Schafft Recht! Klagen - Beklagen - Anklagen - Predigt zu Psalm 82,1-4 von Florence Häneke
Psalm 82 (Bibel in gerechter Sprache)
Ein Psalm. Von Asaf
Gott steht in der Götterversammlung,
inmitten der Gottheiten richtet er.
„Wie lange wollt ihr ungerecht richten
und Verbrecher begünstigen?
Schafft Recht dem Geringen und der Waise,
der Gebeugten und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren!
Lasst den Geringen und die Arme entkommen,
entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen!“
Gericht
Wir befinden uns in einem Gerichtssaal. Bis auf Eine sitzen alle Beteiligten auf Stühlen. Die Stehende spricht. Sie trägt eine Anklage vor: Die geschehene Zurückweisung einer Minderjährigen aus Somalia am 9. Mai an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt/Oder, einer europäischen Binnengrenze, sei ein Verstoß gegen geltendes Recht, die vorgebrachte Rechtsgrundlage sei nicht einschlägig und für den EU-Binnenraum nicht anzuwenden. Die ebenfalls vorgebrachte Argumentation, dass es sich um eine Gefahr für Öffentlichkeit und Sicherheit des Landes handele, sei nicht haltbar. Weiter: Die Minderjährige sei zum Zeitpunkt des Aufgreifens schwer verletzt gewesen und habe Schmerzen an den Füßen geäußert. Sie habe einen klaren Ort angeben können, wo sie hinreisen möchte und angegeben Schutz zu suchen, da sie einer bedrohten Minderheit angehört.
So hier bei uns auf Erden.
Und im Himmel?
Psalm 82 nimmt uns mit in eine Versammlung, auch hier eine Gerichtsszene:
Gott steht in der Götterversammlung,
inmitten der Gottheiten richtet er.
Gott steht und Gott richtet.
Bei genauem Hinsehen ist dieser erste Vers sehr aufschlussreich. Die beiden Verben, Stehen und Richten, zeigen nämlich zwei verschiedene Rollen an. So werden Richtende im altorientialischen Weltbild sitzend dargestellt; doch die Gottesrede, die unmittelbar folgt ist eine Anklage. Gott steht – Anklage erhebend. Und zugleich: Gott richtet.
Im Himmel. Wie auf Erden.
Himmel und Erde, die sind aufeinander bezogen.
Die Anklage lautet: Wie lange wollt ihr ungerecht richten – und Verbrecher begünstigen?
Wie lange?
Die Lage drängt. Die Klage für die Somalierin war ein sogenannter „Eilantrag“. Die Klage im Psalm wird ebenfalls drängend vorgetragen. Wie lange?
Wie lange werden sie uns hier festhalten? Wie lange tragen meine schmerzenden Füße mich noch?
Wie lange liegt das Seenotrettungsboot im Hafen, weil die Mittel fehlen? Wie lange ist der Weg über eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, das Mittelmeer?
Wie lange wollt ihr ungerecht richten – und Verbrecher begünstigen?
Schafft Recht!
Nach der Anklage kommt im Psalm die Forderung, ebenso klar und direkt:
„Schafft Recht dem Geringen und der Waise, der Gebeugten und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren!
Lasst den Geringen und die Arme entkommen, entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen!“
Der Alttestamentler Erich Zenger macht eine wichtige Beobachtung zu diesen Versen: es gehe nicht allein um die klassischen Bedürftigen, die sprichwörtlichen „Witwen und Waisen“. Sondern indem der Psalm verschiedene Paare der Bedürftigen kombiniere, erweitere sich diese Forderung auf alle Menschen, die nicht zur Schicht der Großgrundbesitzer und Machthaber gehören. Die Geringen, das sind also nicht nur die Bettler:innen, sondern auch die Kleinbauern und die Arbeiterinnen. Kurz: die, die nicht in pervertiertem Reichtum leben. Man muss nicht erst ums pure Überleben kämpfen, um bei Gott Ansehen und Recht zu finden. Es geht ums gute Leben, nicht allein ums Überleben. In der Diskussion um Flucht und Fluchtursachen scheint mir das nicht unerheblich.
Wie lange also bis zum guten Leben für Alle?
Die Verse der Forderung noch einmal verknappt: Schafft Recht, verschafft Gerechtigkeit. Befreit und entreißt.
Lasst Gerechtigkeit widerfahren!
Zurück zum Berliner Gericht: Hier beantragte die Antragstellerin, der Minderjährigen die Einreise zu ermöglichen sodass sie in Deutschland einen Asylantrag stellen kann.
Nach biblischem Verständnis ist Recht dazu da, die Schwächsten zu schützen. Wer in die biblischen Rechtsschriften sieht, merkt das schnell: es geht darum, Schwächere davor zu schützen ausgenutzt, übervorteilt und ausgenommen zu werden.
Im Fall der Somalierin wurde das aktuell geltende Recht als solcher Schutz in Anspruch genommen. Hier wird ein Mensch in einer Notlage geschützt vor den Ängsten einer Bevölkerung und deren politischer Instrumentalisierung. Die Zurückweisung an den Grenzen geschah ja auf Anweisung des Bundesinnenministers und die Umgehung des geltenden europäischen Rechts unter anderem unter Rückgriff auf „die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Dieser Beisatz steht im europäischen Recht, um in Notlagen als Land autonom handeln zu können. Es kann durchaus Notlagen geben und Zeiten, in denen von Notlage-Gesetzen Gebrauch gemacht werden muss. Wie vorsichtig man damit allerdings sein sollte, sollte nicht nur Deutschen klar sein...
Dass an der deutsch-polnischen Grenze – die immer noch eine Binnengrenze ist - aktuell entgegen geltendem Recht Menschen, die eindeutig Schutz suchen die Einreise verwehrt wird, weil es angeblich eine Notlage für die innere Sicherheit gebe, ist genau das: Pervertierung des Rechts. So hat schließlich auch das Verwaltungsgericht entschieden, nämlich dass für die Gültigkeit dieses Rechtsartikels eine tatsächliche, erhebliche Gefahr für das Land vorliegen müsse und eine solche sei nicht hinreichend belegt.
Lasst den Geringen entkommen!
Gerechtigkeit und Recht stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander.
Zur Gerechtigkeit kann es nötig sein, die Spielräume des geltenden Rechts zu nutzen. Jeder gute Richter weiß das. Manchmal werden Menschen frei gesprochen – auch wenn es möglich gewesen wäre, sie zu verurteilen – weil der Richter menschlich urteilte und wusste: wenn ein Hungernder Essen stiehlt, dann wird ihn Strafe nicht davon abhalten. Gerecht Richtende lassen mitunter Angeklagte entkommen.
Lasst den Geringen und die Arme entkommen,
entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen!
Lasst sie entkommen: Haltet sie nicht fest.
Wer auf der Suche nach einem Ort für sich und seine Familie ist, an dem er – gut – leben kann, der hat entweder das Glück in einem wohlhabenden Land mit ruhiger politischer Lage geboren zu sein – oder er macht sich auf den Weg in ein solches Land. Das war in Zeiten der Bibel so, das ist auch heute so.
Und zu oft wird nicht der Großgrundbesitzer angeklagt, der das System für seine eigene Bereicherung ausnutzt, sondern der Arbeiter festgenommen, der versucht über die Grenze zu kommen. Von ihm wird erwartet, dass er sich geduldig in die Schlange stelle und warte ob er aufgenommen wird und nicht zu mucken, wenn er abgewiesen wird.
Dabei gibt es ein Recht auf Bewegungsfreiheit, es gibt ein Menschenrecht auf Asyl und es gibt ein Recht auf Schutz. Dieses Recht hat jeder Mensch – völlig egal, wo dieser geboren ist, ob er einen Ausweis hat oder nicht. Es ist vor allem auch völlig egal, welche Hautfarbe und Religion dieser Mensch hat. So zumindest das Recht.
Die Zurückweisung der Somalierin und zwei weiterer wurde vom Gericht für rechtswidrig erklärt. Derartige Zurückweisungen seien mit dem EU-Recht grundsätzlich nicht vereinbar. Übrigens genau so wenig, wie Menschen in der Wüste auszusetzen. Das Recht ist da klar und keineswegs uneindeutig.
In der Praxis werden weiter Taten geschaffen und Menschen abgewiesen.
In der Praxis werden die Mittel für Seenotrettung auf dem Mittelmeer gestrichten, weil entschieden wird, dass es nicht zum Zuständigkeitsbereich gehöre.
Derartige Zustände klagt auch bereits der Psalm an – Amtsmissbrauch nennt das die Auslegungsliteratur zum Psalm.
Verschafft ihnen Recht, das heißt im Falle von Flucht und Asyl: Erinnert laut – anklagend – an das Recht. Zeigt den Rechtsbruch auf. Das hat im Fall der Somalierin die Hilfsorganisation Pro Asyl gemacht, die von rechten Kräften gerne als Teil der Asyllobby bezeichnet wird. Diese Lobby, das sind Menschen, die Fliehende aktiv aufsuchen. An den Binnengrenzen, ebenso wie im Mittelmeer.
Die Forderung Gottes im Psalm „Lasst den Geringen und die Arme entkommen“ ließe sich übertragen zu „Lasst die Fliehenden entkommen“. Und wenn diese bedroht sind in ihrem Überleben auch zu: sucht sie und rettet sie auf ihren Fluchtwegen. Sie sollen schließlich nicht in Elend oder Tod entkommen. Sondern ins gute Leben.
Entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen
Im Beschluss des Verwaltungsgerichtes zum geschilderten Fall heißt es kurz und knapp: „Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin den Grenzübertritt in den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin zu gestatten und ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für das Asylverfahren einzuleiten."
Erfolgreich entrissen – vorerst.
Es wäre zu einfach, in der Hand derer, die Verbrechen begehen nur die Regierenden oder die Hand der Küstenwache oder der Bundespolizei zu sehen. Es ist ja vielschichtiger. Es sind schließlich viele Menschen, die die Seenotrettung im Mittelmeer nicht finanzieren wollen, die an den Grenzen gegen geltendes Recht zurückweisen wollen. Mitunter werden dann Verfahren wie das Geschilderte mit dem Zusatz versehen, dass Richter:innen eben nicht immer Recht hätten. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht ist umkämpft.
Das Entreißen aus der Hand derer, die Verbrechen begehen ist doch auch das Entreißen aus unserer – aus meiner – ganz eigenen Hand scheint mir. Aus meiner Hand, die rumdruckst. Die denkt, man müsse eben abwägen, doch noch einmal für und wider ansehen. So klar, wie im Psalm sei die Welt eben nicht.
Aber ich fürchte – doch. Doch, die Welt ist so klar.
Wie lange wollt ihr ungerecht richten und Verbrecher begünstigen?
Ich habe an manchen Tagen aktuell das Gefühl, es regieren mehr Verbrecher als Gerechte in der Welt – und ich bin mit diesem Gefühl nicht allein. Wenn Menschen Recht brechen – wissend, dass sie Recht brechen – ohne Furcht, dass sie gerichtet werden, weil es keine weitreichende Empörung darüber gibt. Das ist nichts anderes, als Verbrecher zu begünstigen.
Wenn ich die Klarheit des Psalms als Richt-Wert nehme, dann ist völlig unfraglich: Gott steht hundertprozentig auf der Seite derer, die nicht Großgrundbesitz und Macht haben. Im Psalm 82 wird diese Gerechtigkeit sogar fundamental zu Gottes Wesen und das Ziel ist hier, ebenso wie in der christlichen Hoffnung: das gute Leben für Alle, nicht das gute Leben für Einige.
Die Geringen und Bedürftigen haben daher seit jeher ihre Lobby auch in der Kirche. Ich wünsche mir, dass wir diese Lobbyarbeit mit Stolz erfüllen. Nicht zögernd und vorsichtig. Nicht immer auf Verständnis bedacht. Sondern mit Stolz sagen: ich bin nicht Fürsprecherin des Reichtums und des Machterhalts. Ich bin Fürsprecherin der Entrechteten. Derer, die unrechtmäßig an den Grenzen abgewiesen werden. Ohne Verfahren. Mit fadenscheinigen Verfahren. Derer, die Menschen auf dem Mittelmeer von Schlauchbooten retten. Ich bin nicht Fürsprecherin derer, die die Grenzen zum Erhalt der eigenen Macht und des eigenen Reichtums „sicherer“ wollen.
Fürsprache halten kann auch überheblich sein. Wir dürfen als Menschen in der Kirche nicht immer und für alle fraglos Fürsprecher:innen werden – es wird sonst unbalanciert. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass nicht gehört werden und nicht reden können zwei verschiedene Dinge sind und Geflüchtete sehr wohl selbst reden. Aber in diesem Fall sind wir gefragt als Fürsprecher:innen an den entscheidenden Stellen – weil es um unsere Gesellschaft geht. Es geht um unsere Werte und das Recht – das Recht noch etwas gilt.
Vor diesem Hintergrund können wir dann als Kirche und Menschen in der Kirche mit Stolz das tun, was unser christlicher Auftrag ist: Recht verschaffen!
Wir, die Kirche, wir sind Lobbyarbeitende der Geringen und damit sind wir auch Teil der Lobby der Geflüchteten! United4Rescue. Wer mag, kann das auch Asyllobby nennen. Asyl ist eine wichtige Errungenschaft, Menschen vor dem Ertrinken zu retten ist unverhandelbar. Dafür zu kämpfen ist nicht verächtlich oder peinlich. Das ist hoch angesehen. Im Himmel, wie auf Erden.
Schafft Recht. Verschafft Gerechtigkeit. Befreit und entreißt.
Das heißt nicht, wie nun Manche vielleicht vermuten: die Geringen, die schon im eigenen Land sind, zu übersehen. Bei weitem nicht. Es heißt Un-Recht zu sehen. Hier und dort. Und Menschen zu sehen. Menschen die zu uns wollen, weil sie Not leiden und wir Not lindern können.
Oder die einfach ein gutes Leben wollen.
Und das ist ihr gutes Recht.
Amen.
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Flügel der Hoffnung - Predigt zu Ps 55,2-8 von Constanze Broelemann
Die Stimme des Meeres
Das Mittelmeer hat viele Stimmen. Es flüstert sanft an Urlaubsstränden, es rauscht majestätisch an felsigen Küsten. Doch es schreit auch – mit einer Stimme, die wir nicht hören wollen. Es schreit mit den Stimmen jener Menschen, die auf überfüllten Booten ihre Hoffnung nach ein bisschen Leben in Frieden tragen. Ihre Schreie klingen wie ein Echo des uralten Psalms: "Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und Todesfurcht ist auf mich gefallen."
Der Psalmist kannte das Meer wahrscheinlich nicht als unmittelbare physische Bedrohung, wie es alle die abertausenden Menschen kennen, die unermüdlich versuchen auf seeuntauglichen Holz- oder Gummibooten Europa zu erreichen. Wohl aber kannte er das Gefühl, in Todeswassern zu versinken. Er kannte die existenzielle Angst, die den Atem nimmt und das Herz rasen lässt. "O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!" – dieser Ausruf ist zeitlos. Und er verbindet sich mit der Angst in den Seelen all der Menschen, die heute in dunkler Nacht bei Wind und Wellen auf einem schwankenden Boot im Mittelmeer hocken und dieses flehende Gebet gen Himmel schicken.
Die Flügel der Taube
Der Psalmist sehnt sich nach den Flügeln einer Taube, damit er der Not entfliehen kann. Er braucht einen Ort, um Ruhe zu finden. Vielleicht sind die Rettungsschiffe der zivilen Seenotrettung wie diese Taubenflügel. Sie kommen in der Nacht und verkörpern Hoffnung, dass selbst in den dunkelsten Stunden Hilfe nahen kann. Sie tragen die dem Meer hilflos ausgelieferten Menschen fort auf die Decks ihrer Schiffe und geben ihnen ein bisschen Ruhe nach den Zumutungen der Flucht.
Und nun frage ich Sie, frage ich uns: Wenn wir dem Psalmisten Flügel geben könnten, würden wir es nicht tun? Wenn wir seinem Schrei nach Rettung antworten könnten, würden wir nicht versuchen zu helfen?
Der Blick Gottes
"Gott, höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen." Der Psalmist beginnt mit einer flehentlichen Bitte an Gott, ihn nicht zu übersehen. Diese Bitte spiegelt eine tiefe menschliche Sehnsucht wider: Gott möge die Übersehenen sehen. Die, die am Rand sind, diejenigen, die keine Privilegien haben. Ja, auch die Menschen, die sich todesmutig an der afrikanischen Küste in seeuntaugliche Boote setzen, gehören dazu. Die, die nach Durchquerung von Wüste und Folter versuchen das für sie «gelobte Land» zu erreichen, um dann in den Fluten zu ertrinken oder in Europa unerwünscht zu sein. Die Hoffnung bleibt, dass Gottes Blick auch auf denen ruht, die niemand haben will.
Wenn wir uns für die Seenotrettung aussprechen, dann nehmen wir diese Hoffnung auf den göttlichen Blick ein. Wir schauen nicht weg! Stattdessen versuchen wir die Würde der Menschen zu bewahren, indem wir sagen: jeder Mensch darf leben! Damit stellen wir uns gegen die Gleichgültigkeit, bei der das Leben von manchen Menschen weniger wert zu sein scheint als das von anderen.
Die Kraft der Hoffnung
Der Psalm endet nicht mit der Flucht. Er geht weiter mit Vertrauen trotz der Umstände. Er endet mit der Zuversicht, dass Gott trägt, auch wenn alles zu versinken droht. Diese Hoffnung ist keine naive Verdrängung der Realität, sondern eine Kraft, die uns bewegt, das Unmögliche zu wagen. Trotzalledem!
Die zivile Seenotrettung ist ein Akt des Widerstands gegen die Gleichgültigkeit. Sie durchquert trotz Gegenwind aus Gesellschaft und Politik die Meere, um Menschen vor dem sicheren Tod zu retten, ein Bekenntnis zu einer Welt, in der jedes Leben zählt.
Wir können beten – nicht als Ersatz für das Handeln, sondern als seine Quelle. Wir können für die Menschen auf der Flucht beten, für die Rettungskräfte. Und wir können für uns selbst beten, dass wir die Kraft finden, nicht gleichgültig zu werden. Wir können in unseren Gemeinden und Kommunen Räume der Gastfreundschaft schaffen.
Die Flügel entfalten
"O hätte ich Flügel wie Tauben" – dieser Wunsch des Psalmisten kann uns inspirieren, selbst zu Flügeln zu werden. Zu Menschen, die andere tragen. Zu einer Gemeinschaft, die schützt und birgt. Zu einer Kirche, die ein Zufluchtsort ist.
Möge Gott uns die Kraft geben, das Richtige zu tun. Möge er uns Ohren schenken, die hören, Augen, die sehen, und Hände, die nicht müde werden zu helfen. Möge er uns Flügel schenken wie Tauben – nicht um zu fliehen, sondern um zu denen zu fliegen, die unsere Hilfe brauchen.
Amen.
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Sehschule des Glaubens - Predigt zu Ps 126 von Matthias Storck
Sehschule des Glaubens
Wahrnehmen - Wahrhalten - Wahrmachen
Der 126. Psalm, ein Wallfahrtslied aus der Schatzkammer biblischer Dichtung, kann uns, den Nachgeborenen, eine tröstliche Sehschule werden. Mit wenigen, klaren Worten umschreibt er Hoffnungen und Ängste des Volkes Israel und hat sie über Jahrtausende begleitet – gesprochen, gesungen, gebetet. Dabei war es nie wichtig, ob die Erlösung als freudige Erinnerung oder als innige Sehnsucht besungen wurde. Entscheidend war, dass die Stimme des Trostes den Ton halten konnte, in der Katastrophe von 587 und weit darüber hinaus – gegen alles Vergessen. Ein Teil der Bevölkerung Jerusalems kam damals um, andere wurden versklavt und für Jahrzehnte nach Babylon verschleppt. In den Erinnerungen brennt der Zion seither wie eine Wunde. Die Steine schrien noch lange danach – wenn auch nicht immer nur zum Himmel. Der Tempel war eine Ruine. Und Gott, so musste es scheinen, war unter den Opfern. Der Zion jedenfalls blieb totenstill.
Aus manchen Abgründen muss man sich behutsam heraus glauben. Ein Glaube, der das schafft, muss stärker sein als alles, was vor Augen ist.
Die Sehschule beginnt mit dem Einüben des ersten Wortes der ersten Zeile: „Wenn“.
1. Wahrnehmen
Kinder sind verlässliche Gelehrte für den ersten Schritt ins Sehen, das Wahrnehmen. Diese kleinen Geschöpfe staunen sich täglich ein neues Universum zusammen. Ein Grashalm, eine Knospe, eine Blume, ein Baum, alles gerät unter den kindlichen Betrachtungen zum Wunder und ist ein Grund zum Jubeln. Die Welt ist plötzlich voll von Gott. Die Kunst, alles anzustaunen oder gar anzuträumen, ist eine heitere Übung, um Gott in seiner Welt wahrzunehmen. Heller Beginn und sehnsüchtige Wiederholung wechseln einander ab. Zuweilen wird Gott sogar selbst zum staunenden Anfänger. Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat diese Kunst verträumten Staunens den „Sinn und Geschmack für das Unendliche” genannt.
Erlöstes Sehen
Was aber, wenn von einem Augenblick auf den anderen die Welt zur finsteren Falle gerät? Wenn alle geübte Gewohnheit, sie zu lesen und zu deuten, nichts mehr erfasst?
Von hellen Neuanfängen Gottes erzählt die Lebensgeschichte „Das wiedergefundene Licht“ von Jacques Lusseyran (1924 -1971). Jaques ist ein verträumter Junge im Paris der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts, der mit acht Jahren durch einen Unfall sein Augenlicht verliert. Mühsam lernt er, die Welt neu wahrzunehmen. Die alte Welt dringt in sein Inneres und scheint dort Halt zu finden: Pflanzen und Bäume, Straßen, Zäune, Bordsteine, Hauswände. Nur die Sprache der Dinge verändert sich. Hoftore, Fußböden, Fensterscheiben, jedes Möbelstück, alles klingt plötzlich ganz anders. Formen und Bilder, Farben und Schatten muss er aus seinen Ansichten „erlösen“ und die Menschen von seinen Gewohnheiten befreien. Jede Regung und Bewegung, ihre Stimmen, ihren Geruch, ihre Umarmungen, alles nimmt er nun anders wahr. Er hört ihr „geräuschvolles Herz“ reden. Diese besondere Fähigkeit zu sehen macht ihn im Zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich zu einer Schlüsselfigur des Widerstandes. Alle „Neulinge“ werden zuerst von dem klarsichtigen Blinden geprüft. Er durchschaut treffsicher jeden Spitzel und Verräter. Irgendwann wird er verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Er überlebt und beschreibt später, wie er sein wiedergefundenes Licht immer wieder erlösen muss, aber auch, wie dieses Licht ihn bewahrt und erlöst hat. Oft sind es einzelne Worte, an die er sich klammert, mal ein Vaterunser, das ihn über alle Entfernung und Ungewissheit mit seinen Freunden und Gefährten zusammenbringt und ihm die Angst nimmt. Oft hat er keine Worte, aber die Worte haben ihn. Als er seine Erinnerungen nach Jahren aufschreibt, stößt er immer wieder an die Grenzen des Sagbaren.
„Es gab Zeiten, in denen das Licht nachließ, ja verschwand. Das war immer dann der Fall, wenn ich Angst hatte, wenn ich, anstatt mich vom Vertrauen tragen zu lassen, zögerte … wenn ich mir sagte, dass die Dinge mir feindlich seien. Dieselbe Wirkung hatten Zorn und Ungeduld. Sie brachten mich und alles in Verwirrung. Die Gegenstände kippten um, lallten wie betrunken. War ich jedoch heiter und aufmerksam, hellten sich alle Bilder wieder auf …“
Das Licht selbst muss erlöst werden. Nicht nur für einen hellsichtigen Blinden.
2. Wahr halten
Stilles Gepäck
Wer einmal in der Abendsonne am Ölberg stand und über die Altstadt von Jerusalem auf den Zion hinübergeschaut hat, vergisst das nie. Das zeigt, dass die Seele schneller belichtet als der Verstand. Eh man „sich versieht“, hat sie ein Bild längst auswendig gelernt und gesichert. So trugen die Deportierten den Zion in ihrer Seele wie ein stilles Gepäck mit sich nach Babylon. Und wie bei einer Sanduhr die fallende Zeit Korn für Korn durch die enge Mitte muss, kam keine echte Hoffnung am ersten Wort von Psalm 126 vorbei. Erst nach dem „Wenn“ wird es hell. Erst dann setzt staunender Jubel ein, verewigt auf vielfältige Weise in leuchtenden Worten, freudigen Verheißungen und Liedern, lauter auswendig gelernte Freiheit. Die himmlische Tonart bleibt unverkennbar.
„Portatives Vaterland“ nannte der Dichter Heinrich Heine dieses Überlebensgepäck. Gesichertes Seelenbrot, denn die Seele erkennt nur, was sie kennt.
Worthäuser
Den Deportierten in Babylon mussten ihre Heimkehr-Worte als Ermutigung genügen. Nicht nur im Laufe von Lagerjahren verliert auswendig gelernter Trost seine Kraft.
Es gehört zum Lebensalltag, dass Hoffnungen verblassen. Sogar die Erinnerungen entfärben sich, Träume werden schwarzweiß. Oft ist schnelles Vergessen leichter zu ertragen als alternde Gewissheit. Man muss für wahr halten, woran man sich klammern will. Nicht selten gegen allen Augenschein.
So liest es sich auch am Rand des Überlebensweges, den der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905-1997) in seinen Büchern beschreibt. Am Anfang steht eine nüchterne Beobachtung: „Mein Herz sieht weiter als mein Verstand.“ Mit dieser Feststellung und seinem trotzigen „Ja zum Leben“ überlebte er vier Konzentrationslager. Er versuchte damals, alle seine Lieben, deren Verbleib ungewiss war, in Worten zu bergen. Er baute sich und ihnen (und auch Gott) Worthäuser, die er auswendig lernte.
Oft handelte es sich um Geschichten, in denen Gott einfach da war, wenn auch nur vage oder flüchtig. Das Stück Brot, und Gott war im Brot. Eine Kelle Suppe. Die Schuhe. Ein Unterhemd. Aus allem hörte er Gott „Ja“ sagen. Frankl klammerte sich an dieses „Ja“ und glaubte gegen alle Wahrscheinlichkeit an das, was er wahrhaben wollte, ja, unbedingt für wahr halten musste: Er glaubte an ein Wiedersehen mit seiner ebenfalls deportierten Frau Tilly, ohne je ein Lebenszeichen von ihr zu haben.
Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Aber sie ließ ihn überleben.
Sein Herz sah weiter als sein Verstand.
Aber seine Hoffnung musste wieder ganz von vorn lernen, „Ja“ zu sagen.
Mehr Gewissheit war nie.
3. Wahrmachen
Manche Wegweiser kann man nur rückwärts lesen.
Als Lehrling musste ich jeden Morgen mit der Straßenbahn quer durch Ostberlin von Pankow zum Hackeschen Markt. Das monotone Grau der Häuserfassaden spiegelte sich in den Scheiben. Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee, Mitte. Wo die Bahn die Kastanienallee verlässt, machten die Schienen einen großen Bogen um die Zionskirche.
Ein durchdringendes Kreischen ertönte jedes Mal beim Einbiegen der Bahn, als ob sich Räder und Schienen in der Kurve zankten. Die langgezogene Tonfolge beendete alle Tagträume und mahnte zum baldigen Aussteigen.
Ich hätte diese Töne vielleicht vergessen, wenn sie mir nicht in tiefstem Dunkel zum hellen Wegweiser geworden wären. 1980 wurde ich in Handschellen in einem fensterlosen Transporter quer durch Berlin gefahren, ohne Angabe des Ziels. Als ich das metallene Quietschen vernahm, waren das die süßesten Töne, denn ich wusste plötzlich, wo ich war, und mein Seelenkino belichtete vor Freude für ein paar Sekunden den markanten Zions-Kirchturm. Ich war für einen Moment ganz und gar auf meiner vertrauten Straße zu Hause. Die Fahrt ging, wie sich herausstellte, zum Gericht nach Mitte.
Die Zionskirche liebte ich allerdings schon lange vorher – wegen ganz anderer Töne. Dort gab es für ein paar Ostmark Kollekte reichlich Bach. Immer wieder, Jahr für Jahr die Passionen und das Weihnachtsoratorium. Und natürlich hatte ich dort zum ersten Mal auch das Requiem von Brahms mit der unvergleichlichen Musik zu den Worten aus unserem Psalm gehört:
„Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.
Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen
und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.“ (VV. 5 und 6)
Aber dieser Ostberliner Zion hatte noch mehr zu bieten. Die Kirche war eine der ersten Herbergen der Opposition in den 1980er Jahren. Es gab eine heimliche Bibliothek, eine illegale Druckmaschine, verbotene Tonbandrollen. Dazu das feste Vertrauen, dass das Wort seinen Weg findet und bahnt.
Einige Jahre später, aber noch vor dem Mauerfall, sah ich zum ersten Mal im Westfernsehen junge Menschen mutig gegen soeben erfolgte Festnahmen protestieren. Und da war es wieder, das wohlbekannte Kreischen der Räder, genau in dem Moment, als die Kamera auf die unverkennbare Silhouette des Kirchturms schwenkte. Nun klang es in meinen Ohren schon fast wie ein Psalmton: Wenn – der Herr die Gefangenen Zions erlöst…
Die wieder geschenkte Nähe, das Wunder der Freiheit, die Hoffnung auf ein bewohnbares europäisches Haus sind nur einige der vielen Früchte, die niemals hätten reifen können, wenn die mutigen „Wahrmacher“ vom Zion in Ostberlin sie nicht (mit und ohne Tränen) gesät hätten!
Und so steht dieses unscheinbare, gegen allen Augenschein gebetete „Wenn“ am Anfang des Psalms für das Unzerstörbare unseres Glaubens.
Es brachte Mauern zu Fall.
Es öffnete Gefängnisse.
Es stieß Gewaltige vom Thron.
Es genügt.
Für Gott
und für die „Wahrmacher“ vom Zion in Ostberlin.
Die kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.
Ich kann es zwar nicht beweisen. Aber als ich kürzlich einmal in der alten Linie von Pankow zum Hackeschen Markt fuhr, spielte die Straßenbahn extra für mich in der Kurve Geige…
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Gemeinde vor den Toren einer Großstadt in ländlicher Region in Ostwestfalen. Neben traditionellen Angeboten gibt es eine rege Jugend- und Konfirmandenarbeit. Die ehemalige Patronatskirche liegt zentral im alten Dorfkern. Die Gottesdienste sind in der Regel gut besucht. Es gibt vielfältige Kirchenmusik. Den Gottesdienst wird der Posaunenchor mitgestalten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die bewegende Lebens- und Widerstandsgeschichte des Jaques Lusseyran. Aber auch die Frage, wie dieser schöne Psalm 126 heute wieder zur Sprache finden kann. Der Zion als Sehnsuchtsort, mit dem ich so viele eigene persönliche Bezüge verbinde. (Auch die Erinnerung an die Zionskirche in Berlin, die auf besondere Weise mit der friedlichen Revolution verbunden ist). Wie kann diese Zionssehnsucht mit ihren vielen Facetten im Glaubensleben der nächsten Generation verankert werden?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gott wohl einige seiner wichtigen Texte in Blindenschrift verfasst haben muss.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Hinweise des Coaches waren hilfreich, um der eigenen „Betriebsblindheit“ zu widerstehen, und haben den Entwurf sehr verändert. (Bei der Predigt mit der Überschrift „Sehschule“ ist das hoffentlich geglückt!)
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"Dass ich fröhlich zieh hinüber, wie man nach der Heimat reist!" - Predigt zu Ps 90 von Winfried Klotz
Totensonntag, 24. 11. 2024
Predigt zu Ps 90,1-17 (Text: Züricher Bibel) von Winfried Klotz
1 Ein Gebet des Mose, des Gottesmanns. Herr, ein Hort warst du uns von Generation zu Generation.
2 Noch ehe Berge geboren wurden und Erde und Erdkreis in Wehen lagen, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
3 Du lässt den Menschen zum Staub zurückkehren und sprichst: Kehrt zurück, ihr Menschen. 89,48; 103,14; 104,29; Gen 3,19; Koh 12,7
4 Denn in deinen Augen sind tausend Jahre wie der gestrige Tag, wenn er vorüber ist, und wie eine Wache in der Nacht. 2Petr 3,8
5 Du raffst sie dahin, ein Schlaf am Morgen sind sie und wie das Gras, das vergeht. V.5-6: 37,2; 102,12; 103,15-16; Jes 40,6-8
6 Am Morgen blüht es, doch es vergeht, am Abend welkt es und verdorrt.
7 Denn wir schwinden dahin durch deinen Zorn, und durch deinen Grimm werden wir hinweggeschreckt.
8 Du hast unsere Sünden vor dich gestellt, unsere verborgene Schuld ins Licht deines Angesichts.
9 All unsere Tage gehen dahin unter deinem Zorn, unsere Jahre beenden wir wie einen Seufzer.
10 Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre. Und was an ihnen war, ist Mühsal und Trug. Denn schnell ist es vorüber, im Flug sind wir dahin.
11 Wer erkennt die Gewalt deines Zorns und deinen Grimm, wie es die Furcht vor dir verlangt?
12 Unsere Tage zu zählen, lehre uns, damit wir ein weises Herz gewinnen. 39,5
13 Kehre zurück, HERR! Wie lange noch? Habe Mitleid mit deinen Dienern.
14 Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade, so werden wir jubeln und uns freuen alle unsere Tage. 143,8
15 Erfreue uns so viele Tage, wie du uns beugtest, so viele Jahre, wie wir Unglück schauten.
16 Lass deine Diener dein Walten schauen und ihre Kinder deine Herrlichkeit.
17 Und die Freundlichkeit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns, gib dem Werk unserer Hände Bestand, ja, gib dem Werk unserer Hände Bestand.
Wir sind versammelt am Totensonntag zum Gedenken an unsere Verstorbenen. Das ist der äußere Anlass; aber was suchen wir eigentlich, was bewegt unser Herz, was treibt uns um? Suchen wir Trost oder stellen wir die Frage nach dem Sinn von Leben und Tod? Machen wir uns Gedanken wegen der Begrenztheit unseres eigenen Lebens? Was suchen wir heute am Totensonntag im Gottesdienst?
Man sagt: „Der Tod gehört zum Leben.“ Das klingt nach Entwarnung; alles nicht so schlimm, wir sind halt Natur, werden geboren und sterben, das ist ein ewiger Kreislauf. Wir wüssten doch nicht, was Leben ist, wenn es den Tod n nicht gäbe. Aber warum stürzen uns Sterben und Tod eines nahen Menschen in tiefe Trauer? Warum kämpfen wir oft mit allen Mittel darum, unser Leben zu verlängern? Warum erfüllt es uns mit Schmerz, wenn wir alt werden und feststellen, dass unsere Kräfte nachlassen? Warum also die Furcht vor Sterben und Tod, wenn alles doch nur ein natürliches Geschehen ist? Mit dem Wissen um die Endlichkeit des eigenen Lebens zu leben, ohne diese Wirklichkeit zu verdrängen, ohne sie durch Arbeit oder Vergnügen zuzuschütten, erfordert einen starken Rückhalt; haben wir einen solchen?
Beter Israels haben, die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen, ein Klagelied geschrieben; sie haben dieses Lied gedichtet auf dem Hintergrund der biblischen Erzählungen von Schöpfung und Sündenfall, überliefert auf den ersten Seiten der Bibel. Deshalb auch haben sie ihr Lied Mose zugeschrieben.
Ein Klagelied ist Psalm 90, kein Protestsong und auch kein verzweifelt aufbegehrendes Geschrei; sondern ein Reden, Beten, Singen vor Gott. Das ist die Zielrichtung dieses Liedes. Es beginnt nicht beim Klagen über die Vergänglichkeit des Menschen, sondern mit einem Bekenntnis:
„Herr, ein Hort warst du uns von Generation zu Generation. Noch ehe Berge geboren wurden und Erde und Erdkreis in Wehen lagen, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (V. 1+2)
Dieses Bekenntnis ist wie ein Anker für die Beter; es könnte doch sonst der Blick auf die Vergänglichkeit sie hoffnungslos verstummen lassen. Aber da ist einer, Gott, der das Leben gab, der seine Hand schützend über die Menschen hielt, der ihnen zugewandt ist, so wenig Menschen ihn auch begreifen. „Herr, ein Hort warst du uns!“ – Gott, zugewandt seinen Menschen, seiner Schöpfung. Für uns heute geht es um den Gott, den wir durch Jesus kennen als Versöhner und Retter. Es ist keine Nebensache, dass das Klagelied mit dem Bekenntnis zum lebendigen Gott beginnt! Gott, Hort, Zuflucht, durch Jesus, Retter und Versöhner! Welch ein Geschenk, welch ein starker Rückhalt! Wir stehen klagend über unsere Vergänglichkeit, über die Härte des Todesschicksals, über die Erfahrung Gottes als abgewandt, fremd, ja feindlich, nicht ohne Licht da. Unser Dunkel wird nicht weggenommen, aber aus Gottes unsichtbarer Welt scheint ein Lichtstrahl auf uns.
Der ewige Gott war und ist Zuflucht für und für. Der, der den Menschen aus Staub gemacht hat und zum Staub zurückkehren lässt, der ohne Zeit ist, Schöpfer, kein Teil der Schöpfung. ER ist Herr über unseren Tod. Der Tod ist keine Macht an sich, keine eigenständige Größe, sondern ein Geschehen, abhängig von Gott. Wir sterben, weil wir alt sind, vielleicht auch durch einen Unfall, eine Krankheit, ein Verbrechen, letztlich aber sterben wir nicht ohne den, der uns das Leben gab; alles ist abhängig von Gott. Damit sage ich nicht, dass der Tod Gottes Absicht für uns ist; seine Absicht ist das Leben.
In Bildern beschreiben die Beter ihre Erfahrungen mit der Vergänglichkeit des Lebens:
„Du raffst sie dahin, ein Schlaf am Morgen sind sie und wie das Gras, das vergeht. Am Morgen blüht es, doch es vergeht, am Abend welkt es und verdorrt.“ (V. 5+6)
Der Tod kommt plötzlich, überraschend, die Lebenszeit ist knapp bemessen. Manchmal steht über Todesanzeigen: „Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“ Meine Erfahrung als Mensch von über 70 Jahren ist: all die vielen Jahre schrumpfen im Rückblick zusammen. Wie schnell ist das Leben vergangen und es gibt auch jetzt kein Halten; der Abbau der körperlichen Kräfte weist auf ein Ende hin.
Aber warum muss es mit uns so gehen? Wenn Gott das Leben will, warum dann Sterben und Tod? Wie werden wir damit fertig? Welchen Sinn machen alle unsere Anstrengungen um ein langes, gesundes, auskömmliches Leben?
Auf Todesanzeigen lese ich manch tröstliches, Mut machendes Bibelwort: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil …“ Psalm 27, 1, oder „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Hebr. 13, 14; oft erscheint Dietrich Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“. Aber es finden sich auch Worte, die ganz im Diesseitigen verharren; Worte, die sich dankbar an den Verstorbenen richten, oder auch die Bitte einer Verstorbenen, „nicht traurig zu sein, von ihr zu erzählen und zu lachen und ihr einen Platz zwischen den Lebenden zu lassen“. Manchmal wird die Vergänglichkeit des Lebens und die Unendlichkeit der Erinnerung beschworen. Immer wieder taucht auch ein Satz auf, der den Tod nicht als Grenze, sondern als Übergang in ein anderes Dasein beschreibt: „Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume, ich leb in euch und geh durch eure Träume.“ Das Michelangelo zugeschriebene Gedicht bekennt sich in seiner letzten Zeile zur Unsterblichkeit des Menschen.
Wie bewältigen wir die uns allen gesetzte Perspektive auf das Ende unseres Lebens? Die Todesanzeigen spiegeln etwas davon; manche setzen ihr Vertrauen auf Gott; manche denken traurig, aber dankbar an den Verstorbenen; manche wollen ihre Verstorbene in ihr Leben integrieren. Für manche scheint es weiterzugehen, der Tod ist ein Schritt in einen anderen Raum, eine Wandlung zur Unsterblichkeit; klingt das nicht so, als hätten wir Menschen auch den Tod im Griff?! Aus meiner Sicht ist mit dem Tod nicht alles aus; für notvoller halte ich die Frage, was nehmen wir mit in diesen anderen ‚Raum‘?
Psalm 90 gibt uns erst einmal keine Antwort, die uns trösten und zur Todesbewältigung helfen könnte. Die Vergänglichkeit des Menschen, seine kurze Lebensspanne sehen die Beter begründet in Gottes Zorn über die Sünde:
„Denn wir schwinden dahin durch deinen Zorn, und durch deinen Grimm werden wir hinweggeschreckt. Du hast unsere Sünden vor dich gestellt, unsere verborgene Schuld ins Licht deines Angesichts. All unsere Tage gehen dahin unter deinem Zorn, unsere Jahre beenden wir wie einen Seufzer.“ (V. 7-9)
Das ist gesagt auf dem Hintergrund der Geschichte vom Sündenfall. (1. Mose 3) Der Mensch übertritt Gottes Gebot, er will sein, wie Gott und Gut und Böse erkennen. Das führt zur Trennung von Gott, zur Trennung von der Quelle des Lebens. Die Sündenfallgeschichte beschreibt beispielhaft, was wir Menschen ständig tun. Die Übertretung des Guten, um mehr Leben zu gewinnen, gehört zu unseren Genen. Wir können uns daraus nicht befreien. Aber warum straft uns dann Gott? Er straft uns nicht, er entzieht sich uns.
Ich weiß nicht, ob Sie mir bei diesen Gedanken folgen wollen. So wie das Menschenpaar in der Sündenfallgeschichte sind wir idealistisch, auf Fortschritt programmiert. Das hat eine Notwendigkeit, aber ohne Gott sind wir grenzenlos und beuten Mensch und Erde aus. Deshalb sind uns Grenzen gesetzt, wir sind in die Zeit gestellt, vergängliche Wesen:
„Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre. Und was an ihnen war, ist Mühsal und Trug. Denn schnell ist es vorüber, im Flug sind wir dahin. Wer erkennt die Gewalt deines Zorns und deinen Grimm, wie es die Furcht vor dir verlangt? Unsere Tage zu zählen, lehre uns, damit wir ein weises Herz gewinnen.“ (V. 10-12)
Die Länge der Lebenszeit, die Psalm 90 nennt, war damals eher ungewöhnlich; viele starben schon mit 40-60 Jahren. Für uns scheint es fast etwas wenig: Muss man nicht die achtzig überschreiten, um gelebt zu haben? Aber gleich, wie alt wir werden, das Urteil über den Gewinn menschlicher Mühen fällt in unserem Klagelied negativ aus:
„Und was an ihnen – den Jahren – war, ist Mühsal und Trug. Denn schnell ist es vorüber, im Flug sind wir dahin.“
Dieses Urteil könnte uns lähmen, es ist von der Vergänglichkeit des Lebens her gedacht. Mühsal und Trug verweisen darauf, dass wir uns Ziele setzen, uns mit viel Mühe dahin durchkämpfen und am Ende das Erreichte loslassen müssen; im Tode bleibt uns nichts! Aber wer nimmt das ernst? Vor allem, wer sieht sich in seinem Leben und Handeln vor Gott gestellt, seinem Urteil unterworfen? Ich staune immer wieder, wie regierende alte Männer ohne Gewissen ihren Machtinteressen folgend über Leichen gehen; wissen die nicht, dass ihr Leben begrenzt ist; dass sie Rechenschaft für ihr Tun ablegen müssen vor dem Lebendigen?
Für uns alle gilt: Richte dein Leben weise ein, achte auf die schnell dahineilende Lebenszeit und tue, was gut ist. Der Prophet Micha sagt:
„Er – Gott – hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der HERR von dir fordert: Nichts anderes, als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen.“ (Micha 6, 8)
Oder Paulus im Römerbrief:
„Ich bitte euch nun, liebe Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes: Bringt euren Leib dar als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer – dies sei euer vernünftiger Gottesdienst! Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. (Römer 12, 1+2)
Wir sind nicht ohne Wegweisung für ein gutes Leben; es geschieht nicht nur im Wissen um die Vergänglichkeit des Lebens, sondern vor allem im Hinschauen auf Jesus Christus! Im Vertrauen auf Jesus, das uns dazu frei macht, Gottes Anliegen unseren Anliegen vorzuordnen, wird unser Leben zu einem bleibenden Gewinn. Durch Jesus sind wir versöhnt mit Gott und können durch ihn mit uns selbst und anderen versöhnt leben. Das ist immer einen Gewinn!
(Exkurs: Ich will das noch ein wenig ausführen: Vielfach wird beklagt, dass Kirchengemeinden schrumpfen; nicht nur, weil mehr Mitglieder sterben als neu aufgenommen werden, sondern weil die Zahl der Austritte hoch ist. Kirchenleitend wird deshalb der Rückbau betrieben und zugleich mehr Exzellenz von denen gefordert, die hauptamtlich Dienst tun. Das alles ist schön und gut. Entscheidender ist aber etwas anderes: Statt Pfarrer/innen auf Exzellenz zu trimmen, die schöne Events produzieren, sollten sie in der Spur Jesu vor allem Menschen sein, die in der Liebe Christi Menschen nachgehen und die in Christus geschenkte Versöhnung bezeugen und leben. Christliche Gemeinde soll wie ein Ofen sein, an dem sich Menschen wärmen können, wo sie tragende Gemeinschaft finden und angenommen sind. Eine Gemeinde ohne Gemeinschaft hat keine Zukunft trotz exzellenter ‚Performance‘ - wie man heute zu sagen pflegt.)
Was ich von Jesus Christus her angedeutet habe, findet sich in unserem Klagelied in den hoffnungsvollen Bitten der Schlussverse:
„Kehre zurück, HERR! Wie lange noch? Habe Mitleid mit deinen Dienern. Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade, so werden wir jubeln und uns freuen alle unsere Tage. Erfreue uns so viele Tage, wie du uns beugtest, so viele Jahre, wie wir Unglück schauten. Lass deine Diener dein Walten schauen und ihre Kinder deine Herrlichkeit. Und die Freundlichkeit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns, gib dem Werk unserer Hände Bestand, ja, gib dem Werk unserer Hände Bestand.“ (V. 13-17)
Manche mögen das als Zusatz empfinden, aber Klagelieder enden üblicherweise nicht ohne hoffnungsvollen Ausblick. Wer so bitten kann, wie in unseren Versen, der hat Hoffnung! Denn sein/ihr Lebensanker ruht in Gott. Wer so bitten kann, ist angesichts der Not und Vergänglichkeit des Lebens, aller ungelösten und nicht zu lösenden Fragen, nicht verstummt oder hat sich gegen Gott verschanzt, sondern wird getragen von der Kraft des Glaubens an Gott, dessen Herz für uns schlägt, obwohl wir Sünder sind. Gott macht uns wieder froh und richtet uns auf. ER hält uns auf unserem Weg auch im dunklen Tal des Todes.
Der und die kann mit dem Liederdichter singen, sagen, vielleicht auch nur in großer Schwachheit stöhnen:
5. Bleib mir nah auf dieser Erden, bleib auch, wenn mein Tag sich neigt,
wenn es nun will Abend werden und die Nacht herniedersteigt.
Lege segnend dann die Hände mir aufs müde, schwache Haupt,
sprich: »Mein Kind, hier geht’s zu Ende; aber dort lebt, wer hier glaubt.«
6. Bleib mir dann zur Seite stehen, graut mir vor dem kalten Tod
als dem kühlen, scharfen Wehen vor dem Himmelsmorgenrot.
Wird mein Auge dunkler, trüber, dann erleuchte meinen Geist,
dass ich fröhlich zieh hinüber, wie man nach der Heimat reist.
(Text: Philipp Spitta (1829) 1833 / EG 406 Bei dir, Jesu, will ich bleiben) Dieser letzte Satz der Strophe 6 ist meine ganz persönliche Bitte für mich selbst. Möge uns allen Gottes Geist den Blick öffnen für den auferstandenen Christus Jesus! Der Herr ist nahe. (Phil. 4, 5b) Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Gottesdienst am Totensonntag ist geprägt vom Gedenken an die Verstorbenen des vergangenen Kirchenjahres.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mit dem Wort „beflügelt“ kann ich nicht viel anfangen. Predigtschreiben war wie meistens ein langer Weg, im Ruhestand habe ich – Gott sei Dank – Zeit. Mich treibt an, dass die Botschaft der Bibel, Gottes Wort in irdischer Gestalt, rettende Botschaft ist. Der lebendige Gott kommt uns nahe durch dieses Wort, es erzählt von Rettung im AT und NT. Im Hören dieser Botschaft, deren Zentrum Jesus Christus ist, kann Gottes Heil auch an uns geschehen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Botschaft von Psalm 90 ist tiefgründig und konfrontativ, die Vergänglichkeit des Menschen wird nicht beschönigt, die Rede von Gottes Zorn verweist auf die eigentliche Not des Menschen, die heute auch in der Kirche oft nicht ernst genommen wird. (Lit.: H. J. Iwand, Sed originale per hominem unum, EvTh 6, 1946/47, 26-43)
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
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Sekundenglück - Predigt zu Ps 16,5-11 von Christiane Quincke
Sekundenglück
Der Herr ist mein Gut und mein Teil; du hältst mein Los in deinen Händen!
Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden.
Ich lobe den Herrn, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts.
Ich habe den Herrn allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht.
Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen.
Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.
Du tust mir kund den Weg zum Leben:
Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.
1.
Oma, I’m so happy, rief der 5jährige Tom, als er das erste Mal die Ostsee sah und umarmte seine Großmutter Karin. Er hatte gerade die ersten englischen Wörter gelernt. Einfach so. Niemand wunderte sich, warum er das auf englisch sagte. Warum auch. Er schien wirklich glücklich und überwältigt zu sein. Egal in welcher Sprache. I’m so happy.
Auch für Karin war das ein Glücksmoment. Oft versteht sie Tom nicht, vielleicht weil sie sich viel zu selten sehen oder weil er Autist ist und sie nicht – oder beides. Aber in diesem Moment waren sie beieinander. Verstanden sich bis in die kleinste Körperzelle hinein. Das Meer, der Sand, die Möwen, Wind und riesige Wolken. Wie aus dem Bilderbuch. Fast kitschig. Aber es war jetzt da – ganz echt. Ganz richtig. Ganz für sie beide: Oma Karin und Tom. Glücklich. Sekundenglück.
„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt“
(Grönemeyer, Sekundenglück)
2.
Glück - ein großes Wort. Zu groß. Voller Sehnsucht. Und oft verkitscht.
Das Sekundenglück ist aber klein. Oft übersehen.
Nur du kannst es sehen, spüren, fühlen – in dieser Sekunde.
Nur du und vielleicht die andere Person, mit der du es erlebst:
dein Enkel, deine Freundin, dein Mann, deine Patientin, dein Kunde.
Wenn du es erlebst, spürst du es mit jeder Faser deines Körpers. Es ist Leben pur.
Jetzt - in dieser Sekunde. Du kannst es nicht festhalten. Genau das macht es aus.
Das Sekundenglück geht vorbei.
Es ist das Hüpfen über die Welle am Strand oder die Muschel, die du findest.
Es ist das eine Lied im Radio, das du jetzt brauchst.
Dein Tanz in der Küche. Der erklommene Berggipfel. Der Regenbogen.
Dein schlafendes Kind im Autositz. Oma, I’m so happy.
Es ist der gemeinsame Gesang von 1000en Menschen.
Das erlösende Handballtor. Der eine Videoclip. Die erste Erdbeere im Jahr.
Der Jupiter am Sternenhimmel. Und neben ihm der Mars.
Das Telefonat mit der Jugendfreundin nach vielen, vielen Jahren.
Das Grab der Mutter, an dem sich zwei Schwestern endlich wieder umarmen.
„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt“
3.
Herbert Grönemeyer singt diese Worte seit 2018.
20 Jahre zuvor war seine erste Frau Anna gestorben.
Ihr Tod hatte ihn damals aus der Bahn geworfen.
Ein Jahr lang machte er nichts mehr mit Musik.
Kein Konzert. Kein Lied komponieren. Keinen Text schreiben.
Erst dann fing er langsam wieder an und fasste seine Trauer in neue Töne.
Zwei seiner bekanntesten Songs sind entstanden: „Mensch“ und „Der Weg“.
Und bis heute – 26 Jahre später – taucht die Trauer in seinen Songs auf –
und zugleich die wiedergefundene Lebensfreude.
Grönemeyer weiß, wie zerbrechlich Glück ist. Wie vergänglich.
Wie brutal der Tod. Und endgültig.
Grönemeyer weiß, wie kostbar deshalb jeder kleine Moment ist.
Wie kostbar und wie sehr zu genießen. Jetzt.
Das Sekundenglück, das das Leben ausmacht.
Wer Grönemeyer auf Konzerten erlebt hat (wie ich Anfang August in Karlsruhe),
weiß, wie ansteckend seine Lebensbegeisterung ist.
Ein Abend mit ihm ist Empowerment pur mit guter Laune und starker Botschaft.
Die Füße tun danach weh vom Tanzen, die Stimme ist rauh vom Mitsingen,
aber alle sind glücklich. Sekundenglücklich.
Die Psalmen der Bibel kennen das nur zu gut.
Sie sind voll davon: von Jubel bis in die Haarspitzen,
von tiefster Ergriffenheit und überschwänglicher Freude.
Mein Herz und meine Seele sind fröhlich; auch mein Leib
Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne
So jubelt der 16. Psalm.
Und du? Jubelst du mit?
4.
Oder fällt es dir heute nicht leicht?
Vielleicht machen dir die Ergebnisse der Landtagswahlen vor zwei Wochen Sorge.
Und die bevorstehende Landtagswahl am kommenden Wochenende (22.9.) auch.
Mir geht es jedenfalls so.
Mich bedrückt insgesamt die politische Stimmung in unserem Land sehr.
Dieses Die da oben machen alles falsch. Und vielleicht stimmt davon vieles sogar.
Mich bedrückt es, dass immer mehr jesidische und iranische Geflüchtete abgeschoben werden, obwohl es in ihrer alten Heimat immer noch gefährlich für sie ist.
Ich sehe die Reflexe auf den grausamen Terrorakt in Solingen:
das Asylrecht wird in Frage gestellt und die Menschenwürde versinkt im Mittelmeer.
Ich mach mir Sorgen um meine Kirche:
schafft sie es, wirklich und ernsthaft das Thema „Sexualisierte Gewalt“ anzugehen?
Und ich mach mir Sorgen um die vielen sehr belasteten Familien, um ihre Kinder:
sie stehen immer mehr unter Druck und haben Angst vor der Zukunft.
So wie Oma Karin: ihr Enkel Tom – wird er eine Schule finden, die zu ihm passt?
Kann er überhaupt mal so leben, dass er sich nicht verbiegen muss?
Wie kann sie seine Eltern noch besser unterstützen, auch wenn sie so weit weg wohnen?
All diese Gedanken hat Karin.
Dennoch ist sie in diesem einen Moment mit Tom glücklich.
Dieses Sekundenglück will sie wach halten. Sich daran erinnern.
Mit der Muschel z.B., die sie mit Tom gefunden hat.
Wenn sie diese in der Hand hält, riecht sie wieder die Ostsee.
Sie hört die Möwen und die Wellen. Sie fühlt den Arm von Tom um ihren Hals.
Ja, die Sorgen sind dann noch da, aber sie füllen sie nicht mehr allein aus.
Und sie weiß ganz genau: in diesem Sekundenglück mit Tom – da war auch Gott dabei.
Gott ist da und die Muschel in ihrer Hand erinnert sie auch daran.
Aber reicht das, wenn die Sorgen wieder Überhand gewinnen: ist Gott dann auch da?
5.
Ich habe den Herrn allezeit vor Augen – singt der 16. Psalm.
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, du bist bei mir – diese Worte lese ich im 23. Psalm.
Ja, unsere Psalmisten kennen nicht nur die freudigen und wonnigen Momente,
sondern auch die dunklen Täler, die Angst, die Verzweiflung.
Auch dann lassen sie Gott nicht los.
Du bist bei mir. Du musst bei mir sein. Gott, es ist deine Aufgabe!
Du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen
und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe.
Wow, denke ich dann. So möchte ich auch mit Gott rechnen. Im Guten wie im Schlechten.
Das Sekundenglück aus der Hand der Ewigen nehmen
und ihre Nähe spüren, wenn das Glück zerbricht.
Ich will in Gutem und Bösen, das mir geschieht, verbunden bleiben -
mit Gott, mit mir und mit meinen Lieben.
Denn ja, das ist das Leben, das du, Gott, mir schenkst:
ein Leben voller Glückssekunden und zugleich endlich, zerbrechlich, begrenzt.
Weil es so begrenzt und zerbrechlich ist, sind die Glückssekunden umso wichtiger.
Das Sekundenglück trägt auch dann, wenn es nicht mehr da ist.
Weil du, Gott, immer noch da bist.
6.
„Und du denkst, dein Herz schwappt dir über
Fühlst dich vom Sentiment überschwemmt
Es sind die einzigartigen Tausendstel-Momente
Das ist, was man Sekundenglück nennt“
Sekundenglück, das trägt. Ob das geht?
Auf YouTube schreibt eine Sekundenglück-Hörerin:
Wir haben dieses Lied bei der Beerdigung meiner Mutter gespielt.
Eine Frau, die 2018, in dem Jahr, in dem das Lied veröffentlicht wurde, eine Krebsdiagnose bekam und 4 Jahre gegen diesen Krebs gekämpft und leider verloren hat.
Sie hatte es im Leben oft schwierig, da ihr Mann bereits 1992 starb
und sie nun mit 4 kleinen Kindern alleine war.
Trotzdem hat sie immer versucht, das Beste aus ihren schwierigen Situationen zu machen.
Auch im Kampf gegen den Krebs versuchte sie immer schöne Momente zu haben
und das Leben zu genießen. (…)
Ihre letzten Worte am Sterbebett waren: "Alles ist gut!“
Oma, I’m so happy!
Wenn die Sorgen um die junge Familie zu groß werden,
erinnert sich Karin an diesen Satz von Tom.
An seine Arme, an den Geruch vom Meer.
Sie erinnert sich daran, dass Gott in diesem Moment da ist
und darum auch da sein wird, wo es schwer ist.
Dieses Sekundenglück hilft ihr, nicht aufzugeben und der jungen Familie zu helfen.
Hilft mir, zu weiteren „I’m so happy“ beizutragen.
Dieses Sekundenglück hilft mir, mich weiterhin für die Menschenwürde einzusetzen
und für eine Kirche, die glaubwürdig ist.
Denn das Sekundenglück ist von Gott getragen.
So wie auch das zerbrochene Glück.
Ja, du bist da, Gott. Immer. Auch jetzt.
In diesem zerbrechlichen, endlichen Leben voller Sekundenglücksmomente.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die die angespannte politische und gesellschaftliche Situation (zwischen den Landtagswahlen) als belastend erleben, insbesondere junge Familien – aber auch alle, die sich kaum trauen, ihre kleinen Glücksmomente wahr- und anzunehmen. Der Sommer geht zu Ende und mit ihm vielleicht auch eine gewisse Leichtigkeit.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Tatsächlich war ich Anfang August auf einem Grönemeyer-Konzert und habe mir danach wieder einige seiner Songs angehört. Dabei bin ich wieder auf „Sekundenglück“ gestoßen, bei dem ich dieselbe Haltung wie von Psalm 16 entdeckte. Es reizte mich diese Leichtigkeit aufzunehmen und nicht automatisch mit dem Thema „Auferstehung“ zu kombinieren, sondern die Vielschichtigkeit der Psalmen zu Wort kommen zu lassen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ps 16, 8 inspirierte jüdische Menschen im 18./19. Jahrhundert zum Brauch der sog. „Schiwiti“, kontemplative Gebetsbildchen (vgl. Predigmeditationen im christlich-jüdischen Kontext zur Perikopenreihe 6, Berlin 2023, S. 389ff). Ich nahm die Anregung von Evelina Volkmann auf, nach ähnlichen Erinnerungsstützen für Gottes Nähe zu suchen. Auch der Gedanke, dass Psalm 16 nicht auf das „Jenseits“ zielt, sondern auf das sinnerfüllte Leben jetzt, wurde durch die Lektüre der Predigtmeditationen gestärkt.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe die Angewohnheit, ziemlich häufig „und“ zu verwenden. Meine Coach wies mich darauf hin und ermutigte mich, Sätze nochmal neu zu formulieren: kürzer, prägnanter, ohne allzu viele Füllwörter. Außerdem war ich dankbar für Ihre kritischen Fragen zu manchen Behauptungssätzen, die mich dazu veranlassten, entweder auf diese zu verzichten oder sie so zu formulieren, dass sie nachvollziehbar sind. Danke dafür!
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15.09.2024 - 16. Sonntag nach Trinitatis
Waiting in vain - Predigt zu Ps 24 von Frank Nico Jaeger
Der letzte Gang des Tages führt immer zum Keller, denn dorthin kommt die Katze für die Nacht. Nachdem sie uns zur Schlafenszeit hin und wieder halbbenommene Mäuse in die Küche oder in den Flur geschleppt hat, haben wir dieses Vorgehen für besser befunden. Ist die Katze versorgt und der Keller abgeschlossen, folgt als nächstes die Haustür. Denn niemand, der Zeitung liest und Nachrichten schaut, wird diese über Nacht offenlassen. Türen müssen zu sein. So ist das.
Auch die Teenies im Haus wissen um die Vorteile verschlossener Türen und schützen sich so vor unseren neugierigen Blicken. Türen werden verschlossen. Es wird sogar erwartet: Eine Bank, deren Türen immer offenstehen, wird es schwer haben, Vertrauen zu schaffen. Eine vernünftig verwaltete Welt braucht Türen, die sich öffnen und schließen lassen. So funktioniert unsere Welt.
Türen und Tore, die man verschließen konnte, gab es schon immer. Auch in unserer Stadt gab es einst ein Stadttor, das den Menschen Einlass gewährte oder eben nicht. Und wer reindurfte, konnte Handel treiben, sein Recht einfordern oder Bekannte besuchen. Aber es gab auch die Möglichkeit, am Tor abgewiesen zu werden. Damals wie heute: Wer nicht gern gesehen ist, wer nicht dazugehört, dem bleibt das Tor verschlossen. Das verschlossene Tor schützte die Stadt vor Angreifern und verhinderte so, dass das Böse, die Welt draußen in die Stadt gelangen konnte.
Heutzutage sind die Türen, die den Weg versperren, von anderer Art; nicht mehr so prächtig und kunstvoll wie damals. Eher unscheinbar, wie die hüfthohen durchsichtigen Türchen vor der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Klein, aber funktional. Keine Tür, kein Tor, die jeweils für alle geöffnet wären.
Am 1. Advent geht es auch um Tor und Tür und um einen Weg hinein in unsere Welt. Genauer gesagt, zu uns. Aber diesmal steht kein Angreifer vor den Toren der Stadt oder ein Dieb vor der eigenen Haustür. Heute steht Gott selbst vor dem Eingang und bittet um Einlass. Der Herr der Welt steht vor unserer Welt und möchte rein. Oft schon bin ich am Zoll gefragt worden, was der Grund meiner Einreise ist. Man muss Rede und Antwort stehen. Und selbstverständlich gilt: Wer in ein fremdes Land einreisen möchte, braucht dazu einen guten Grund oder den richtigen Pass. So versucht sich unsere Welt zu schützen vor bösen Menschen oder schlimmen Dingen von außerhalb. Der Eintritt durchs Tor muss erlaubt werden.
Und manchmal bleibt ein Tor verschlossen.
Als wir dieses Jahr in Israel waren, haben wir das „Goldene Tor“ besichtigen können. Es ist das einzige Tor, das nicht passierbar ist, weil es im 16. Jahrhundert dauerhaft zugemauert wurde. Es liegt schräg gegenüber vom Ölberg und kann auch von dort aus sehr gut erkannt werden. Nun ist das goldene Tor aber auch das einzige Tor, das direkt auf den Tempelberg führen würde. Christlicher Überlieferung zufolge ist Jesus, als er das letzte Mal nach Jerusalem kam, über den Palmsonntagsweg durch dieses Tor hineingeritten. Reiseleiter erzählen gerne, dass das Tor dereinst vom türkischen Herrscher Süleyman dem Prächtigen verschlossen und versiegelt und davor ein weiträumiger Friedhof angelegt worden sei, weil der Messias – der durch dieses Tor bei seiner Wiederkehr kommen würde – niemals über fremde Gräber gehen würde und somit seine „Mission“, in die Stadt einzuziehen, nicht erfolgreich beenden könne.
Nun, am 1. Advent, steht Gott selbst vor der Tür und bittet um Einlass. Sicher wäre es ihm ein leichtes, alle Tore und Türen, ob zugemauert oder abgeschlossen, zu überwinden. Was sollte ihn stoppen? Auch ein verbarrikadiertes Tor dürfte für den Herrn der Welt kein allzu großes Problem darstellen. Er könnte einfach senkrecht von oben in die Stadt kommen oder schlicht über die Mauer springen. Aber er tut es nicht. Er steht am Tor wie ich in der Schlange am Zoll und wartet, bis er an der Reihe ist. Und wenn er gefragt wird, gibt er Auskunft darüber, wer er ist und was er hier will.
Und wie er da so steht, vor den Toren und Türen der Welt, ist er freundlich. Weil er nicht besiegen will, nicht kämpfen muss. Ihm gehört schon die Welt. Darum steht er ganz gelassen da. Gott hat Zeit. Er kann warten und er hofft darauf, dass er erkannt wird. Das ist seine vornehmste Aufgabe in diesen Tagen des Advents, des Wartens. Erkannt werden, um eingelassen zu werden in unsere Städte und Häuser. Der König der Ehre möchte uns die Ehre geben.
Dabei ist es ihm egal, ob du deine Wohnung schön dekoriert, geputzt oder aufgeräumt hast oder dein Herz rein ist. Du darfst nicht vergessen, Gott hat schon Schlimmeres gesehen. Was heutzutage viele vergessen, ist, dass der Stall von Bethlehem auch gar nicht schön, sondern ziemlich wüst ausgesehen hat: gar nicht heimelig, sondern recht unheimlich. Das hat dieser Ort mit vielen Herzen gemeinsam. Und natürlich weiß Gott auch, dass alle Weihnachtsduftkerzen nur übertünchen, aber nie den schlechten Geruch für immer vertreiben. Er ahnt wohl auch, dass hinter mancher Fassade ein Abgrund lauert. Und da, genau da, besucht er uns. Genau vor dieser Tür steht Gott in diesen Tagen und bittet um Einlass. Ganz freundlich tut er das. Er schlägt nicht gegen die Türen, der Advent klopft leise an. Und wenn du deine Tür öffnest, steht er dir gerne Rede und Antwort. Sagt dir, wer er ist und warum er da ist. Ganz zärtlich tut er das und wartet nur darauf, dass wir ihn erkennen und ihm glauben, dass er uns liebt. So begrüßt er dich, wenn du die Haustür morgens wieder aufschließt. Was bleibt dir da anders übrig, als dir die Augen zu reiben und dich umzuschauen. Vielleicht glaubst du auch, du schläfst noch. Aber dann merkst du, dass du nur auf Socken an die Tür gegangen bist und wie kalt deine Füße sind. Also grüßt du einfach freundlich zurück. Lächelst verlegen und heißt Gott willkommen.
Sei ganz beruhigt: Es gibt überhaupt keinen Grund dich zu schämen, weil die Kinderschuhe kreuz und quer im Flur rumliegen und du die Nacht vorher die Katze im Keller weggesperrt hast. An diesem Ort, an deinem Ort, an allen Orten, egal, wie sauber oder nicht, egal, wie dunkel oder hell, möchte Gott bei dir sein.
Aber denk daran: Keiner von uns steht gerne vor einer verschlossenen Tür. Darum: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit. Es kommt der Herr der Herrlichkeit. Lasst Gott nicht so lange warten. Es soll dein Schaden nicht sein. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Beginn des Advents, die Kirche wird gut besucht sein, nicht voll, aber auch nicht leer. Die Menschen sind der schlechten Nachrichten voll und brauchen vielleicht mal was anderes.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beim Erstkontakt mit dem Text läuft zufällig „Waiting in vain“. Irgendwie passt das zum Text, denke ich. Inspiriert von dem Bild eines wartenden Gottes vor meiner Tür, der sicherlich nicht in Kategorien wie „umsonst“ denkt, ist mein Text entstanden.