Ein Kind auf der Flucht
Wenn ein Kind auf die Welt kommt,
ist nichts, wie es vorher einmal war.
Alles dreht sich um dieses zarte und verletzliche Wesen,
dem die Herzen zufliegen.
Zugleich fordert es völlige Aufmerksamkeit,
Tag und Nacht, besonders von der Mutter.
Wenn es noch nicht richtig trinkt,
wenn es schreit und nicht in den Schlaf findet.
Mit einem Kind kommt eine bis dahin nicht gekannte Sorge
auf die Welt, die das eigene Leben für immer verändert.
Das Kind, das Kostbarste, was du hast, nimmst du überall mit hin.
So wird es Maria gegangen sein.
In diesem Stall – oder wahrscheinlich eher einer Höhle –,
wo das Vieh bei schlechtem Wetter Schutz sucht,
mit dem Futtertrog, in dem ihr Baby sicher ist.
Aber schon am Morgen nach der Geburt,
als sich die Engel längst wieder in den Himmel verzogen haben
und es mit dem Stillen noch nicht klappt
und die notdürftigen Windeln mittlerweile nass und schmutzig sind,
da mischt sich Sorge in die Freude über das Kind.
Was wird mit ihm?
Milch braucht es und ein warmes Lager.
Und Sicherheit.
Hier können wir nicht bleiben!
Aber wo sollen wir hin?
Wer nimmt uns auf?
Der alte König und das Kind
Manchmal wiederholen sich die Geschichten und die Geschichte.
Und leider vor allem die schrecklichen.
Einst war es der selbstherrliche Pharao von Ägypten,
ein Potentat, wie wir sie heute auch kennen:
geschichtsvergessen klammert er sich an seine Macht,
kappt gute Beziehungen und führt sein Land in die Isolation.
Zugleich stachelt er seine Bevölkerung auf:
„Die Hebräer bekommen mehr Kinder als wir Ägypter,
wir müssen was dagegen tun.“
Kommt Ihnen das alles bekannt vor?
So zwingen die Ägypter die Israeliten zu harter Sklavenarbeit
und machen ihnen das Leben zur Qual.
Die haben nur eine Chance: die Flucht.
Im Schutze der Nacht machen sie sich auf den Weg
und fliehen aus Ägypten in die Wüste.
Noch panischer muss König Herodes zurzeit Jesu
um seinen Machterhalt bangen.
Ein alt gewordener Autokrat,
für seine Grausamkeit gefürchtet und verhasst.
Alles hofft auf sein Ende.
Und dann klopft ihm auch noch das Leben auf die Schulter und fragt:
Ach übrigens, wo ist der neugeborene König,
dem die Herzen schon jetzt zufliegen?
Da, ganz tief unten, beim Kleinvieh, ohne Obdach,
verletzlich und schutzlos,
aber eben ein echter Nachkomme Davids,
ein gerechter Friedefürst,
geschützt nicht mit Waffengewalt, sondern von Gott.
Wo ein machtgieriger Herrscher Angst bekommt
vor seinem eigenen Volk,
da beginnt er, unmenschlich zu handeln.
Einst der Pharao, König Herodes zurzeit Jesu.
Alle neugeborenen jüdischen Jungen sollten ermordet werden,
um sicher zu gehen,
dass niemand ihm die Herrschaft streitig machen konnte.
Auch wenn der „Kindermord von Bethlehem“
eine Legende sein sollte:
es ist unsere Welt, es sind unsere Erfahrungen,
die hier erschreckend aktuell erzählt werden.
Nimm das Kind mit
Manchmal wiederholen sich die Geschichten und die Geschichte.
So wie Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verschleppt wurde,
ein Träumer war,
so träumt Josef, der Adoptivvater Jesu, allein in unserer Geschichte dreimal.
Und er träumt nicht nur, er nimmt seine Träume ernst.
Jedesmal steht er auf, kehrt um, geht einen neuen, ungewohnten Weg,
den Gott ihm gewiesen hat.
Angesichts des Grauens im Nahen Osten droht es,
uns abhanden zu kommen: das Vertrauen in Gott.
Hier in unserer Geschichte ist er nah, sorgt sich,
kümmert sich, fühlt mit, tröstet, lässt aufatmen.
Josef und Maria nehmen ihr Kind und bringen es
auf ihrer überstürzten Flucht nach Ägypten – ausgerechnet.
Dahin, wo die Geschichte Gottes mit seinen Menschen ihren Anfang nahm,
die Geschichte von der Rettung
und dem Überleben des jüdischen Volkes.
Aus diesem Volk kommt das Kind, das sie dabeihaben:
Jesus, ein kleiner jüdischer Junge.
Kinder Gottes werden
Ich glaube, deshalb ist das Wort Gottes
in einem jüdischen Jungen erneut zur Welt gekommen:
Gott hat sich damals ganz bewusst diesen jüdischen Jungen ausgesucht,
um uns zu befreien aus aller Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit.
Aus dem „Selber-Schuld“ und „Geht mich doch nichts an“,
dem „bringt ja sowieso nichts“,
aus dem Abschieben aller Verantwortung auf „die da oben“.
Einfache Antworten auf vielschichtige Probleme sind immer falsch.
Ein Kind weckt Hoffnung auf Zukunft.
Öffnet geschlossene Türen.
Belebt die Sehnsucht, so zu werden,
wie Gott mich ursprünglich gemeint hat.
Du bist mein liebes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe.
Damit wir wie Kinder werden,
denen das Weinen in der Welt in der Seele weh tut.
Träume ernstnehmen. Aufstehen,
das Kind und seine Mutter mitnehmen – so wie Josef.
Uns verletzlich machen, uns anrühren lassen von dem Elend
und mittrauern um die Opfer auf beiden Seiten.
Denen widerstehen, die an Gewalt glauben,
an das „Alles gehört uns“,
und jeweils anderen damit das Lebensrecht absprechen.
Runter vom Sofa und eintreten für die,
die bei uns wieder bedroht werden, weil sie Juden sind.
Ob wir nun eine Mutter oder ein Vater sind oder auch nicht.
Einer der bekanntesten Sätze im jüdischen Talmud lautet:
„Wer nur einen einzigen Menschen sterben lässt, der lässt eine ganze Welt sterben.“
Was bedeutet das?
Jeder Mensch ist von Gott geschaffen
und damit so unendlich wertvoll wie die ganze Welt.
Stirbt er, so sterben mit ihm alle Kinder und Kindeskinder,
die durch seinen Tod nicht mehr das Licht der Welt erblicken konnten.
Umgekehrt: „Wer nur einen einzigen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“
Das bedeutet: All seine Kinder und Kindeskinder sind mit ihm gerettet,
weil sie durch sein Leben ins Leben kamen.
Deshalb sind wir Menschen Gott so unendlich wertvoll, so unersetzlich –
jede und jeder Einzelne von uns.
Anspruchsvoll ist diese Vorstellung.
Das Kind in der Krippe ist klein,
aber herausfordernd und anspruchsvoll, wie Kinder eben sind.
Dem jüdischen Kind Jesus haben wir es zu verdanken,
dass auch wir uns Gottes Kinder nennen dürfen –
erwachsene Kinder, die zu Gott gehören,
und ohne die Gott nicht sein will.
Das ist die große Verheißung zum Christfest.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist der letzte Gottesdienst, den ich im Rahmen einer dreimonatigen Gottesdienstvertretung für eine Kollegin im Studienurlaub in einer Innenstadtgemeinde Berlins halten werde. Die Gemeinde hat einen starken Akademiker-Anteil. Vermutlich wird sich eine kleine ältere Gottesdienstgemeinde an diesem Sonntag zwischen den Feiertagen zusammenfinden ohne familiäre Anbindung bzw. Verpflichtungen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich die frische Erfahrung, einen lang ersehnten Enkel zu bekommen mit all der Freude, aber auch der Sorge, in welche Welt er hineinwachsen wird. Spannend war für mich erneut das tiefe Eintauchen in die reichen alttestamentlichen Bezüge zu den Josefsgeschichten (vgl. J. Ebach, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Gen 37-50 und Mt 1-2)
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Eine Herausforderung ist eine Predigt vom Kind jenseits der Gefahr, die Botschaft des biblischen Textes zu verharmlosen oder zu infantilisieren bzw. getriggerte Gefühle für Kinder als Predigtzweck zu missbrauchen. Und das alles angesichts der Schreckensbilder vom Vernichtungsschlag der Hamas am 7. Oktober und dem darauffolgenden Gaza-Krieg. Wichtig ist mir: Mt 2 zeigt nicht das Überleben Jesu auf Kosten anderer Kinder, vielmehr wie bedroht sein Leben als Teil des jüdischen Volkes von Anfang an war. Was bedeutet heute Mitgefühl, Fürsorge, „Compassion“ (J.Ebach, in: Lesen und Verstehen, 2022) angesichts unserer Dickfelligkeit gegenüber dem Leiden?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit seiner präzisen Wahrnehmung hat mich mein Coach punktgenau auf Unebenheiten in den verschiedenen Zeitbezügen und auch auf mögliche Projektionen aufmerksam gemacht. Er hat mich ermutigt, auf ein allzu flottes Abhandeln der Theodizeefrage zu verzichten, dafür aber eigene Positionen nicht selbst zu relativieren. Herzlichen Dank dafür! Wertvolle Anregungen verdanke ich auch Kathrin Oxen. Auch dafür vielen Dank!