Sehschule des Glaubens
Wahrnehmen - Wahrhalten - Wahrmachen
Der 126. Psalm, ein Wallfahrtslied aus der Schatzkammer biblischer Dichtung, kann uns, den Nachgeborenen, eine tröstliche Sehschule werden. Mit wenigen, klaren Worten umschreibt er Hoffnungen und Ängste des Volkes Israel und hat sie über Jahrtausende begleitet – gesprochen, gesungen, gebetet. Dabei war es nie wichtig, ob die Erlösung als freudige Erinnerung oder als innige Sehnsucht besungen wurde. Entscheidend war, dass die Stimme des Trostes den Ton halten konnte, in der Katastrophe von 587 und weit darüber hinaus – gegen alles Vergessen. Ein Teil der Bevölkerung Jerusalems kam damals um, andere wurden versklavt und für Jahrzehnte nach Babylon verschleppt. In den Erinnerungen brennt der Zion seither wie eine Wunde. Die Steine schrien noch lange danach – wenn auch nicht immer nur zum Himmel. Der Tempel war eine Ruine. Und Gott, so musste es scheinen, war unter den Opfern. Der Zion jedenfalls blieb totenstill.
Aus manchen Abgründen muss man sich behutsam heraus glauben. Ein Glaube, der das schafft, muss stärker sein als alles, was vor Augen ist.
Die Sehschule beginnt mit dem Einüben des ersten Wortes der ersten Zeile: „Wenn“.
1. Wahrnehmen
Kinder sind verlässliche Gelehrte für den ersten Schritt ins Sehen, das Wahrnehmen. Diese kleinen Geschöpfe staunen sich täglich ein neues Universum zusammen. Ein Grashalm, eine Knospe, eine Blume, ein Baum, alles gerät unter den kindlichen Betrachtungen zum Wunder und ist ein Grund zum Jubeln. Die Welt ist plötzlich voll von Gott. Die Kunst, alles anzustaunen oder gar anzuträumen, ist eine heitere Übung, um Gott in seiner Welt wahrzunehmen. Heller Beginn und sehnsüchtige Wiederholung wechseln einander ab. Zuweilen wird Gott sogar selbst zum staunenden Anfänger. Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat diese Kunst verträumten Staunens den „Sinn und Geschmack für das Unendliche” genannt.
Erlöstes Sehen
Was aber, wenn von einem Augenblick auf den anderen die Welt zur finsteren Falle gerät? Wenn alle geübte Gewohnheit, sie zu lesen und zu deuten, nichts mehr erfasst?
Von hellen Neuanfängen Gottes erzählt die Lebensgeschichte „Das wiedergefundene Licht“ von Jacques Lusseyran (1924 -1971). Jaques ist ein verträumter Junge im Paris der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der mit acht Jahren durch einen Unfall sein Augenlicht verliert. Mühsam lernt er, die Welt neu wahrzunehmen. Die alte Welt dringt in sein Inneres und scheint dort Halt zu finden: Pflanzen und Bäume, Straßen, Zäune, Bordsteine, Hauswände. Nur die Sprache der Dinge verändert sich. Hoftore, Fußböden, Fensterscheiben, jedes Möbelstück, alles klingt plötzlich ganz anders. Formen und Bilder, Farben und Schatten muss er aus seinen Ansichten „erlösen“ und die Menschen von seinen Gewohnheiten befreien. Jede Regung und Bewegung, ihre Stimmen, ihren Geruch, ihre Umarmungen, alles nimmt er nun anders wahr. Er hört ihr „geräuschvolles Herz“ reden. Diese besondere Fähigkeit zu sehen macht ihn im Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich zu einer Schlüsselfigur des Widerstandes. Alle „Neulinge“ werden zuerst von dem klarsichtigen Blinden geprüft. Er durchschaut treffsicher jeden Spitzel und Verräter. Irgendwann wird er verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Er überlebt und beschreibt später, wie er sein wiedergefundenes Licht immer wieder erlösen muss, aber auch, wie dieses Licht ihn bewahrt und erlöst hat. Oft sind es einzelne Worte, an die er sich klammert, mal ein Vaterunser, das ihn über alle Entfernung und Ungewissheit mit seinen Freunden und Gefährten zusammenbringt und ihm die Angst nimmt. Oft hat er keine Worte, aber die Worte haben ihn. Als er seine Erinnerungen nach Jahren aufschreibt, stößt er immer wieder an die Grenzen des Sagbaren.
„Es gab Zeiten, in denen das Licht nachließ, ja verschwand. Das war immer dann der Fall, wenn ich Angst hatte, wenn ich, anstatt mich vom Vertrauen tragen zu lassen, zögerte … wenn ich mir sagte, dass die Dinge mir feindlich seien. Dieselbe Wirkung hatten Zorn und Ungeduld. Sie brachten mich und alles in Verwirrung. Die Gegenstände kippten um, lallten wie betrunken. War ich jedoch heiter und aufmerksam, hellten sich alle Bilder wieder auf …“
Das Licht selbst muss erlöst werden. Nicht nur für einen hellsichtigen Blinden.
2. Wahr halten
Stilles Gepäck
Wer einmal in der Abendsonne am Ölberg stand und über die Altstadt von Jerusalem auf den Zion hinübergeschaut hat, vergisst das nie. Das zeigt, dass die Seele schneller belichtet als der Verstand. Eh man „sich versieht“, hat sie ein Bild längst auswendig gelernt und gesichert. So trugen die Deportierten den Zion in ihrer Seele wie ein stilles Gepäck mit sich nach Babylon. Und wie bei einer Sanduhr die fallende Zeit Korn für Korn durch die enge Mitte muss, kam keine echte Hoffnung am ersten Wort von Psalm 126 vorbei. Erst nach dem „Wenn“ wird es hell. Erst dann setzt staunender Jubel ein, verewigt auf vielfältige Weise in leuchtenden Worten, freudigen Verheißungen und Liedern, lauter auswendig gelernte Freiheit. Die himmlische Tonart bleibt unverkennbar.
„Portatives Vaterland“ nannte der Dichter Heinrich Heine dieses Überlebensgepäck. Gesichertes Seelenbrot, denn die Seele erkennt nur, was sie kennt.
Worthäuser
Den Deportierten in Babylon mussten ihre Heimkehr-Worte als Ermutigung genügen. Nicht nur im Laufe von Lagerjahren verliert auswendig gelernter Trost seine Kraft.
Es gehört zum Lebensalltag, dass Hoffnungen verblassen. Sogar die Erinnerungen entfärben sich, Träume werden schwarzweiß. Oft ist schnelles Vergessen leichter zu ertragen als alternde Gewissheit. Man muss für wahr halten, woran man sich klammern will. Nicht selten gegen allen Augenschein.
So liest es sich auch am Rand des Überlebensweges, den der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905-1997) in seinen Büchern beschreibt. Am Anfang steht eine nüchterne Beobachtung: „Mein Herz sieht weiter als mein Verstand.“ Mit dieser Feststellung und seinem trotzigen „Ja zum Leben“ überlebte er vier Konzentrationslager. Er versuchte damals, alle seine Lieben, deren Verbleib ungewiss war, in Worten zu bergen. Er baute sich und ihnen (und auch Gott) Worthäuser, die er auswendig lernte.
Oft handelte es sich um Geschichten, in denen Gott einfach da war, wenn auch nur vage oder flüchtig. Das Stück Brot, und Gott war im Brot. Eine Kelle Suppe. Die Schuhe. Ein Unterhemd. Aus allem hörte er Gott „Ja“ sagen. Frankl klammerte sich an dieses „Ja“ und glaubte gegen alle Wahrscheinlichkeit an das, was er wahrhaben wollte, ja, unbedingt für wahr halten musste: Er glaubte an ein Wiedersehen mit seiner ebenfalls deportierten Frau Tilly, ohne je ein Lebenszeichen von ihr zu haben.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Aber sie ließ ihn überleben.
Sein Herz sah weiter als sein Verstand.
Aber seine Hoffnung musste wieder ganz von vorn lernen, „Ja“ zu sagen.
Mehr Gewissheit war nie.
3. Wahrmachen
Manche Wegweiser kann man nur rückwärts lesen.
Als Lehrling musste ich jeden Morgen mit der Straßenbahn quer durch Ostberlin von Pankow zum Hackeschen Markt. Das monotone Grau der Häuserfassaden spiegelte sich in den Scheiben. Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee, Mitte. Wo die Bahn die Kastanienallee verlässt, machten die Schienen einen großen Bogen um die Zionskirche.
Ein durchdringendes Kreischen ertönte jedes Mal beim Einbiegen der Bahn, als ob sich Räder und Schienen in der Kurve zankten. Die langgezogene Tonfolge beendete alle Tagträume und mahnte zum baldigen Aussteigen.
Ich hätte diese Töne vielleicht vergessen, wenn sie mir nicht in tiefstem Dunkel zum hellen Wegweiser geworden wären. 1980 wurde ich in Handschellen in einem fensterlosen Transporter quer durch Berlin gefahren, ohne Angabe des Ziels. Als ich das metallene Quietschen vernahm, waren das die süßesten Töne, denn ich wusste plötzlich, wo ich war, und mein Seelenkino belichtete vor Freude für ein paar Sekunden den markanten Zions-Kirchturm. Ich war für einen Moment ganz und gar auf meiner vertrauten Straße zu Hause. Die Fahrt ging, wie sich herausstellte, zum Gericht nach Mitte.
Die Zionskirche liebte ich allerdings schon lange vorher – wegen ganz anderer Töne. Dort gab es für ein paar Ostmark Kollekte reichlich Bach. Immer wieder, Jahr für Jahr die Passionen und das Weihnachtsoratorium. Und natürlich hatte ich dort zum ersten Mal auch das Requiem von Brahms mit der unvergleichlichen Musik zu den Worten aus unserem Psalm gehört:
„Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen
und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“ (VV. 5 und 6)
Aber dieser Ostberliner Zion hatte noch mehr zu bieten. Die Kirche war eine der ersten Herbergen der Opposition in den 1980er Jahren. Es gab eine heimliche Bibliothek, eine illegale Druckmaschine, verbotene Tonbandrollen. Dazu das feste Vertrauen, dass das Wort seinen Weg findet und bahnt.
Einige Jahre später, aber noch vor dem Mauerfall, sah ich zum ersten Mal im Westfernsehen junge Menschen mutig gegen soeben erfolgte Festnahmen protestieren. Und da war es wieder, das wohlbekannte Kreischen der Räder, genau in dem Moment, als die Kamera auf die unverkennbare Silhouette des Kirchturms schwenkte. Nun klang es in meinen Ohren schon fast wie ein Psalmton: Wenn – der Herr die Gefangenen Zions erlöst…
Die wieder geschenkte Nähe, das Wunder der Freiheit, die Hoffnung auf ein bewohnbares europäisches Haus sind nur einige der vielen Früchte, die niemals hätten reifen können, wenn die mutigen „Wahrmacher“ vom Zion in Ostberlin sie nicht (mit und ohne Tränen) gesät hätten!
Und so steht dieses unscheinbare, gegen allen Augenschein gebetete „Wenn“ am Anfang des Psalms für das Unzerstörbare unseres Glaubens.
Es brachte Mauern zu Fall.
Es öffnete Gefängnisse.
Es stieß Gewaltige vom Thron.
Es genügt.
Für Gott
und für die „Wahrmacher“ vom Zion in Ostberlin.
Die kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.
Ich kann es zwar nicht beweisen. Aber als ich kürzlich einmal in der alten Linie von Pankow zum Hackeschen Markt fuhr, spielte die Straßenbahn extra für mich in der Kurve Geige…
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Gemeinde vor den Toren einer Großstadt in ländlicher Region in Ostwestfalen. Neben traditionellen Angeboten gibt es eine rege Jugend- und Konfirmandenarbeit. Die ehemalige Patronatskirche liegt zentral im alten Dorfkern. Die Gottesdienste sind in der Regel gut besucht. Es gibt vielfältige Kirchenmusik. Den Gottesdienst wird der Posaunenchor mitgestalten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die bewegende Lebens- und Widerstandsgeschichte des Jaques Lusseyran. Aber auch die Frage, wie dieser schöne Psalm 126 heute wieder zur Sprache finden kann. Der Zion als Sehnsuchtsort, mit dem ich so viele eigene persönliche Bezüge verbinde. (Auch die Erinnerung an die Zionskirche in Berlin, die auf besondere Weise mit der friedlichen Revolution verbunden ist). Wie kann diese Zionssehnsucht mit ihren vielen Facetten im Glaubensleben der nächsten Generation verankert werden?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gott wohl einige seiner wichtigen Texte in Blindenschrift verfasst haben muss.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Hinweise des Coaches waren hilfreich, um der eigenen „Betriebsblindheit“ zu widerstehen, und haben den Entwurf sehr verändert. (Bei der Predigt mit der Überschrift „Sehschule“ ist das hoffentlich geglückt!)