überzeugung stehen.“, schrieb Paulus damals an die Gemeinde in Rom. Und mahnte damit zu wechselseitigem Respekt als Gemeinschaft um Jesus Christus. Dabei ging es Paulus ganz konkret darum, in den einzelnen täglichen Lebensfragen auf den anderen Menschen Rücksicht zu nehmen um Christi Willen. Paulus erinnert noch einmal daran: „Niemand von uns lebt sich selbst, niemand stirbt sich selbst, sondern in Leben und Sterben gehören wir alle zum lebendigen Gott.“ Dabei geht es ihm nicht um ein Gleichmachen, sondern um die verantwortliche Entscheidung des einzelnen. Ich bin als Christ, als Christin in eine Gemeinschaft der Verschiedenen aus den vielen um mich herausgerufen, in eine Ekklesia, die Kirche, eine Gemeinschaft der einzeln Herausgerufenen, gerade nicht in eine Gemeinschaft der Gleichen wie in der Unendlichen Geschichte. Ich werde zum Ich und trete als Ich in ein Wir ein, um weiter Ich zu bleiben. Mein Unterschieden-Sein zu den anderen hat dabei in dieser Gemeinschaft Bestand, bliebt wert und wichtig.
Ubuntu – vom Ich zum Wir zum Ich
Die Grundhaltung des Ubuntu kommt ursprünglich aus dem südlichen Afrika. Das Wort „Ubuntu“ aus den Bantusprachen der Zulu und Xhosa bedeutet in etwa so etwas wie „Menschlichkeit“, „Nächstenliebe“ und „Gemeinsinn“, sowie die Erfahrung, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Ein Mensch ist ein Mensch durch andere Menschen. Ubuntu bedeutet auch: gemeinsam zu Menschen zu werden und sich einander wechselseitig menschlich zu machen. Diese Haltung stützt sich auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung, Achtung der Menschenwürde und auf das Bestreben nach einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft. Gleichzeitig setzt Ubuntu auf das universelle Band des Teilens, das alles Menschliche verbindet. So hat es Nelson Mandela, südafrikanischer Aktivist, Friedensnobelpreisträger und erster schwarzer Präsident in Südafrika selbst erklärt. Dabei ist es bezeichnend, dass Nelson Mandela die Haltung des Ubuntu ja gerade im damaligen Südafrika auf dem Hintergrund von Rassismus und Rassentrennung eingefordert hat. Es geht ihm darum, die Verschiedenheit des einzelnen Menschen zu achten und gleichzeitig eine verantwortliche, friedvolle Gemeinschaft zu stiften unter weissen und schwarzen Menschen. Das war und ist zweifellos etwas Besonderes unter Menschen, die ja gerade in Südafrika auf viele Kapitel von Gewalt und Unrecht, Leid und Schuld zurückblicken. Nur durch eine Haltung wie Ubuntu kann nochmal so etwas wie Leben, Vielfalt und Reichtum nach Südafrika zurückkehren, sagt Nelson Mandela. Und nur durch Ubuntu kann noch einmal so etwas wie Friede zustande kommen, wenn Menschen im anderen Menschen die Menschlichkeit sehen und sich Menschen gegenseitig zur Menschlichkeit einladen.
Der Widerspruch wird aufgelöst
Wenn ich alte Gräben hinter mir lasse, wenn ich andere gerade in ihrem Anderssein annehme, toleriere und akzeptiere, wenn ich echte Begegnung suche, wenn ich von Mensch zu Mensch meine Meinung aussprechen und hinterfragen kann, dann bin ich auf dem Weg zu Ubuntu. Die Bibel sagt, dann bin ich auf dem Weg zu echter Befreiung. Dann gelingt mir als Christenmensch der dreifache Sprung – zum Ich, zum Wir und wieder zum Ich. Es ist möglich, ein respektvolles „Wir“ zu bilden, wenn ich als Mensch frei in dieses „Wir“ eintrete und ein freier Mensch bleibe in dieser Gemeinschaft.
Martin Luther betonte so gerade die Freiheit eines jeden erlösten, begnadigten Menschen vor Gott, ein Christenmensch, der vor Gott frei ist vor allem Zwang zu guten Werken. Und der gleichzeitig dadurch, dass er selbst angesehen ist vor Gott, wieder anderen aus Dankbarkeit Gutes tut. Martin Luther hat die Freiheit eines Christenmenschen doppelt formuliert, um das freie Ich im verantwortlichen Wir näher zu bezeichnen: „Der Christenmensch ist ein freier Mensch und niemanden untertan. Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedem untertan.“ (Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520).
Im Jugendbuch von Michael Ende „Die unendliche Geschichte“ kommen die scheinbar widersprüchlichen Sätze von Martin Luther am Ende zusammen. Beides ist gleichzeitig möglich. Das Paradoxon, der Widerspruch wird aufgelöst. Und zwar durch die Fähigkeit des Bastian, sich zwischen den verschiedenen Welten und den verschiedenen Sichtweisen hin und her zu bewegen. Bastian kann so als einzelner eigenständig und zugleich mit anderen verbunden bleiben. Er hat zu seinem befreiten Selbst gefunden, das er auch in der Gemeinschaft behält.
Das Buch von Michael Ende endet damit, dass Bastian in seine alten Gemeinschaften zurückkehrt. Mit seinen bunten Erfahrungen aus Phantasien ist er in der Lage, neue und andere Beziehungen zu knüpfen und zu leben. Es werden wertschätzende, bereichernde, vielfältige und friedvolle Beziehungen, erzählt Michael Ende, auch und gerade zum eigenen Vater. So sagt der Buchhändler Karl Konrad Koreander in der „Unendlichen Geschichte“ zu Balthasar Bastian Bux, als Bastian schließlich ins Antiquariat, dem Ausgangspunkt seiner Reise, zurückkehrt: „Es gibt Menschen, die können nie nach Phantasien kommen, und es gibt Menschen, die können es, aber sie bleiben für immer dort. Und dann gibt es noch einige, die gehen nach Phantasien und kehren wieder zurück. So wie du, Bastian. Und sie machen beide Welten gesund.“
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Als Christ*innen mutig den Mund aufzumachen und dabei den Wert des jeweils besonderen, anderen Menschen zu betonen ist für mich wertvoller Beitrag der Kirche im Bewahren unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das Herausbilden des eigenen Selbst in Freiheit und Verbundenheit kann sowohl Thema von Konfirmandinnen und Konfirmanden als auch von Menschen jeglichen Alters sein. Es stellt sich uns in den verschiedenen Lebensphasen immer wieder neu – gerade im Blick auf den anderen und die Gemeinschaft.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Unendliche Geschichte von Michael Ende hat mich bei der Predigtvorbereitung inspiriert. Es ist mir sehr eindrücklich geworden, wie der Junge Bastian Balthasar Bux durch seine Reise in das Land Phantasien sein eigenes Selbst herausbildet und nach seiner Rückkehr zu neuen, wertschätzenden und wechselseitig bereichernden Beziehungen findet.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Als getaufte Christin brauche ich nicht unterzugehen im Zwang desselben um mich herum nur um des lieben Friedens willen. Ich kann meinen Mund aufmachen, wenn es unangenehm ist. Ich kann und darf in einer Gemeinschaft, die meinen Grundsätzen nicht mehr entspricht, meine eigene Meinung haben und natürlich auch sagen. Ich kann eine Gemeinschaft auch ganz verlassen, wenn sie mir nicht mehr entspricht, und bleibe dennoch in allem von Gott geschützt und bewahrt. Wie die ersten Christinnen und Christen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Sehr hilfreich und somit weiterführend für mich in der weiteren Bearbeitung war das farbliche Markieren und Titulieren der einzelnen Textabschnitte durch meine Predigtcoach. So war es mir möglich, meine Ideen, Themen und Gedankenschritte zu sortieren.
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17.11.2024 - Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres
Mit Gott im Gebet per Du - Predigt zu Röm 8,14-17 von Markus Nietzke
Anruf im Büro
Ihr Lieben: Mitten im Arbeitsleben. Eine Angestellte sitzt an ihrem Schreibtisch im offenen Bürobereich eines großen Betriebs. Plötzlich klingelt das Telefon auf ihrem Tisch. Sie erschrickt. Der Ton klingt durchdringend. Er ist nicht zu überhören im sonst eher gedämpften Geräuschpegel des Büros. Sie hebt den Hörer ab und hört die tiefe Stimme ihres Chefs, der sie höflich, förmlich und bestimmt in sein Büro bittet. Sie sagt zu und steht sofort auf. Ihre Schritte klingen leise auf dem weichen Teppichboden, der unter ihren Füßen leicht nachgibt. Sie spürt eine leichte Anspannung in ihrem Körper. Der Geruch von frischem Kaffee, der aus der Büro-Küche herüberweht, beruhigt sie ein wenig, doch ein Knoten im Magen bleibt. Sie fühlt sich nicht wirklich frei. Im Büro empfängt sie das helle Tageslicht, das durch das große Fenster fällt. Die Sonne blendet sie für einen Moment, und sie kann den weitläufigen Betrieb im Hintergrund erkennen. Der Anblick erinnert sie daran, wie viel Verantwortung auf den Schultern ihres Chefs lastet und welche Rolle sie selbst in diesem großen Ganzen spielt. Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Hat sie etwas falsch gemacht? Erwartet sie eine neue Herausforderung? Unsicherheit macht sie nervös. Sie riecht den dezenten Duft der Rosen, die in einer Vase auf einem Seitentisch stehen. Sie hört das leise Rascheln von Papieren, während er sich auf das Gespräch einstellt. Sie setzt sich, aufrecht. Sie wird ihre Worte förmlich und mit Bedacht wählen. Sicher spricht sie ihn nicht mit dem Wort „Vater“ oder „Papa“ an. Die Anrede wird förmlich sein. Gespannt wartet sie darauf, dass der Chef ihr eröffnet, warum er sie so bestimmt in sein Büro gerufen hat.
Der Ton macht die Musik
Wir verweilen einen Moment lang im Bild: Welch ein Verhältnis zwischen dem Chef und seiner Angestellten besteht, wird sich an der Sprache deutlich machen. An der Art und Weise, wie andere Menschen mit uns sprechen, kann man schnell erkennen, wes Geistes Kind unser Gegenüber ist. In der Chefetage weht vermutlich am Vormittag im Betrieb ein anderer Geist als am frühen Abend in der Sporthalle schräg gegenüber. Beim Volleyball-Training wird die Angestellte mit Vornamen angesprochen. Man kennt sich. Vertrauen spielt die entscheidende Rolle. Im Eifer des Gefechts wird man sich schon mal ein Schimpfwort an den Kopf werfen. Gerade in einem Spiel gegen eine andere Mannschaft. Da nimmt man sich das nicht krumm, wenn mal scharfe Worte fallen.
Es gibt also einen entscheidenden Unterschied, ob der Chef mit der Angestellten ins förmliche Gespräch geht oder ob zwei Volleyball-Athletinnen freundschaftlich-spontan miteinander Worte wechseln. Nach dem Training sitzt man entspannt zusammen, redet über alles Mögliche, ohne Hemmungen, ohne Angst, einfach freiweg. Im Büro beim Chef ganz anders: Förmlich, die Worte sind eher gesetzt, mit Bedacht gewählt. Zwei Welten, zwei Arten zu reden und zu handeln.
Predigttext
Im Römerbrief werden wir auf eine interessante Weise aufmerksam gemacht, wie wir mit Gott ins Gespräch finden können. Wir lesen:
14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. 15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! 16 Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. 17 Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden.
Erklärung des Predigttextes
Paulus spricht hier von einem Unterschied: Den Unterschied zwischen einem formalen Verhältnis und das Gespräch miteinander und einer tiefen, vertrauten Beziehung.
Gespräche im Büro
Denken wir kurz an das erwartete Gespräch zwischen Chef und Angestellter. Distanz, Respekt und möglicherweise Angst und Unfreiheit sind präsent. Die Angestellte überlegt ihre Worte sorgfältig und achtet auf ihr Auftreten, da viel auf dem Spiel steht. Diese Beziehung ist von Erwartungen und Regeln geprägt. Manche Angestellte haben den Eindruck, sich ständig beweisen zu müssen. Sind sie gut genug, um ihren Job zu behalten? Das frustriert!
Gott als Chef?
Manche Menschen haben so ein Bild von Gott – als ob er ein strenger Chef wäre, dem man es ständig recht machen muss, um nicht aufzufallen oder gar bestraft zu werden. Sie leben in einer Art geistlichen Knechtschaft, immer bemüht, Gottes Gunst zu verdienen.
Paulus zeigt auf, dass unsere Beziehung zu Gott nicht so sein muss – sie kann vielmehr wie die Beziehung zu einem guten Freund oder Vater sein: „…ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.“
Vertrautes Gespräch
Während des Treffens mit den Freunden beim Volleyballtraining kann man viel entspannter, lockerer, freier sprechen. Ein vertrauensvolles Umfeld, in dem man offen reden kann und akzeptiert wird, so wie man ist. Solch eine Beziehung basiert auf festem Vertrauen, frei von Unsicherheiten oder Ängsten.
Vertrautes Gespräch mit Gott
Davon spricht der Apostel. Gott bietet sie uns durch den Heiligen Geist an. Wende dich in deinem Gebet mit „Abba“, also „Vater“, an Gott – ähnlich wie unser vertrauliches „Papa“. Es ist ein Ausdruck größter Nähe und Zuneigung. Lebe in dieser Vertrautheit! Mit Gott, sowohl im Alltag als auch am Sonntag! Sprich einfach offen und frei, ungezwungen mit Gott. Dazu macht Paulus Mut.
Knechtschaft der Sünde
Ein Wort im Predigttext stößt auf: „Knechtschaft“. „Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen…“. Paulus nutzt diesen alten Begriff, um etwas zu verdeutlichen. Knechtschaft bringt oft Furcht mit sich – die Angst vor Strafe, vor dem Scheitern und im übertragenen theologischen Sinn auch die Furcht vor Gottes Zorn. Aus eigener Kraft sind wir unfähig, gerecht zu werden. Unsere Taten allein verschaffen uns keine Gnade vor Gott.
Geist der Kindschaft gibt Vertrauen
Doch der zweite Teil des Verses bringt etwas zum Leuchten: … ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen“. Durch Jesus Christus sind wir zu Kindern Gottes geworden. Der Heilige Geist gibt uns das Vertrauen, Gott als „Abba, lieber Vater“ anzurufen. Dieses intime Verhältnis zu Gott ist ein Geschenk Gottes an uns. Diese Freiheit klingt in den weiteren Stichworten aus dem Abschnitt im Römerbrief nach: Wir sind Gottes Kinder! Wir sind Erben – ebenso wie Gottes auserwähltes Volk Erbe der Verheißungen an Abraham, Isaak und Jakob ist. Wir hören gemeinsam auf Gottes Wort und seine Verheißungen. Selbst im Leiden und allen Verunsicherungen des Lebens bleibt Gott uns zugewandt – steht uns zur Seite, manchmal „still und unerkannt“. Und doch da. Wir sind durch Jesus befreit zur Liebe Gottes. Dies ist nicht nur auf den Vater bezogen, sondern wirkt sich auch auf die Kinder Gottes untereinander aus. In ihrem Stand als Freie und Erbberechtigte anerkennen sie sich gegenseitig – als Gottes geliebte Kinder.
Als Kind Gottes in der Welt unterwegs
Paulus schreibt an die Römer. Das war keine klassenlose Gesellschaft. Die Statusunterschiede in der Gemeinde, Freie, Rechtlose, Mächtige und Schwache standen allen vor Augen. Der neue Geist, der in der Gemeinde wirkt, befreit aus der Sklaverei von Ungleichheit, Unrecht und Schwäche. Die wichtigste Wirkung des Geistes ist nach Paulus das „Wir“. Alle dürfen Gott gemeinsam anreden als „Abba“, als Vater! Bis heute nehmen wir diesen Faden auf: Wir beten gemeinsam und gern: „Vater unser im Himmel.“ Ist das nicht eine besondere Gemeinschaftserfahrung jenseits aller sonstigen Unterschiede?
Die Frage, „wes Geistes Kind man ist“, bedeutet, wessen Einfluss und wessen Geist in uns wirkt. Wenn wir in der Freiheit der Kinder Gottes leben, wird das auch unser Verhalten im Alltag prägen. Als Chef, als Angestellte und als Volleyball-Spielerinnen.
Bürogespräch
Und wie ging das eingangs genannte Gespräch zwischen Chef und Angestellte aus? Der Chef räusperte die Stimme: „Einer unserer Großkunden rief mich an und fand Ihr Agieren, Ihre guten Worte und das kleine bisschen Extra-Aufwand erneut beeindruckend. Ich danke Ihnen für Ihren Dienst von ganzem Herzen! Ich möchte Ihnen mitteilen, dass sie eine Gehaltserhöhung bekommen!“ – und dabei überreichte er ihr einen Blumenstrauß.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an eine Angestellte, die zum Chef gerufen wird, und nicht weiß, was sie erwartet. Zugleich ist diese junge Frau eine begeisterte Volleyballspielerin. Ich hoffe damit eine für einige Gottesdienst-Besuchende vertraute oder vergleichbare „Alltagssituation“ einzufangen. An der Art und Weise, wie andere Menschen mit uns sprechen, kann man schnell erkennen, wes Geistes Kind unser Gegenüber ist. In der Chefetage weht vermutlich am Vormittag im Betrieb ein anderer Geist als am frühen Abend in der Sporthalle schräg gegenüber. Im Reden mit Gott ist das Förmliche nicht zwingend. Wir können ungezwungen mit Gott ins Gespräch kommen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Neue exegetische Erkenntnisse helfen – zum besseren Verstehen des Textes. Man muss nur davon wissen, bzw. ein wenig up-to-date bleiben.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wes Geistes Kind bin ich? Wie rede ich mit Gott? Wirkt sich die Freiheit der Kinder Gottes auch in meinem Leben durch meinen Sprachgebrauch und Verhalten aus? Diese Gedanken werden mich weiter beschäftigen, im Versuch, möglichst konkret und nah an den Menschen zu bleiben – in meinen Predigten.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Predigtcoaching ist für mich unverzichtbar. Ein neuer Blick auf die Predigt, die Beispiele, die Schlüssigkeit der Gedanken. Dankenswerterweise auch das Benennen von Modalverben – immer wieder eine Predigtfalle, in die ich tapse.