Der Anfang ist gemacht - Predigt zu Joh 1,1-5.9-14(16-18) von Christiane Quincke
1,1-5.9-14(16-18)

1. 
Im Anfang war das Wort. 

Der Tag ist noch müde. Der Weihnachtsmorgen nach dem heiligen Abend. Geschenkpapier liegt noch herum, die Kerzen am Baum heruntergebrannt. Der Geruch vom abendlichen Raclette vermischt sich mit dem nach Wachs und Fichte. Die Weingläser stehen noch auf dem Tisch. Und die anderen schlafen.
Aber du bist wach. Machst dir einen Kaffee und sein Duft vermischt sich mit dem von Raclette und Fichte und Wachs und etwas Zweifel ist auch dabei. 
Es ist ruhig. Am Anfang. 
Und du gehst vor die Tür. 
Ganz am Anfang ist die Luft klar. Sie riecht nach Morgenregen und nach Erde.
Der Himmel ist so dunkelblau, dass man den Morgenstern noch sieht.
Am Rand aber ist er hellblau und schimmert gold.
Und dann kommt die Sonne an. Ein riesengroßer flacher Ball.
Und siehe, es ist sehr gut.

Die Schöpfung weiß, was am Anfang zu tun ist.
Wenn es Tag wird. 
Wenn ein Same aufgeht und der Regen die Luft sauber gewaschen hat.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. 
Und Regen und Tag und Nacht und Sonne und das Licht.
Der Anfang ist ein Raum und in dem ist alles da und doch noch im Werden.
So vieles, was entstehen kann und so vieles, das vergehen wird.
Im Anfang ist beides da: Werden und Vergehen, Beginn und Ende. A und O.

2.
Am Anfang.
Am Anfang ist das Licht mild. Das Licht vom Weihnachtsmorgen.
Die Welt sieht anders aus in diesem Licht.
Du siehst das Gute. Das Wahre. Das Versöhnliche auch.
Du siehst das, was du sonst übersiehst. Den kleinen Tropfen auf der Fensterscheibe in Regenbogenfarben. Die Christrose zwischen Laub. Den Herrnhuter Stern im Türeingang.
Du siehst, wie schön die Falten deiner alten Nachbarin sind. Sie haben so viel zu erzählen. Du siehst die kleine Hand deines Enkelkindes, die einen Regenwurm ganz vorsichtig berührt. Und du siehst vielleicht, wie jemand frierend an der Bushaltestelle wartet und nimmst ihn in deinem Auto mit.

Am Anfang sind deine Augen klarer als sonst. Und zugleich siehst du, dass du nicht alles auf Anfang setzen kannst. Aber du bist Teil davon. Mittendrin im Anfang, in den sich der Zweifel gemischt hat. Und zugleich voller Sehnsucht nach diesen hellen Anfängen.

3.
Am Anfang.

Am Anfang ist die Liebe. Und mit deinem dampfenden Kaffee in der Hand denkst du an den Anfang deiner Liebe. Wie du nur an ihn denken konntest und dabei vergessen hast, welcher Tag ist. Leicht und unbeschwert war sie, diese Liebe. Da zählte nicht, was die anderen sagten. Nur die zarte Berührung. Die Sehnsucht und der Blick in die strahlenden Augen. Am Anfang war der Name, als du ihn das erste Mal sagtest. Am Anfang war die Fahrradfahrt in der Nacht und die Gespräche im Café. Am Anfang war eine Strähne, die ins Gesicht fiel und stundenlange Telefonate. Am Anfang war der Arm, die Hand und ein pochendes Herz. Verstehen ohne Erklären. Ganzsein. Ganz und gar. Ein Leib. Ein Fleisch.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, 
und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.
In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.
Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.

Am Anfang war die Liebe und die Liebe wird Leib und Körper.
Wird Berührung und Herzschlagen und Wortestammeln.
Gott fängt mit jeder Liebe neu an und wird Leib und Körper in jeder Liebe.
Alles ergibt einen Sinn. Alles fügt sich zusammen.
Und alles, was unwahr ist, ist weit weit weg. Im Anfang.
Und siehe, es ist sehr gut.

4.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Der Anfang ist wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Nackt und unschuldig. 
Du sitzt vor diesem Blatt und suchst nach dem richtigen Wort. 
Ist es müde oder voller Kraft? Tröstet oder erschreckt es dich? 
Was wird es über deine Zukunft sagen? 
Wird es dich verändern oder dir gar den Boden wegreißen?
Für all diese Fragen ist es noch zu früh.
Der Anfang ist noch nackt. Das Wort wird noch geboren.
Es kommt noch nicht auf deine Lippen. Denn du ahnst nur, dass es da ist. 
Deine Sehnsucht nach dem Woher und Wohin. 
Deine Liebe. Dein Leben. Alles ist darin, in diesem Wort.

Am Anfang ist das eine Wort bei Gott. 
Der Sinn allen Lebens – verborgen in dem Einen. Nicht zu greifen. 
Das Wort, das Eine, es kommt zur Welt in einem Stall. 
Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.
Wo die Welt zusammenschrumpft auf einen Moment und einen Ort. 
Der ist nichts Besonderes und doch alles.
Eigentlich gibt es dafür keine Worte: für dieses Große, was uns hält, und für das Schöne, was uns umschließt. Unsere Worte sind zu klein dafür. Zu klein für Gott. Zu klein für das Leben. Zu klein für das Wunder.

5.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Du möchtest alles auf Anfang stellen. Von vorne anfangen.
Nur das eine Wort und nicht die vielen anderen. Keine Lügen. Keine Schuld.
Keine Worte, die verletzen. 
Was am Anfang so leicht ist, wird im Weitergehen so schwer.
Liebe lässt sich nicht halten. Gott auch nicht.
Gott wird zu groß für dich. Du spürst, wie verletzlich du bist.
In diesen Tagen vielleicht ganz besonders, 
weil Weihnachten die Haut dünner ist als sonst.
Ein Streit tut heute besonders weh. Alleinsein ist kaum auszuhalten. 
Und auch nicht die Sehnsucht nach mildem Licht und erster Liebe.

Ich bin nicht mehr am Anfang. Ich bin weitergegangen und suche meine Schritte durchs Leben. Nicht nur meine Worte sind zu klein. Auch ich bin zu wenig. Oder manchmal auch zu viel. Ich habe Worte gefunden, die anderen nicht gut taten. Scharfe Worte. Und mir wurden Worte gesagt, die mich klein machten. Was willst du hier? Ich will dich nicht. Nicht gut genug. 

Ich habe viele Worte gefunden und gepredigt. Und nicht immer waren sie heilsam. Und zu viele Worte habe ich gehört und gelesen, die menschenverachtend und falsch sind. Die Welt mit ihren Fakenews und Hassworten macht mir Angst.

Ja, alles auf Anfang stellen – das wär’s, denke ich. Sehne ich. Du auch?

6.
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. 

Am Anfang.
Am Anfang ist dieses Kind. Fleischgewordenes Wort. Leben pur.
Lebendiges Bündel. Suchender Mund. Geschlossene Augen. Ausgeliefert und bedingungslos. Noch ganz verschleimt und mit pulsierender Nabelschnur.
Es ist da. In diesem Anfang ist es ganz da: Für dich und für mich und für alle, die hier sind oder zuhause oder weit weit weg.
Im Anfang ist dieses Kind und es kann dir nichts tun, außer in dein Herz kriechen: Dieses Kind - entstanden aus der Liebe von zwei Menschen. Aus Leidenschaft und Hingabe. Aus Gott.

Im Anfang ist dieses Kind. Die Liebe zwischen Gott und Mensch.
Dieses Kind setzt alles auf Anfang. Alles ist neu. Alles beginnt neu. Und neu ist nicht perfekt. Sondern verschleimt und zerknittert, ausgeliefert und bedingungslos, suchend und geborgen zugleich.

7.
Du kannst nicht alles auf Anfang stellen. Aber das Kind tut es. Gott tut es.
Gott weiß, was zu tun ist mit deinen Anfängen und Stolperschritten. Mit deiner Sehnsucht und deinem Zweifel.

Du bist Gottes Kind. Du bist dieses Kind, das Fleisch gewordene Wort.
Anfängerin des Lebens. Anfänger der Liebe. Mitten in dieser Welt.
Du mit deinen Falten und deinen Träumen. Mit deinen Narben. 
Geboren aus der Liebe. Nicht perfekt, aber wunderbar. Vielleicht noch dünnhäutiger. Vielleicht noch verletzlicher. Vielleicht noch ausgelieferter – du Gotteskind..
Der Stall ist dein Anfangsort. Dort, wo es nach Tierdung riecht und das Stroh piekst.

Dort, wo du den Kochlöffel in den Topf tauchst oder Bilanzen prüfen musst, wo du an der Kasse Kleingeld entgegen nimmst oder einem Flüchtling vor Gericht beistehst. Überall, wo du bist, bist du richtig. Weil Gott da ist. Bei dir. Auch in deinem unaufgeräumten Wohnzimmer mit dem Geruch nach Raclette und Zweifeln. 

Und Gott fängt mit dir an, ins Leben zu gehen. 
Raus in die Welt mit ihren vielen ausgesprochenen und unausgesprochenen Worten.
Dort sprichst du dieses Wort des Lebens und der Liebe. Du stellst dich den Lügen und dem Hass entgegen, damit es in dieser Welt neue Anfänge gibt.
Ihr geht gemeinsam und sprecht zusammen und liebt und lebt und weint und lacht. 

Ob du nun müde oder wach bist an diesem Weihnachtsmorgen: 
Der Anfang ist gemacht: Himmel und Erde, die Nacht und der Tag, der Regen und der Regenwurm, das Licht, die Falten und die dünne Haut. 
Und mit dir geht es weiter, du Kind Gottes. Du Wort Gottes.
Und siehe, alles ist sehr gut.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 
Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit. 

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich werde am Vormittag des 1. Weihnachtsgottesdienstes predigen (und die Bibelverse durch eine andere Person lesen lassen). Die meisten Gottesdienstbesucher*innen haben den Heiligabend gefeiert. Manche sind vielleicht noch etwas müde. Der Weihnachtsmorgen hat manchmal was Träges und zugleich Erfülltes. Und er lässt weiterdenken und lenkt den Blick von der Krippenszene auf sich selbst: Wie bin ich in Bezug auf Weihnachten unterwegs?

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Beginn vom Johannesevangelium „Im Anfang“, der den Bogen schlägt zur Schöpfungsgeschichte, hat mich fasziniert – und damit der Gedanke, dass Gott den Anfang gemacht hat und wir zugleich nicht mehr am Anfang sind, aber mit der Sehnsucht nach einem neuen Anfang leben und glauben…

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Ringen um eine gute Übersetzung: Luther hat diesen Abschnitt einzigartig formuliert, weshalb ich mich dafür entschieden habe. Aber der Preis dafür ist, dass ein Wort wie „Fleisch“ heute eine andere Konnotation mitbringt, an der ich noch weiter „knabbern“ werde. 

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Predigtcoach hat mir gute Hinweise gegeben, wie ich meine eher „lyrische Predigt“ noch mehr erden könnte: Gerade der Anfang der Predigt hat dadurch mehr „Alltag“ bekommen. Außerdem habe ich auf sein Raten hin den Bibeltext gekürzt und nicht komplett an den Anfang gestellt.

Perikope
25.12.2024
1,1-5.9-14(16-18)