Liebe Gemeinde,
Begegnung auf Augenhöhe
zwei Frauen, die ein Kind erwarten, begegnen einander. Ihre Freude ist groß. Die Energie, die in ihnen steckt, ist ansteckend und springt bis in unsere Zeit hinüber.
Mit Andacht und Liebe haben die Maler aller Zeiten diese Begegnung dargestellt und das Besondere dieses Treffens festgehalten. Wer mit offenen Augen durch alte Kirchen oder Klöster geht, die Fresken und Kirchenfenster betrachtet, der wird häufig auch ein Bild von Maria und Elisabeth entdecken. Man kann dann sehen, wie sie sich gegenseitig stärken, wie sie bereit sind, das, was auf sie zukommt, gemeinsam zu tragen. Auf vielen dieser Bilder tragen Maria und Elisabeth einen Heiligenschein. Die beiden Kreise vereinigen sich auf vielen Bildern zu einem einzigen, großen Schutzschild, das sich um ihre Köpfe legt. Der Heiligenschein um einen Menschen ist ein Teil des Gotteslichtes. Von diesen Menschen geht in besonderer Weise ein Stück Himmel, ein Stück auch von Gottes Wesen aus. Gott scheint durch sie durch und sie strahlen etwas von ihm aus.
Maria und Elisabeth haben wohl am wenigsten damit gerechnet, dass ihre Begegnung einmal die Fantasie so vieler Künstler inspirieren würde. Zwei einfache Frauen begegnen sich, zwei Frauenschicksale. Ein Schicksal, das in ähnlicher Weise viele andere vor und nach ihnen auch erlebt haben: Sie sind unerwartet schwanger geworden. Elisabeth ist im vorgerückten Alter und hatte die Hoffnung auf ein eigenes Kind schon aufgegeben. Maria ihrerseits wurde durch die Schwangerschaft völlig überwältigt und wusste nicht, wie ihr geschah. Obwohl sie so unterschiedlich sind – ihre ungewöhnliche Schwangerschaft haben sie gemeinsam. Und so umarmen sie sich und stehen einander bei – gegen das Gerede der Leute, für die die eine zu alt für ein Kind ist und die andere noch zu jung. Von all dem um sie herum sind sie in ihrer Begegnung befreit. Mit ihnen geschieht etwas, das größer ist, als sie selbst es fassen können.
Begegnung verändert
Der Christbaum ist schon geschmückt. Die Proben für das Krippenspiel in der Christvesper sind abgeschlossen. Übermorgen ist Heilig Abend. Haben wir da noch die Muße, uns diesen beiden Frauen zuzuwenden? Und überhaupt: Die Weihnachtsgeschichte erzählt doch davon, wie im Stall von Bethlehem ein Kind geboren wird. Ein Kind, das als Heiland der Welt den Lauf der Weltgeschichte verändern soll.
Es ist keine Frage, die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem ist ein weltstürzendes Ereignis. Der Evangelist Lukas ist der Meinung, dass wir dieses Ereignis nur recht verstehen können, wenn wir auch die Vorgeschichte kennen. Und deshalb erzählt er diese Vorgeschichte. Eigentlich müsste man sagen, er erzählt zwei Vorgeschichten: die Geburtsgeschichte von Johannes dem Täufer und die Geburtsgeschichte von Jesus von Nazareth. Elisabeth und Maria verbinden diese beiden Geschichten miteinander. Die beiden Frau erkennen, dass ihre Schwangerschaften nicht nur ihr eigenes Schicksal berühren. So wie sich Gott ihnen zuwendet, so gilt seine Aufmerksamkeit allen Niedrigen, allen am Rande und wenig Angesehenen und allen Notleidenden. Daraus schöpfen sie ihre Kraft und Hoffnung.
Hinzu kommt ihre Freude, die sie so deutlich ausstrahlen. Schon der Engel Gabriel setzt sie als Grundton. „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!“ (V.28) Im griechischen Urtext steht dafür ein Wort, dass wir auch mit „Freue dich“ übersetzen können.
Auch wenn Maria am Anfang der Begegnung erschrocken ist, so reagiert sie doch erstaunlich gelassen. Der himmlische Bote kündigt ihr schließlich eine baldige Schwangerschaft an, die nach menschlichem Ermessen völlig unmöglich ist. Sie stellt lediglich eine Nachfrage: „Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß?“ (V.34) So als ob sie überprüfen möchte, ob das wirklich stimmt, was Gabriel ihr sagt.
Der Engel steht ihr Rede und Antwort: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“. Das Ganze ist so geheimnisvoll, dass auch der Engel dies nur in einer poetischen Sprache ausdrücken kann. Und damit kein Missverständnis entsteht, fügt er noch hinzu: „Darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.“ (V.35) Maria stellt keine weiteren Fragen mehr. Sie vertraut Gott. Sie ist bereit, Gottes Plänen für ihr Leben zu folgen.
Marias Lobgesang
So unvermittelt wie er gekommen ist, verschwindet der Engel auch wieder. Und Maria bricht auf, um ihre Cousine Elisabeth zu besuchen. In ihrer Begegnung spüren beide Frauen, dass sich etwas in ihrem Leben verändert. Gott verändert ihr Leben so sehr, dass sie ohne Scheu jubeln und singen können. Elisabeth preist die Schwangerschaft Marias mit lauten Freudenrufen und nennt sie selig. Selig, weil sie ganz und gar auf Gott vertrauen kann, weil sie spürt, dass Gott es gut mit ihr meint. Dieser Lobpreis Elisabeths bewirkt bei Maria wiederum, dass die Worte des Engels in ihr zum Klingen kommen. Sie beginnt zu singen:
[Die Wiederholung des Manificat ggf. in einer modernen Übersetzung lesen, hier GNB]
„46Maria aber sprach:
Mein Herz preist den Herrn,
47alles in mir jubelt vor Freude
über Gott, meinen Retter!
48Ich bin nur seine geringste Dienerin,
und doch hat er sich mir zugewandt.
Jetzt werden die Menschen mich glücklich preisen
in allen kommenden Generationen;
49denn Gott hat Großes an mir getan,
er, der mächtig und heilig ist.
50Sein Erbarmen hört niemals auf;
er schenkt es allen, die ihn ehren,
von einer Generation zur andern.
51Jetzt hebt er seinen gewaltigen Arm
und fegt die Stolzen weg samt ihren Plänen.
52Jetzt stürzt er die Mächtigen vom Thron
und richtet die Unterdrückten auf.
53Den Hungernden gibt er reichlich zu essen
und schickt die Reichen mit leeren Händen fort.
54Er hat an seinen Diener Israel gedacht
und sich über sein Volk erbarmt.
55Wie er es unsern Vorfahren versprochen hatte,
Abraham und seinen Nachkommen
für alle Zeiten.“
Mit ihrer ganzen Kraft singt Maria. Sie ist begeistert. Und sie kann sich nun vollständig öffnen für die Worte Gottes, die ihr der Engel überbracht hat. Deshalb singt sie so leidenschaftlich. Sie spürt die neue Kraft Gottes in sich. Dafür kann sie Gott nur loben.
Eine Frau ist es, die so in das Lob Gottes einstimmt – eine Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, die sonst eher am Rande steht.
Immer sind es in der Bibel Frauen, die solche Lieder singen. Lieder, die vom Heil schon erzählen, wenn andere es noch gar nicht richtig bemerkt haben. Die nicht nur das eigene Glück besingen, sondern die Rettung für viele. Als die Israeliten aus Ägypten ausziehen, ist es Mirjam, die auf die Pauke schlägt und das Lied der Befreiung anstimmt (Ex 15,20). Später ist es Hanna, die Mutter Samuels, die ausruft: „Der Bogen der Starken ist zerbrochen, und die Schwachen sind umgürtet mit Stärke.“ (1.Sam 2,4)
Im Mund Marias werden die Töne dieser Frauen wieder lebendig. Töne, die Gott in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit erkennen lassen: nicht auf einem fernen Thron, sondern als die Macht, die mitten in den Niederungen des Lebens befreit und stärkt. So sehr ist Maria von dieser Macht erfüllt, dass ihre Freude alles durchdringt, auch das, was zum Weinen und Klagen ist. Und davon gibt es genug, in ihrem eigenen Leben wie um sie herum: Elend, äußere und innere Not, Missachtung und Demütigung.
Bis heute hat sich daran leider wenig verändert. Vor wenigen Wochen (November 2024) hat das Bundeskriminalamt eine Untersuchung veröffentlicht, die für das Jahr 2023 eine deutliche Zunahme von häuslicher Gewalt feststellt. Die Zahl der gemeldeten Straftaten hat gegenüber dem Vorjahr um 6,5% zugenommen. Die Mehrheit der Opfer von häuslicher Gewalt sind Frauen und Mädchen. Zu den Formen der häuslichen Gewalt zählen neben Schlägen, sexueller Nötigung und Vergewaltigung auch die Tötung von Frauen. 360 Frauen und Mädchen wurden Opfer eines sogenannten Femizides. Also praktisch an jedem Tag im vergangenen Jahr wurde ein Menschenleben ausgelöscht, nur weil es weiblichen Geschlechts war. Diese Fälle haben im vergangenen Jahr deutlich zugenommen. Hass und Gewalt gegen Frauen, so stellt es das Bundeskriminalamt fest, sind Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Spannungen und auch wirtschaftlicher Probleme. [Quelle: https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/241119_BLBStraftatengegenFrauen2023.html]
Wenn in einem Land die liberalen Werte unter Druck geraten, das Selbstbestimmungsrecht eines Einzelnen und die persönlichen Freiheitsrechte eingeschränkt werden, dann sind Frauen immer die ersten, die dies zu spüren bekommen. In Afghanistan, wo Mädchen nicht einmal mehr zur Schule gehen dürfen und Frauen von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind, kann man das auf besonders perfide Weise beobachten. Und im Iran haben die Mullahs vor nichts eine größere Angst als davor, dass Frauen ihre Stimme erheben und ihre elementaren Menschenrechte einfordern.
Ein Lied der Befreiung
Die Frauen in unseren Tagen, die an den Rand gedrängt, gedemütigt, unterdrückt oder gar ermordet werden, diese Frauen sind die Schwestern und Cousinen Marias. Gerade für sie stimmt Maria ihr Lied der Befreiung an. Wir sind eingeladen, dieses Lied nicht nur zu hören, sondern mitzusingen. Laut mitzusingen, dass sich endlich etwas ändert für die Frauen im Iran, in Afghanistan oder sonst wo in der Welt, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Dieses Adventslied, das davon erzählt, wie Gott in diese Welt kommt. Es ist das älteste Adventslied, das wir haben. Und dabei hört es sich so anders an als viele der Lieder, die wir in diesen Tagen singen! Nicht sanft, nicht wehmütig, und schon gar nicht lieblich. Nein, kraftvoll, leidenschaftlich, mitreißend – so klingt das Lied zu Ehren Gottes.
Ein Stück nicht für Flöten und Schalmeien, sondern für Pauken und Trompeten, ein Lied mit harten Tönen und starken Worten. Anstatt Harmonie und Idylle zu beschwören, beschreibt es den Umsturz. Throne stürzen und Machthaber verlieren ihre Gewalt. In den Palästen bleiben die Tische leer und in den Hütten werden Hungernde satt gemacht. Herrscher müssen herunter von ihren Podesten und die Arroganz der Mächtigen hat ein Ende.
Maria singt leidenschaftlich von Gott. Von Gottes Macht: wie Gott Mächtige entmachtet und Ohnmächtige aufrichtet, wie er Mühselige und Beladene stärkt und Niedergedrückte wieder aufrecht gehen lässt. Von dem Gott, der groß macht, was in den Augen der Menschen klein und niedrig ist.
Es ist kein harmloses Lied, das Maria anstimmt. Es verschweigt nicht die Gewalt und die Ungerechtigkeit, nicht die Not in der Welt. Gerade deshalb fordert es zum Mitsingen auf. So laut, dass es die bedrückten und erniedrigten Frauen hören können. Weil dieses Lied von einem hellen Grundton bestimmt ist: dem Grundton der Freude! Der Freude über die neue Gerechtigkeit.
Innigste Freude bringt Maria zum Singen. Eine Freude, die durch nichts aufzuhalten, zu trüben oder zu dämpfen ist. So eine überwältigende Freude lässt Maria jubeln und ausrufen: „Gott ist groß.“ Am eigenen Leib hat sie erfahren, wie es ist, wenn Gott am Werk ist. Dass da nicht Macht, nicht Reichtum, nicht äußere Vorzüge zählen. Sondern allein die Liebe. Ich bin sicher, dass auch Elisabeth in dieses Loblied miteinstimmt. Das Lied, das Gottes Liebe besingt, die sich machtvoll ihren Weg zu den Menschen sucht.
Amen
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Jeden Montag findet in der Landesgeschäftsstelle der Diakonie Württemberg eine Hausandacht statt, an der regelmäßig rund 50 Mitarbeitende teilnehmen: eine lebendige, kritische und sozial engagierte Gemeinschaft, die aktuelle Fragestellungen im Licht biblischer Texte durchdenkt und diskutiert. Ebenso ist eine Gemeinde im Blick, die den kritischen Impuls der biblischen Botschaft als Ergänzung zur eigenen Gemeindearbeit versteht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Proprium des Sonntags betont die Freude. Den Grund dieser Freude benennen und die Chuzpe beschreiben, sie trotz bedrückender Erfahrungen der Gegenwart auszudrücken, das möchte ich in der Predigt beschreiben.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Angesichts der vielen bedrückenden Nachrichten (Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Trump ante portas, Erstarken rechtspopulistischer Parteien) fiel es mit selber schwer, mich auf den hellen Grundton der Hoffnung und Freude einzulassen. Die Kraft der beiden Frauen wirkt ansteckend – und beeinflusste die Vorbereitung und Ausarbeitung der Predigt. Von dieser Kraft möchte ich mich öfter anstecken lassen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Maria und Elisabeth sind zwei Frauen, die letztlich in einer prekären Situation leben. Das Schicksal von Frauen, die am Rande stehen, unterdrückt werden oder Opfer von Gewalt sind, muss angesichts der weihnachtlichen Feststimmung herausgestellt werden. Diesen Gedanken auszuarbeiten, entgegen der weihnachtlichen Erwartung einer heilen Welt, dafür erhielt ich von verschiedenen Seiten Zuspruch.