Zweiter Weihnachtstag. Es wird wieder ruhiger. Die Aufregung der Heiligen Nacht ist verrauscht, die Geschenke sind ausgepackt, die Töpfe gespült, die Essensreste eingetuppert. Jetzt ist die Zeit der Weihnachtsnachlese. Die noch ungeöffnete Weihnachtspost lesen. Vielleicht erfahre ich außer den üblichen Grüßen noch was Neues von Menschen, von denen ich lange nichts gehört habe. Oder gehe in die Kirche, um zu hören, was Weihnachten jenseits von Stall und Krippe ist. Oder beides: Weihnachtspost lesen und erfahren, was Weihnachten jenseits von Stall und Krippe ist.
Weihnachtspost in der Kirche. Ein uralter Brief von Paulus. Wie geht es dem eigentlich? Lange nichts von ihm gehört. Was schreibt er? Keine Weihnachtsgrüße, keine Weihnachtsgeschichte, nichts vom Kind, nicht mal ein Stern, aber viel von Jesus Christus.
Den Anfang des Römerbriefes am zweiten Weihnachtstag vorzulesen, ist ein bisschen so, als hätte sich da zwei, drei Tage – und nehmen wir die zur Vorweihnachtszeit gewordene Adventszeit hinzu – drei, vier Wochen lang ein Appetit angestaut, der jetzt endlich gefüttert werden will. Nach wochenlangem Süßkram endlich ein paar saure Gurken. Ein Überdruss an Zimt und Zucker, an Sternen und Kerzen, an Stall und Krippen, Maria und Josef, Ochs und Esel sehnt sich nach Schwarzbrot und Ballaststoffen, nach Theologie und gehaltvollen Texten. An Heilig Abend kam das Christkind zur Welt und am zweiten Weihnachtstag kommt die Theologie hinterher.
Der Anfang des Römerbriefes. Kräftiges Zeug.
Paulus, Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausersehen, das Evangelium Gottes zu verkündigen, das er durch seine Propheten in heiligen Schriften schon seit langem verheißen hat - das Evangelium von seinem Sohn, der nach dem Fleisch aus dem Samen Davids stammt, nach dem Geist der Heiligkeit aber eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht, seit der Auferstehung von den Toten: das Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn, durch den wir Gnade und Apostelamt empfangen haben, Glaubensgehorsam zu erwirken und seinen Namen zu verbreiten unter allen Völkern, zu denen auch ihr als in Jesus Christus Berufene gehört -, an alle in Rom, die von Gott geliebt und zu Heiligen berufen sind: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
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Das ist der Anfang des Römerbriefes und wenn ihr euch jetzt eingestehen müsst, eigentlich nichts verstanden zu haben, weil alles so an euch vorbeigerauscht ist – eine Art von Jesus-Christus-Rauschen –, dann muss euch das nicht bedrücken. Es liegt am Text, nicht an euch. Es liegt an Paulus, der es so aufgeschrieben hat.
Eine harte Nuss ist ihm da vor die Füße gefallen. Lasst sie uns knacken und sehen, was drinsteckt!
Was wir gehört haben, ist ein einziger Satz. Im griechischen Original ein einziger Satz mit sage und schreibe 93 Wörtern. Der Hauptsatz steht außen rum, in der Schale und ist ganz kurz. Der Hauptsatz ist das, was eigentlich gesagt werden soll und das ist: Paulus an alle in Rom: Herzliche Grüße, Gnade und Friede von Gott euch allen!
Also doch ein bisschen Weihnachtspost. Ein Friedensgruß. Friede sei mit euch. Denen in Rom und denen in Israel, im Libanon, in Syrien und im Gazastreifen und denen in der Ukraine. Friede euch und aller Welt, Friede von Gott.
Aber was ist unter der Schale, worin besteht der Kern, die 71 Wörter dazwischen? Weihnachtsgrammatik. Der Kern besteht substantiell aus Jesus Christus und ganz viel Genitiv. Wenn ich richtig gezählt habe, stehen 37 von 93 Wörtern im Genitiv, das sind 40 %. So viel Genitiv, das geht nur im Griechischen. Jesus Christus kommt viermal vor, immer im Genitiv.
Ihr erinnert euch: Genitiv, der zweite Fall, von lateinisch genus und griechisch γένος. Der Fall der Abstammung, was bei jedem von uns der Fall ist, denn von irgendjemand kommen wir alle. Wir sind die Kinder unserer Eltern. Die einen macht das stolz, den anderen ist es peinlich. Kind deiner Eltern – mit dem Genitiv der Abstammung musst du ein Leben lang auskommen. Der Genitiv bezeichnet das Herkommen, aber auch allgemein das, wovon das Nomen abhängt, ein Genitiv der Abhängigkeit. Den Genitiv der Abstammung kriegst du nicht los, aber den Genitiv der Abhängigkeit, den wollen wir loswerden. Unabhängig sein wollen wir. Frei sein, meine eigene Herrin sein. Ein Nomen sein, einen Namen haben, ein Subjekt sein ohne Genitiv. Brauch ich nicht, will ich nicht, ich bin ich und keines andern.
Ist Freiheit Selbstbestimmung? Macht Selbstbestimmung glücklich?
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Früher, als es noch die durch Abstammung großen Herren gab, die Edlen und die Adligen, die Kaiser und Könige und Fürsten, da gab es vieler solcher Briefe, die mit 93 oder mehr Wörtern in einem Satz anfingen. Wenn die Herren einen Brief von ihren Kanzlern schreiben ließen, dann schrieben sie „Ich, Wilhelm oder Friedrich oder Heinrich, Herr von …“ Und dann kommen die ganzen Besitztümer im Genitiv, all die Gegenden, die von ihm abhängig waren. So stellte sich ein Herr in Briefen und Urkunden vor, protzte mit seinem Besitz. Ich bin, was ich habe.
So macht es auch der Paulus. Er stellt sich in seinem Schreiben den Römern vor in einem 93 Wörter langen Vorspruch mit vielen Genitiven. Macht es ebenso und macht doch das genaue Gegenteil von dem, was die Herren taten. Er sagt nicht, worüber er alles Herr sei, was alles ihm gehöre, sondern er sagt, dass er Diener, Sklave sei, nämlich Sklave von Jesus Christus. Also nicht: Ich, Wilhelm, Friedrich, Heinrich, Herr von dem und dem…, sondern Ich, Paulus, Sklave von Jesus Christus, der dies und das ist.
Man kann diesen einen riesigen Satz mit dem Gruß und den vielen Genitiven im Deutschen gar nicht angemessen übersetzen. So viel Genitiv verträgt die deutsche Sprache gar nicht. Und wahrscheinlich verträgt auch unser Gemüt nicht so viel Abhängigkeit. Oder doch?
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Da schreibt einer einen Brief, sagt im ersten Wort, wie er heißt – Paulus – und im zweiten Wort, dass er ein Sklave ist. Lese ich den Brief aber weiter, wundere ich mich. Es ist nicht der Brief eines Sklaven. Keine Klage über ein bedauernswertes Schicksal, keine Ängste, keine Bitte, ihm zu helfen und ihn zu befreien. Im Gegenteil. Da stellt sich einer als Sklave vor und schreibt dann sehr selbstbewusst und erstaunlich souverän. Und nicht nur dies. Der ganze Römerbrief ist ein einziger Freiheitsbrief. Er atmet Freiheit mit jedem Zug, in jedem Satz, sogar in jedem Genitiv und etwa in der Mitte des Briefes fällt dann endlich das Wort Freiheit. Paulus schreibt von der Freiheit der Kinder Gottes. Die ganze Schöpfung werde frei werden von der Sklaverei der Vergänglichkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8,21).
Dieser Paulus ist ein Kind Gottes. Er ist ein Sklave, er ist abhängig und doch frei. Er ist so abhängig und so frei wie Kinder abhängig und doch frei sind. Es gibt offenbar eine Abhängigkeit, in der wir uns frei fühlen. Diese freimachende Abhängigkeit hat einen Namen: Liebe.
Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn. (Röm 8,38f)
Gottes Liebe macht frei. Sich von Gott geliebt wissen, macht frei von allem anderen. Nichts, gar nichts, kein Geschöpf dieser Welt, auch nicht der Tod, auch nicht das Leben hat dann noch Macht über uns.
Du bist ein Kind Gottes. Du bist an Gott gebunden, bist abhängig von ihm und gerade in dieser Abhängigkeit bist du ein freier Mensch, frei von allem anderen. Denn diese Abhängigkeit ist Liebe und diese Liebe macht dich frei.
Du musst dich nicht selbst bestimmen, du musst dir nicht selbst alles vergeben, du musst dich nicht selbst trösten und in den Arm nehmen, du musst dir nicht alles selbst danken, du musst dich nicht mal selbst lieben. Denn auch das kommt am Ende von Gott. Wer sich von ihm geliebt weiß, wird sich auch selbst lieben und annehmen. Liebe ist die schönste Abhängigkeit und die wahre Freiheit.
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Zweiter Weihnachtstag. Es ist wieder ruhiger geworden. Die Geschenke sind ausgepackt, die Töpfe gespült. Zeit für die Weihnachtsnachlese. Uralte Weihnachtspost. Ein Brief aus einer Zeit, als es Weihnachten noch nicht gab und Ostern wohl noch nicht gefeiert wurde und Himmelfahrt noch nicht im Kalender stand und alles doch schon da war. Weil Jesus Christus schon da war, der seiner irdischen Herkunft nach von David abstammt, was wir an Weihnachten feiern, der von den Toten auferstanden ist, was wir an Ostern bejubeln, und der von Gott zum Sohn eingesetzt wurde und bei Gott im Himmel ist. Alles hineingepackt in einen einzigen langen Satz, in dem Paulus zuerst Paulus sagt und dann gleich Jesus Christus und ganz wenig über sich sagt und ganz viel über den. So machen es die Liebenden. Sie schwärmen vom anderen und wenn sie griechisch schwärmen, schwärmen sie im Genitiv.
Ein bisschen schwärmen darf man noch am zweiten Weihnachtstag. Ein bisschen darf der Rausch der Heiligen Nacht noch weiterrauschen. So ein schöner Weihnachtsbrief. Und so viel Liebe zum Genitiv und Liebe im Genitiv, Liebe im zweiten Fall.
Der Weihnacht zweiter Tag und zweiter Fall. Fall in love. Gott ist Mensch geworden in Jesus Christus aus Liebe zu uns, ein ganzes Menschenleben, damit du erlebst, was Liebe ist, wie Liebe ist und wer Liebe ist. Du wirst frei sein und glücklich, du geliebtes Kind Gottes.
Gnade mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde, die am zweiten Weihnachtstag im Französischen Dom in Berlin zusammenkommt, besteht überwiegend aus eher gut gebildeten Menschen, die öfter in die Kirche kommen und nicht nur an Weihnachten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Diesmal hat mich der griechische Text nicht nur beschäftigt, sondern auch inspiriert und zum Versuch angeregt, aus Grammatik eine Botschaft zu schütteln.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass mich auch ein Episteltext – sonst nicht so meine Sache – begeistern kann und dass ich mich auch mit einer Predigt fast ohne jeden gesellschaftlichen oder politischen Aktualitätsbezug auf die Kanzel wagen kann.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider hat sich kein Coach gefunden. Es ist aber gut, Zeit zu haben und den Predigtentwurf erst zu überarbeiten, wenn er ein paar Tage gelegen hat und diesen Schritt dann wieder ein paar Tage später zu wiederholen.