Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit - Predigt zu Mt 2,13-18(19-23) von Anne-Kathrin Kruse
Ein Kind auf der Flucht
Wenn ein Kind auf die Welt kommt,
ist nichts, wie es vorher einmal war.
Alles dreht sich um dieses zarte und verletzliche Wesen,
dem die Herzen zufliegen.
Zugleich fordert es völlige Aufmerksamkeit,
Tag und Nacht, besonders von der Mutter.
Wenn es noch nicht richtig trinkt,
wenn es schreit und nicht in den Schlaf findet.
Mit einem Kind kommt eine bis dahin nicht gekannte Sorge
auf die Welt, die das eigene Leben für immer verändert.
Das Kind, das Kostbarste, was du hast, nimmst du überall mit hin.
So wird es Maria gegangen sein.
In diesem Stall – oder wahrscheinlich eher einer Höhle –,
wo das Vieh bei schlechtem Wetter Schutz sucht,
mit dem Futtertrog, in dem ihr Baby sicher ist.
Aber schon am Morgen nach der Geburt,
als sich die Engel längst wieder in den Himmel verzogen haben
und es mit dem Stillen noch nicht klappt
und die notdürftigen Windeln mittlerweile nass und schmutzig sind,
da mischt sich Sorge in die Freude über das Kind.
Was wird mit ihm?
Milch braucht es und ein warmes Lager.
Und Sicherheit.
Hier können wir nicht bleiben!
Aber wo sollen wir hin?
Wer nimmt uns auf?
Der alte König und das Kind
Manchmal wiederholen sich die Geschichten und die Geschichte.
Und leider vor allem die schrecklichen.
Einst war es der selbstherrliche Pharao von Ägypten,
ein Potentat, wie wir sie heute auch kennen:
geschichtsvergessen klammert er sich an seine Macht,
kappt gute Beziehungen und führt sein Land in die Isolation.
Zugleich stachelt er seine Bevölkerung auf:
„Die Hebräer bekommen mehr Kinder als wir Ägypter,
wir müssen was dagegen tun.“
Kommt Ihnen das alles bekannt vor?
So zwingen die Ägypter die Israeliten zu harter Sklavenarbeit
und machen ihnen das Leben zur Qual.
Die haben nur eine Chance: die Flucht.
Im Schutze der Nacht machen sie sich auf den Weg
und fliehen aus Ägypten in die Wüste.
Noch panischer muss König Herodes zurzeit Jesu
um seinen Machterhalt bangen.
Ein alt gewordener Autokrat,
für seine Grausamkeit gefürchtet und verhasst.
Alles hofft auf sein Ende.
Und dann klopft ihm auch noch das Leben auf die Schulter und fragt:
Ach übrigens, wo ist der neugeborene König,
dem die Herzen schon jetzt zufliegen?
Da, ganz tief unten, beim Kleinvieh, ohne Obdach,
verletzlich und schutzlos,
aber eben ein echter Nachkomme Davids,
ein gerechter Friedefürst,
geschützt nicht mit Waffengewalt, sondern von Gott.
Wo ein machtgieriger Herrscher Angst bekommt
vor seinem eigenen Volk,
da beginnt er, unmenschlich zu handeln.
Einst der Pharao, König Herodes zurzeit Jesu.
Alle neugeborenen jüdischen Jungen sollten ermordet werden,
um sicher zu gehen,
dass niemand ihm die Herrschaft streitig machen konnte.
Auch wenn der „Kindermord von Bethlehem“
eine Legende sein sollte:
es ist unsere Welt, es sind unsere Erfahrungen,
die hier erschreckend aktuell erzählt werden.
Nimm das Kind mit
Manchmal wiederholen sich die Geschichten und die Geschichte.
So wie Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verschleppt wurde,
ein Träumer war,
so träumt Josef, der Adoptivvater Jesu, allein in unserer Geschichte dreimal.
Und er träumt nicht nur, er nimmt seine Träume ernst.
Jedesmal steht er auf, kehrt um, geht einen neuen, ungewohnten Weg,
den Gott ihm gewiesen hat.
Angesichts des Grauens im Nahen Osten droht es,
uns abhanden zu kommen: das Vertrauen in Gott.
Hier in unserer Geschichte ist er nah, sorgt sich,
kümmert sich, fühlt mit, tröstet, lässt aufatmen.
Josef und Maria nehmen ihr Kind und bringen es
auf ihrer überstürzten Flucht nach Ägypten – ausgerechnet.
Dahin, wo die Geschichte Gottes mit seinen Menschen ihren Anfang nahm,
die Geschichte von der Rettung
und dem Überleben des jüdischen Volkes.
Aus diesem Volk kommt das Kind, das sie dabeihaben:
Jesus, ein kleiner jüdischer Junge.
Kinder Gottes werden
Ich glaube, deshalb ist das Wort Gottes
in einem jüdischen Jungen erneut zur Welt gekommen:
Gott hat sich damals ganz bewusst diesen jüdischen Jungen ausgesucht,
um uns zu befreien aus aller Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit.
Aus dem „Selber-Schuld“ und „Geht mich doch nichts an“,
dem „bringt ja sowieso nichts“,
aus dem Abschieben aller Verantwortung auf „die da oben“.
Einfache Antworten auf vielschichtige Probleme sind immer falsch.
Ein Kind weckt Hoffnung auf Zukunft.
Öffnet geschlossene Türen.
Belebt die Sehnsucht, so zu werden,
wie Gott mich ursprünglich gemeint hat.
Du bist mein liebes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe.
Damit wir wie Kinder werden,
denen das Weinen in der Welt in der Seele weh tut.
Träume ernstnehmen. Aufstehen,
das Kind und seine Mutter mitnehmen – so wie Josef.
Uns verletzlich machen, uns anrühren lassen von dem Elend
und mittrauern um die Opfer auf beiden Seiten.
Denen widerstehen, die an Gewalt glauben,
an das „Alles gehört uns“,
und jeweils anderen damit das Lebensrecht absprechen.
Runter vom Sofa und eintreten für die,
die bei uns wieder bedroht werden, weil sie Juden sind.
Ob wir nun eine Mutter oder ein Vater sind oder auch nicht.
Einer der bekanntesten Sätze im jüdischen Talmud lautet:
„Wer nur einen einzigen Menschen sterben lässt, der lässt eine ganze Welt sterben.“
Was bedeutet das?
Jeder Mensch ist von Gott geschaffen
und damit so unendlich wertvoll wie die ganze Welt.
Stirbt er, so sterben mit ihm alle Kinder und Kindeskinder,
die durch seinen Tod nicht mehr das Licht der Welt erblicken konnten.
Umgekehrt: „Wer nur einen einzigen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“
Das bedeutet: All seine Kinder und Kindeskinder sind mit ihm gerettet,
weil sie durch sein Leben ins Leben kamen.
Deshalb sind wir Menschen Gott so unendlich wertvoll, so unersetzlich –
jede und jeder Einzelne von uns.
Anspruchsvoll ist diese Vorstellung.
Das Kind in der Krippe ist klein,
aber herausfordernd und anspruchsvoll, wie Kinder eben sind.
Dem jüdischen Kind Jesus haben wir es zu verdanken,
dass auch wir uns Gottes Kinder nennen dürfen –
erwachsene Kinder, die zu Gott gehören,
und ohne die Gott nicht sein will.
Das ist die große Verheißung zum Christfest.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist der letzte Gottesdienst, den ich im Rahmen einer dreimonatigen Gottesdienstvertretung für eine Kollegin im Studienurlaub in einer Innenstadtgemeinde Berlins halten werde. Die Gemeinde hat einen starken Akademiker-Anteil. Vermutlich wird sich eine kleine ältere Gottesdienstgemeinde an diesem Sonntag zwischen den Feiertagen zusammenfinden ohne familiäre Anbindung bzw. Verpflichtungen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich die frische Erfahrung, einen lang ersehnten Enkel zu bekommen mit all der Freude, aber auch der Sorge, in welche Welt er hineinwachsen wird. Spannend war für mich erneut das tiefe Eintauchen in die reichen alttestamentlichen Bezüge zu den Josefsgeschichten (vgl. J. Ebach, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Gen 37-50 und Mt 1-2)
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Eine Herausforderung ist eine Predigt vom Kind jenseits der Gefahr, die Botschaft des biblischen Textes zu verharmlosen oder zu infantilisieren bzw. getriggerte Gefühle für Kinder als Predigtzweck zu missbrauchen. Und das alles angesichts der Schreckensbilder vom Vernichtungsschlag der Hamas am 7. Oktober und dem darauffolgenden Gaza-Krieg. Wichtig ist mir: Mt 2 zeigt nicht das Überleben Jesu auf Kosten anderer Kinder, vielmehr wie bedroht sein Leben als Teil des jüdischen Volkes von Anfang an war. Was bedeutet heute Mitgefühl, Fürsorge, „Compassion“ (J.Ebach, in: Lesen und Verstehen, 2022) angesichts unserer Dickfelligkeit gegenüber dem Leiden?
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit seiner präzisen Wahrnehmung hat mich mein Coach punktgenau auf Unebenheiten in den verschiedenen Zeitbezügen und auch auf mögliche Projektionen aufmerksam gemacht. Er hat mich ermutigt, auf ein allzu flottes Abhandeln der Theodizeefrage zu verzichten, dafür aber eigene Positionen nicht selbst zu relativieren. Herzlichen Dank dafür! Wertvolle Anregungen verdanke ich auch Kathrin Oxen. Auch dafür vielen Dank!
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29.12.2024 - Erster Sonntag nach dem Christfest
Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft - Predigt zu Mt 21,1-11 von Barbara Bockentin
Kurz vor Jerusalem kamen Jesus und seine Jünger nach Betfage am Ölberg. Da schickte Jesus zwei seiner Jünger voraus und sagte zu ihnen: »Geht in das Dorf, das vor euch liegt. Dort findet ihr gleich eine Eselin angebunden, zusammen mit ihrem Jungen. Bindet sie los und bringt sie mir. Und wenn euch jemand fragt: ›Was soll das?‹, dann sagt: ›Der Herr braucht sie.‹ Dann wird er sie euch sofort geben.«
So ging in Erfüllung, was Gott durch den Propheten gesagt hat: »Sagt zu der Tochter Zion:
›Sieh doch: Dein König kommt zu dir! Er ist freundlich und reitet auf einem Esel, einem jungen Esel – geboren von einer Eselin.‹«
Die Jünger gingen los und machten alles genau so, wie Jesus es ihnen aufgetragen hatte.
Sie brachten die Eselin und ihr Junges herbei und legten ihre Mäntel über sie. Jesus setzte sich darauf. Die große Volksmenge breitete ihre Mäntel auf der Straße aus. Andere schnitten Palmzweige von den Bäumen ab und legten sie ebenfalls auf die Straße.
Die Volksmenge, die vor Jesus herging und ihm folgte, rief unablässig: »Hosianna dem Sohn Davids! Gesegnet sei, wer im Namen des Herrn kommt! Hosianna in himmlischer Höhe!«
So zog Jesus in Jerusalem ein. Die ganze Stadt geriet in Aufregung. Die Leute fragten sich: »Wer ist er nur?« Die Volksmenge sagte: »Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.« (als Evangeliumstext lesen)
Vergangenheit – Gegenwart - Zukunft
Alles gleichzeitig
Ganz schwindelig konnte einem werden, dachte sie. Alles trifft in einem einzigen Moment aufeinander: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Mit voller Wucht. Ob andere das auch so spürten wie sie? Unauffällig sah sie sich um. Um sich herum aufgerissene Münder. Gedränge. Hände, die hin und her schwangen. Manche rissen sich ihre Kleider vom Leib und warfen sie über die Menge hinweg. Solch eine Ekstase. Sie konnte gar nicht anders, sie musste einfach mitmachen.
Zurücklassen
Ruhig schaute er sich um. Sie standen am Kai. Viele hielten krampfhaft ihre Habseligkeiten fest. Schließlich waren sie eindringlich vor Halunken gewarnt worden. So behielt er fest im Blick, was ihm gehörte. Viel war es nicht. Neben seinen wenigen Kleidungsstücken hatte er nur ein, zwei andere Dinge eingepackt. Für andere sicherlich wertlos. Doch sein Herz hing daran. Sie sollten ihn daran erinnern, woher er kam. Was auf ihn wartete, davon hatte er nur ungenaue Vorstellungen. Ihn trieb die blanke Not von hier fort. Dort wollte er neu anfangen. Vielleicht schaffte er es sogar und konnte den Eltern Geld schicken. Sie vielleicht sogar nachholen. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, damals Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Kai in Bremerhaven, dem größten Auswanderungshafen Europas.
Erwartungen
Die anderen rissen sie mit. Trieben sie voran. Schließlich stimmte auch sie in den Ruf ein. Skandierte immer wieder dieselben Worte: »Hosianna dem Sohn Davids! Gesegnet sei, wer im Namen des Herrn kommt! Hosianna in himmlischer Höhe!«
Der, dem diese Worte galten, schien sie gar nicht zu hören. Worte, die ihm galten und einen weiten Bogen spannten. Zurück in die Vergangenheit. Glorreich. Selbstbestimmt. So war es einst in diesem Land. Sich weit nach vorn in die Zukunft streckend. So könnte es wieder werden – mit ihm. Hilf doch! Rette uns! Daneben andere Worte, nicht ganz so enthusiastisch: »Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.« Fast nüchtern klingend. Auch sie knüpfen an alte Erfahrungen und Sehnsuchtsbilder an. Wünsche, Erwartungen, dass die Zukunft anders, besser werden würde – sind in diesem einen Moment hörbar, sichtbar, zum Greifen nah.
Zukunft?
Er, der mitten in dem Geschehen war, kennt sich aus. Mit den heiligen Schriften. Mit den Erwartungen, die er durch sein Tun, durch sein Reden, durch sein Leben, weckt. Vor allem aber mit Gottes Willen. Damit, dass Gottes Reich schon jetzt angefangen hat. Das es nicht erst Zukunft ist, sondern Gegenwart. Er weiß darum, dass das auf bestehende Sehnsucht trifft. Bei anderen Widerstand hervorruft. Zumindest ahnt er, dass seine Zukunft eine andere sein wird, als die, die die skandierende Menge erwartet. Er wird alles dafür geben, dass Gottes Wille geschehen wird. So nachher im Tempel, als er voller Zorn die Tische umreißt. So, als er sich festnehmen, foltern und töten lässt.
Ankunft
Als er nach mehrwöchiger Schifffahrt endlich in Ellis Island ankommt, ist er noch lange nicht am Ziel. Hier wartet niemand auf ihn. Im Gegenteil. Viele haben Angst, dass die Neuankömmlinge ihnen streitig machen, was sie sich selbst mühsam erwirtschaftet haben. Er schafft es. Richtet sich ein in das neue Leben. Die Erinnerungen an das alte sind stets präsent. Er verknüpft sie miteinander. Lässt daraus neue Zukunftsträume wachsen.
Advent heute
Wir feiern Advent. Jedes Jahr aufs Neue stimmen wir uns darauf ein, dass Gott für uns als Mensch greifbar wird. Wir erinnern uns an Erzählungen über diesen Gott, der da kommt. Wir erinnern uns an die Erfahrungen, die Menschen bereits mit ihm gemacht haben. An solche vor langer Zeit und an aktuelle. Jedes Jahr wieder räumen wir uns aufs Neue die Möglichkeit ein, dass Gott seine Geschichte in unser Herz schreibt. Wir freuen uns auf das, was da kommen wird. Wir hoffen darauf, dass es uns verändern wird. Wir träumen, dass die Zukunft mit seiner Hilfe licht wird.
Jeder Advent ist ein Aufbruch. Skeptisch begleitet von den einen. Sehnsüchtig erwartet von den anderen. Dabei nehmen wir mit, wovon wir gelesen, gehört und gebetet haben. Sehen die Welt, wie sie jetzt ist. Und hoffen, dass die Veränderung mit und in uns beginnt.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an diejenigen, für die die Adventszeit mehr ist als Glühwein und Weihnachtsmärkte.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich glaube, Karl Rahner hat gesagt, dass Advent nicht nur Ankunft, sondern auch Zukunft ist. Ich habe versucht, dem nachzuspüren, was das bedeuten mag. Denn die Zukunft endet ja nicht an Heilig Abend.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie sich in diesem Predigttext drei Zeitebenen treffen, auf die jede:r im Leben stößt und vielleicht als unwichtig abtut.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Unterstützung, die ich bei meiner Kollegin durch ihre positive Resonanz fand, hat es mir leicht gemacht, zu verstehen, wo eine Überarbeitung für mein Anliegen hilfreich ist. So konnte ich zu einem Schluss kommen und deutlich machen, worum es mir geht.
Dafür bin ich sehr dankbar.
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Weil Gott so anders ist, verändert er auch mich - Predigt zu Mt 5,38-48 von Andreas Schwarz
Gott ist anders. Wer an ihn glaubt, der wird diese Erfahrung sein Leben lang machen. Gott ist anders als wir Menschen; er ist auch anders, als wir Menschen denken.
Jesus Christus ist auf die Erde gekommen, um von Gott zu erzählen, um uns Gott nahezubringen. Vielleicht sogar, ihn uns zu erklären, damit wir besser verstehen, wie Gott mit uns umgeht und was er von uns will.
An ihn zu glauben, bedeutet ja auch, ihn wichtig, ihn ernst zu nehmen, auf ihn zu hören und seine Worte beherzigen zu wollen. Das ist nur oft genug leichter gesagt als getan. Manchmal verstehen wir seine Worte falsch oder einfach unterschiedlich. Und ein anderes Mal möchten wir gerne nach seinen Worten handeln, schaffen es aber nicht. Es fällt uns schwer, es ist gegen unsere Natur, es überfordert uns.
Jesus erzählt von Verhaltensweisen mitten aus dem normalen und alltäglichen Leben. Es klingt sehr einfach und für viele auch einleuchtend. Aber kann ich das wirklich?
Wie gehen wir Menschen miteinander um? Gibt es Verhaltensweisen, die für Christen anders sind als für Menschen, die nicht an Christus glauben? Jesus redet zu Menschen aus dem Volk Israel, die mit den Geboten Gottes und ihren Erläuterungen aufgewachsen sind. Das kannten sie und das war ihnen wichtig.
Auge um Auge, Zahn um Zahn heißt es da. Und gemeint ist das Unrecht, das ich erlitten habe und wie ich vergelten darf oder soll. In der öffentlichen Wahrnehmung wird gerade dieser Satz immer gern gegen das Alte, das 1. Testament verwendet, es sei hart und gewaltbereit, als wäre dieser Satz eine Einladung für körperliche Auseinandersetzung. Dabei ist sehr deutlich eine Begrenzung der Vergeltung gemeint. Du sollst niemandem mehr antun, als er/sie dir angetan hat. Wenn Du eine Wunde erhalten hast, füge nicht mehr als eine zu, eine Beule gegen eine Beule – und eben ein Auge und einen Zahn.
Ein klares Wort gegen die Eskalation, in der sich die Gewalt immer weiter hochschaukelt. Als läge das in unserer menschlichen Natur, schon Kinder neigen dazu, erlittenes Leid mehrfach zurückzuzahlen. Einmal geschubst haben, dann fünf Fausthiebe zur Folge. Wenn sie älter geworden sind, kommen vielleicht Waffen dazu oder man holt seine Brüder und Cousins und schon entsteht aus geringem Anlass eine große Sache voller Gewalt.
Wie hilfreich wäre schon in der Hinsicht des göttlichen Gebots die klare Begrenzung der Vergeltung. Es ginge auf dieser Erde besser zu, als es ist. Ohne die politische Problematik zu lösen, aber nach dem terroristischen Attentat der Hamas auf israelische Bürger, bei dem mehr als 1000 Menschen ihr Leben verloren, war die Rache zahlenmäßig unverhältnismäßig, inzwischen müssten es weit mehr als 30.000 getötete PalästinenserInnen sein. Da greift das göttliche Gebot ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ offenbar nicht.
Jesus lenkt den Blick in eine ganz neue Richtung, die menschlichen Rachegefühlen völlig widerspricht. Er ermutigt, ganz auf Rache zu verzichten. Auf das erlittene Böse nicht mit Gewalt zu antworten, im Gegenteil, auf den ersten Schlag ins Gesicht auch den zweiten hinnehmen.
Gott ist anders. Anders als wir Menschen sind und empfinden und handeln. Er lässt auch dem Bösen seinen Raum. Das kann ganz schön fremd klingen und sich auch so anfühlen. Wir Menschen neigen dazu, einander in Gute und Böse einzuteilen. In ‚wir‘ und ‚die da‘ oder ‚die anderen‘. Das kann zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten sehr verschieden sein. Für die Menschen des Volkes Israel waren es besonders die Römer als feindliche Besatzungsmacht. Mit denen wollte man nichts zu tun haben, denen gönnte und tat man dann auch nichts Gutes. Sie waren ja die Bösen, die Fremden, die Besatzer, die die Macht hatten und Gewalt ausübten. Heute sind es Terroristen, Islamisten, aber weil es so schwer ist, zu unterscheiden, sind halt alle Fremden, alle Muslime, alle Migranten grundsätzlich böse, jedenfalls potentiell. Darum sollte unser Land ihren Zuzug begrenzen, sie von hier ausweisen, sie zurückführen.
Gott ist anders. Er nimmt die, die wir Böse nennen, ebenso unter seinen Schutz und seine Zuwendung. Er gönnt ihnen das Leben, auch über ihnen scheint die Sonne und es regnet, damit sie Nahrung und Kleidung haben. Und wenn es ihnen an etwas fehlt und wir sehen es und können helfen, dann ermutigt Jesus uns dazu. Wer friert, soll gekleidet werden, wir haben doch genug. Und wenn der römische Soldat, ein armer Mensch, wie immer Soldaten, irgendwo hingeschickt, wo sie gar nicht hinwollen, etwas zu tun, wozu sie gar keine Lust haben. Und dann müssen sie alle ihre schwere Ausrüstung selbst tragen. Nimmst du mir das bitte einmal für eine Meile ab? Gefühlt wäre die Reaktion: Niemals. Ich will ja gar nicht, dass du hier bist, trag dein Zeug alleine. Jesu Empfehlung: Geh zwei Meilen mit ihm und trag ihm seine Sachen. Frag nicht, ob er es wert ist, ob er deine Hilfe verdient. Tu es, weil es ihm hilft und weil du es kannst.
Nicht die Berechnung ist gefragt, die Einteilung der Menschen in gut und böse, in wertvoll und wertlos. Sondern die Weite des Herzens. In der Beziehung zu Gott und im Glauben an ihm erleben wir sein weites Herz für uns. Wir leben davon, dass er anders ist, als es unter uns Menschen üblich ist. Dass er uns aus lauter Liebe und Barmherzigkeit das Leben gönnt und ausstattet mit allem, was wir brauchen.
Was, wenn nicht wir die Menschen in gut und böse einteilen und natürlich selbst immer zu den Guten gehören, sondern wir böse sind? Vielleicht bin ich ja böse, vielleicht verletze ich Menschen, ohne es zu wissen, vielleicht tue ich Menschen weh, weil ich finde, sie haben es verdient. Es kann gut sein, dass Menschen unter mir zu leiden haben, unter dem, was ich tue oder dem, was ich sage. Wie furchtbar, wenn ich dann bekäme, was ich verdiene.
Das ist doch gerade mein christlicher Glaube, dass Gott anders ist. Dass er mir die Verfehlungen an seinen Geboten vergibt und sich mir zuwendet, dass ich viel mehr bekomme, als ich verdiene. Gott sei Dank – aus meiner ganz persönlichen Sicht – ist Gott anders. Er hat ein weites Herz. Zum Beispiel für mich. Aber auch für all die andern. Und ich bin gar nicht dazu berufen, Menschen in die Kategorien gut und böse einzuteilen.
Ich bin dankbar dafür, wie Gott mit mir umgeht und möchte das im Umgang mit anderen Menschen leben. Also keine Gewalt anwenden, gegen niemanden — und jeden Menschen als ein Geschöpf Gottes betrachten, das leben möchte.
Dass das so einfach nicht ist in der praktischen Umsetzung im Leben, wird jeder kennen und erleben. Und es gibt Situationen im Leben, die eine einfache Ermahnung nicht umsetzen lassen.
In der großen Politik ist das deutlich zu erleben. Aus dem Raum der Kirche, also von christlich motivierten Menschen, kam in den 80er Jahren die Empfehlung: Frieden schaffen ohne Waffen. Also kein Angriff und auch keine Drohung. Heute machen politische Parteien Werbung mit der Frage: Krieg oder Frieden? Und gemeint ist, es dient dem Frieden, die Ukraine nicht weiter mit Waffen zu versorgen. Aber wer wollte wirklich den Rat geben, sich nicht weiter zu verteidigen, also das eigene Land kampflos dem Angreifer zu überlassen und dann womöglich besetzt zu werden? Ist es nicht auch angemessen, seine Bürger und sein Land zu verteidigen? Es findet große Zustimmung, vom Land Israel ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen im Gaza zu verlangen. Aber ist es nicht auch geboten, sein Land zu verteidigen und auch künftig für Sicherheit vor terroristischen Attacken zu sorgen?
Entscheidungen im praktischen Leben sind schwierig und aus verschiedenen Positionen heraus kommt es zu sehr verschiedenen Sichtweisen. Das gilt auch für das kleine persönliche Leben. Ich muss mich selbst und mein Leben nicht in Gefahr bringen, ich möchte die Menschen, für die ich Verantwortung trage, meine Familie, vor Gefahren und Gewalt schützen und auch für genügend Kleidung und Nahrung sorgen.
Die einfachen Antworten auf schwierige Fragen sind oft nicht die angemessenen. Aber wir müssen in Freiheit entscheiden, immer und immer wieder. Und machen dabei auch Fehler. Wir werden es nicht vermeiden, Gebote zu übertreten, andere zu übersehen oder zu verletzen. Wir sind nicht vollkommen. Wir sind nicht Gott. Er ist anders. Seine Liebe ist grenzenlos. Sie schließt niemanden aus. Am Ende hat Jesus Christus diese Liebe und Zuwendung für die Menschen mit seinem Leben bezahlt. Er hat nicht zurückgeschlagen, als er geschlagen wurde. Er hat für die gebetet, die ihn ans Kreuz genagelt haben, er hat dem Menschen, der um seine Verlorenheit wusste, seine Sünde verziehen und das ewige Leben zugesagt.
Eine solche Vollkommenheit kann ich nicht leisten. Muss ich auch gar nicht. Ich muss mich nicht aufopfern. Aber es ist diese Liebe Gottes in seinem Sohn Jesus Christus, die auch mich meint und trifft und mitnimmt und verändert.
Gott ist anders. Wie gut. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist eine sehr treue und interessierte Predigtgemeinde, es ist jeweils erkennbar, wie aufmerksam zugehört und erwartet wird. Dabei sind die Frömmigkeiten sehr unterschiedlich; als Russlanddeutsche oder auch Alteingesessene zT sehr traditionell geprägt. Andererseits politisch Interessierte und Engagierte für Umweltbelange und Demokratie, gegen Rechts und Klimaleugnung. Ein spannendes Feld gerade für dieses Jesuswort.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der begrenzende Gedanke dessen, was Jesus aus dem 1. Testament zitiert. Auf diesem Hintergrund die Beobachtung, wie schnell Menschen bereit sind, Gewalt eskalieren zu lassen. Dieser Spannungsbogen hat mich sehr berührt und angespornt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Manchmal gewöhne ich mich an Verhaltensweisen und denke, sie müssten so sein. Dass es anders sein soll nach der Bergpredigt und anders sein kann, weil Gott andere Wege geht und zeigt – im Umgang miteinander, mit Fremden,... das finde ich sehr inspirierend, auch zum Weiterdenken und Weiterleben.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Manche Dinge wiederholen sich – dankenswerter Weise auch mit dieser Coach. Es hat mir so gut getan und so wertgeschätzt nahm ich die wenigen Hinweise gerne auf. Die Predigt ist etwas kürzer geworden, weil Wiederholungen und Bekräftigungen am Ende rausgestrichen wurden. Wie gut. So lässt es dem Hörer, der Leserin mehr eigenen Raum.
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20.10.2024 - 21. Sonntag nach Trinitatis
Kinder, das wird reichen - Predigt zu Mt 6,25-34 von Henning Kiene
1. Die Tür bleibt leicht geöffnet
Jetzt steht fest, wie weit man sich in den Ferien von dem alltäglichen Leben entfernen kann. Die langen Ferienwochen öffneten ein Tor, das führte zu einer Art Paradies auf Zeit. Die ursprüngliche, lateinische Bedeutung des Wortes Ferien sagt: Ferien, das sind die Ruhetage, die den Menschen ausreichend Zeit gewähren, ihre Festtage zu begehen. Ferien eröffnen die Gelegenheit, sich seiner eigentlichen Bestimmung zu besinnen. Sommerferien, am Anfang klingt das noch endlos und die Kinder tummeln sich sorglos im Freibad zwischen Sprungbrett und Rutsche. Jetzt kehrt der Alltag schlagartig zurück und das Attentat in Solingen entzieht dem Sommer seine Leichtigkeit.
„Sorget nicht“, sagt Jesus. Das klingt wie ein Appell, der heute die Sommerzeit und Ferienstimmung noch bewahren soll. Und Jesus führt seine Jüngerinnen und Jünger zum Spiel der Vögel, macht mit uns noch einmal Ferien an den Rändern der reifen Felder, bei den blühenden Lilien. Es wirkt, als wollte er die Bilder des Alltags vertreiben, einen ursprünglichen, sorglosen Zustand zeigen, der sich unwillkürlich einprägt; ich sehe Spatzen, Störche und Schmetterlinge, die sich auf den Lilien niederlassen. Ein fetter Tautropfen glitzert, prachtvolle Blüten übertrumpfen selbst die feinen Gewänder, die vor den Festspielbühnen dieses Sommers in der ersten Reihe sitzen. Jesus öffnet mit dem Evangelium einen Zugang zum Garten Eden, gibt Einblick in echtes Menschsein. Mit dem Evangelium halte ich heute inne, mit Respekt vor der Trauer, in der Angehörige um geliebte Menschen weinen und wir alle nach einer Orientierung suchen. Wir brauchen Zeit und keine vorschnellen Antworten.
Jesus sagt: „Sorget nicht für euer Leben!“ Das klingt, als würde Jesus eine trotzige Parole ausgeben, die durch krisenhafte Zeiten hindurchhelfen soll. Dann fordert er: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“ Ich aber denke an die Opfer des Attentats und will mitten in all der Trauer und Empörung sagen: Das Paradies hat heute geschlossen. Aber Jesus hält die Tür mit dem Evangelium offen, zeigt heute sogar uns, den sorgenvollen Menschen, Vögel, Blumen und Sommerpracht, erinnert an Gott und dessen Gerechtigkeit.
2. Strategien der Bergpredigt – gegen das Sorgen
2.1. Oma zeigt, wie es geht
Wenn ich „Sorget nicht für euer Leben“ höre, tritt mir – gerade jetzt im September – meine Oma vor Augen. Das ist merkwürdig, denn der Rücken unserer Großmutter war – so sagte es unsere Mutter – unter den vielen Sorgen, die sie tragen musste, gebeugt. Oma sprach selten darüber, wir wussten nur: Als kleines Kind hatte sie im Winter gehungert und als sie selbst Mutter war, zerrten ihre hungrigen Kinder frierend an ihrer Schürze. Oma wusste, welche Schäden Krieg, Angst, Sterben, Hunger und tägliche Sorgen in einem Menschen anrichten. Ausgerechnet dann, wenn Jesus sagt: „Sorget nicht!“, tritt mir diese Frau vor Augen. Sie beugte sich nicht, sondern zeigte uns Kindern eine Strategie, mit der man Sorgen bewältigen kann. Ich sehe, wenn ich an sie denke, durch einen kleinen Spalt durch die Tür ins Paradies. Da steht sie vor ihrem altmodischen Herd, der Dampf des Wassers steigt über ihrem Kopftuch auf, sie kocht schon seit Wochen Tag für Tag die Früchte des Sommers ein, um dann die Gläser in Reih und Glied aufzustellen. Motto: Keine Endlossorgenschleifen drehen, nicht klagen, sondern Vorsorge treffen. Oma ließ ihre sorgenvollen Gedanken einfach schrumpfen.
2.2. Ferienatmosphäre bleibt…
In all diesem Erschrecken und der Trauer über den Terror in Solingen spricht Jesus eindringlich weiter: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Während viele die Not fest im Blick behalten und fragen: „Wie geht es weiter?“ oder Parolen ausgeben, die niemandem helfen, führt Jesus seinen Gedanken Wort für Wort zum Ziel: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“ Es ist, als sollte dieser Sonntag die Gedanken umlenken, wegführen von der Diskussion um Messerklingen, Abschiebung und geschlossene Grenzen. Nach Gottes Reich zu trachten heißt, sich den Sorgenszenarien nicht schutzlos hinzugeben, sondern – wie meine Oma es tat – eine Strategie zu finden, mit der man die Sorgen und den Aufruhr, den sie in der Seele anzetteln, begrenzt. Sorgen machten Oma nicht passiv, Oma war stolz auf all die guten Früchte, die sie in den Keller trug. Und dann unternimmt Jesus mit uns so eine Art Ferien und bringt eine leichte, fast unbedarfte Stimmung in den Blick: „Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen?“
2.3. …mit dem Duft der Äpfel
Wir Kinder freuten uns auf Oma. Wenn wir aus den Ferien zurückkamen, stand sie schon in der Küche vor dem Herd und streckte ihren rund gewordenen Rücken gerade. Wir Kinder zerschnitten mit ihr das Obst und sie kochte aus den harten Quitten mit dem herben Aroma süßes Gelee. Der Duft von Äpfeln und Birnen mischte sich unter und zog durch die ganze Wohnung. In kochendem Wasser standen die Gläser, deren Deckel sie sorgfältig verklammert hatte. Oben aus dem großen Topfdeckel ragte ein langes Thermometer, das sie nicht aus den Augen ließ. So ist es, wenn Jesus blühende Lilien zeigt und den Flug der Vögel unter dem blauen Himmel.
3. Vorsorge überwältigt Sorgen
„Kinder, das wird reichen!“, sagte Oma irgendwann im Herbst, ihre Stimme war voller Optimismus und was dann kam, war wieder ein Ferientag. Sie öffnete ihren Verschlag im Keller und führte uns feierlich an den Regalen entlang, zeigte uns die Gläser und wir lasen die Aufschriften: Bohnen, Karotten, Eintopf, Marmelade. Zwiebeln hingen an der Wand, erste Kartoffeln lagen in der Kiste und manchmal hing ein geräucherter Schinken von der Decke. Wir atmeten die erdige Luft des Kellers, staunten und waren beruhigt. „Sorget nicht“, war – ohne dass sie etwas sagte – die Botschaft, die wir mitnahmen.
Heute weiß ich: Wenn unsere Oma immer nur auf ihre Sorgen gestarrt und über ihr schweres Leben geseufzt hätte, wäre niemandem geholfen gewesen. Sich auf dem hohen Stapel alles Widrigen, das sich vor einem auftut, auszuruhen, ist keine Option. Als ich erwachsener wurde, fragte ich sie direkt nach ihrem Leben früher, da sagte sie, ihre Sorgen seien nie „der Rede wert“ gewesen. Aber ihre Vorsorge, die fand ich der Rede wert. Jetzt erinnere ich diese Vorratswirtschaft und denke: Das gilt für vieles im Leben: Wenn der Zusammenhalt bröselt, der Konsens zwischen uns schwach wird, braucht es einen Gang zu den Vorräten, die uns einen. Und ich habe die Demonstrationen im Januar vor Augen. Wir sind für Toleranz auf die Straße gegangen, ich habe die bunten Fahnen vor Augen und den Ruf nach Toleranz in einer offenen Gesellschaft im Ohr. Das tat vielen Menschen gut. Und mir steht heute eine Frau vor Augen, die einen Geldschein in den Klingelbeutel legt: „Für die Flüchtlinge im Mittelmeer“, denn „jemand muss doch helfen.“ Und: „Die können ja nichts dafür.“
4. Mit offenen Augen und Ohren aus dem Vollen schöpfen
Wer Sorglosigkeit einfach nur verordnen will, scheitert. Darum zeigt Jesus uns Bilder, volle Regale, eine gute Ernte, duftende Rosen und dunkelblaue Lilien, die Nester der Vögel und Sicherheit und Ruhe, Menschen, die mit bunten Fahnen und einer Idee von Toleranz nach Zusammenhalt suchen, er macht Miniferien und die Gedanken lösen sich von den Sorgenszenarien des Herbstes.
Die Tür zu den Ferien schließt sich jetzt, hoffentlich langsam, denn die Bilder bleiben. All die Zeichen, die jetzt auf einen heißen Herbst deuten, auch die Wahlergebnisse der letzten Woche verlangen einen langen Atem. Jesus zeigt noch immer auf die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Feld, ich sehe meine Oma und ihre aufrechte Haltung am Herd. Jesus sorgt für einen Optimismus, der die sorgenschweren und kreisenden Gedanken durchbricht und all die mühevollen Entscheidungen, die jetzt getroffen werden müssen, entspannt. Trotz allem: Die Sorgen sind auf dem absteigenden Ast.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine klassische Gemeinde an dem Urlaubsort, in dem ich lebe, und Hallig Hooge, auf der ich die Predigt halten werde. Jetzt sind die älteren Gäste angekommen und die jungen Eltern mit den ganz kleinen Kindern, die – heute jungen – Großeltern. Und: Die Einheimischen kommen zurück und in wenigen Tagen beginnt der Alltag.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Wahlen in drei Bundesländern, in deren Wahlkämpfen mit den Sorgen der Menschen billiger Wahlkampf gemacht wird. Und das Attentat von Solingen. Das Szenario, das Jesus mit dem Wort „Sorge“ aufruft, zielt auf Jesus, der gegen diese Art der Sorge Vorsorge trifft.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Vorstellung, dass Jesus die Ist-Situation, nicht nur durch das gesprochene Wort, neu qualifiziert und sein Wort mit Bildern anreichert, macht die Predigtvorbereitung etwas leichter, denn es ist der Sprechakt, in dem ich erkenne, wie er das Wort ins Bild umsetzt. Und: Das Wort Sorge wird häufig mit dem Gefühl der Ohnmacht verbunden. Das ist gemütlich für die, die mit ihren und fremden Sorgen Politik machen. Im Evangelium aber geht es nicht um ohnmächtige Hingabe, sondern um Jesu leidenschaftliche Zuwendung.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit großer Sorgfalt hat mein Coach der Predigt eine Gliederung verpasst, die mich unterstützt, die eigene Gliederung sichtbar zu machen. Der Coach fokussierte die Vorbereitungen und lenkte von Nebenthemen ab. Und ein wichtiger Hinweis des Coachs: Hier spreche ich von meiner Großmutter. Geschichten von Omas und aus der Familie aber bergen ein Risiko: Omas, Kinder, Enkel dürfen nicht häufig eingesetzt werden, dann schalten die Leute gelangweilt ab und denken: „Ach wieder diese Oma“. Es ist m.E. legitim, die Oma auf eine andere Person umzuschreiben. Oma, das kann eine Nachbarin sein, ein beherzter Mann, der die Früchte nicht vergammeln lassen will, oder – ältere Kolleg:innen erinnern sich – es gab da mal ein Gemeindeglied, an das sich viele noch erinnern, die stand in ihrer Küche. Reizvoll wäre es auch, hier einen der vielen jungen Menschen einzuführen, der sich sorgfältig um Lebensmittelreste kümmert und aus den Containern rettet, was schon verloren gegeben ist, die Früchte, die auf Obstwiesen liegen bleiben, sammelt und heute wieder unverdrossen vor dem „Wecktopf“ steht.
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08.09.2024 - 15. Sonntag nach Trinitatis
Aufschreiben als Protest - Predigt zu Mt 27,33-54 von Margot Runge
Wir erinnern uns heute an den gewaltsamen Tod von Jesus. Wir haben einen der Berichte gelesen, was am Gründonnerstag und Karfreitag passiert ist, und haben uns daran gewöhnt, daß sie in der Bibel stehen. Es ist aber keineswegs selbstverständlich, daß die Umstände eines Justizmordes so ausführlich aufgeschrieben und dokumentiert wurden: Wie die Schülerinnen und Schüler mit Jesus zusammen Passa vorbereitet und das Lamm gegessen haben - das letzte Mahl, das zum Abendmahl werden würde. Die Gespräche beim Essen, die sich schon um Verrat und Tod gedreht haben. Wie einige aus der Gruppe die Nacht im Garten verbracht haben. Wie Jesus verhaftet wurde. Die verschiedenen Verhöre. Die Suche nach Belastungszeugen. Die Folter, das stundenlange Sterben, der Tod. Was mit seiner Leiche passiert ist. Wie seine Schüler_innen darum gekämpft haben, daß ihnen der Leichnam ausgeliefert wurde und sie den Toten begraben durften. Ausführlich erfahren wir auch von den Treueschwüren, von den Frauen, die tatsächlich bis zum Schluß nicht von seiner Seite gewichen sind, und von denen, die Jesus im Stich gelassen und verraten haben.
Gewalt liebt verschlossene Türen. Alexander Nawalny wurde in ein russisches Straflager im Polarkreis gesteckt. Kein Mensch sollte sehen, was sie mit ihm machen. Seine Worte sollten verstummen. Als die Behörden im Februar seinen Tod meldeten, machte seine Mutter sich dorthin auf, ihre Bilder gingen im Fernsehen um die Welt. In eisiger Kälte stand sie vor dem Gefängnistor. Das Leichenschauhaus, die Verwaltung - niemand wollte ihr Auskunft geben, wo der Leichnam überhaupt ist und wann sie ihn sehen kann. Um alles musste sie kämpfen, um einen Trauergottesdienst, um einen Friedhof, um eine öffentliche Beerdigung. Wie er wirklich starb, wird sie wohl nie erfahren.
Gewalt liebt verschlossene Türen. Täter haben ein Interesse daran, dass nichts nach außen dringt. Das ist bei häuslicher Gewalt so. Sowohl die alltäglichen Demütigungen als auch die Wut, die sich hinter der Wohnungstür austobt, lassen sich meist schwer aufklären. Überlebenden von sexualisierter Gewalt wird nicht geglaubt.
Mehr noch ist es bei staatlicher Gewalt so. Wie in Polizeistationen und Geheimdienstkellern in aller Welt geschlagen, gefoltert und erpresst wird, soll niemand erfahren. Manchmal verschwinden die Opfer gleich ganz und gar. Notdürftig hergerichtete und zusammengeflickte Gefangene werden vor die Presse geschleppt.
Wenn im Fernsehen trotzdem Blutergüsse zu sehen sind, soll das zur Abschreckung dienen. Oder die Behörden sind so unverfroren und von sich eingenommen, daß es sie nicht kümmert, wenn die Brutalität ihres Systems vor aller Welt gezeigt wird.
Im Allgemeinen versuchen sie aber, das Ausmaß zu verschleiern. Oder sie wenden solche Foltermethoden an, die keine Spuren hinterlassen. Sie präsentieren das Opfer äußerlich unversehrt: Seht, das Geständnis ist aus freien Stücken passiert.
Angehörigen, Anwältinnen und Anwälten oder Menschenrechtsorganisationen ist es meist unmöglich herauszubekommen, was in den Zellen tatsächlich vorging. Sie stoßen buchstäblich auf Mauern und auf den Korpsgeist von Polizei und korrupter Justiz. Auch später soll sich niemand erinnern. Weder an Nawalny noch an sonst jemanden.
Die Umstände der letzten Stunden von Jesus sind hingegen bemerkenswert gut dokumentiert. Das ist ein Akt des Widerstands. Es ist ein Akt des Widerstands, überhaupt in dieser Breite aufzuschreiben, was im Vorfeld jenes Passafestes Anfang der 30-er Jahre in der Hauptstadt einer abgelegenen Provinz des römischen Reiches vorfiel. Es ist ein Akt des Widerstandes, diese Berichte untereinander weiterzugeben und sie zu verbreiten und immer wieder daraus vorzulesen und daran zu erinnern.
Wie viel Mühe werden die Schüler_innen von Jesus gehabt haben, das alles zusammenzutragen? Wie oft werden sie zusammengesessen haben, um aufzuklären, wer was gesagt hat und wie die Abläufe waren?
Geschichtsschreibung erfolgt meist im Auftrag der Mächtigen oder ist Anliegen der Gebildeten, und sie gibt deren Perspektive wieder. Sie ist ein Privileg derer, die überhaupt schreiben und lesen konnten, je weiter zurück wir in die Vergangenheit schauen.
In der Bibel jedoch kommen die Opfer zu Wort. Verhaftung, Verhör, Demütigung, Tod werden klar als Unrecht benannt. Indem sich die Gemeinden davon über die Jahrzehnte immer wieder weitererzählt haben, indem sie es in den Evangelien ausführlich aufgeschrieben, vervielfältigt, vorgelesen haben, machen sie deutlich: Gott steht auf der Seite der Opfer.
Im Übrigen: Wie viel Mut werden sie dazu gebraucht haben? Die Römer waren ja nach wie vor an der Macht. Wie weit konnten sie in den Passionsberichten gehen, deren Beteiligung offenzulegen? Vieles konnten sie nur zwischen den Zeilen ausdrücken. Wenn Pilatus, der oberste Repräsentant der Römer, sagt: „ich wasche meine Hände in Unschuld“, wussten damals alle, was gemeint ist. (Mt 27,24). Er hat Jesus höchstpersönlich zu Tode verurteilt.
Wie zynisch Pilatus in Wirklichkeit war und welche Farce der Prozess, enthüllen sie, wenn Pilatus obendrein behauptet: „ich finde keine Schuld an ihm“ oder wenn er im Johannesevangelium mit dem Angeklagten bei einem Verhör über Wahrheit philosophiert. Wenn die Gemeinden das gelesen haben, werden sie bitter aufgelacht haben, ähnlich wie am 13.11.1989 viele Bespitzelte und Stasi-Opfer bei Erich Mielkes Worten „Ich liebe doch alle, alle Menschen“.
Gott ist bei den Geschlagenen und den Ermordeten. Gott geht mit denen, die nach den Verschwundenen suchen. Gottes Freund_innen lassen nicht locker, dass ihr Schicksal aufgeklärt wird. Gott solidarisiert sich mit gedemütigten Menschen, die hin und her geschubst, ausgetrickst und an den Rand geschoben werden.
Nein, Gott macht keine Opfer und fordert keine Opfer. Gott stellt sich auf die Seite der Opfer. Und Gott gibt ihnen ihre Würde zurück. Gott stellt sie ins Licht. Gott vergisst keinen ihrer Namen.
Paulus schreibt: „Wisst ihr nicht, dass alle, die in Jesus getauft sind, in seinen Tod hinein getauft wurden? Durch die Taufe sind wir mit ihm zusammen in den Bereich des Todes begraben.“ (Römer 6,3.4a) Taufe hat etwas mit diesem Sterben von Jesus zu tun. Der alte Adam, der alte Mensch soll im Wasser ersäuft werden, damit ein neuer ersteht, heißt es oft. Ich glaube stattdessen, Taufe in den Tod bedeutet, dass Jesus uns mitnimmt auf die Seite der Untergetauchten. Er zieht uns auf die Seite der Opfer. Wer getauft ist, soll nie vergessen, wohin Gott gehört und wohin wir gehören.
Die Welt der Reichen und Schönen gaukelt uns Wohlstand und Glück vor. Nur manchmal offenbart sie ihre Kehrseite, ihre brutale Seite. Sie profitiert von der Armut. Sie lebt davon, daß alle anderen ausgeschlossen sind. Alle, die nicht hineinpassen, die es nicht bis nach oben schaffen oder nicht mehr brauchbar sind, werden ausgespuckt. Sie basiert auf dem Ausschluss.
Gottes Welt ist eine inklusive. Bei Gott haben alle einen Platz, auch die im Schatten stehen, die sonst keine Chance haben. Die einfachen Leute, die Behinderten und die Armen. Die, die anderen nicht nach dem Munde reden und vor der Macht zu Kreuze kriechen.
Was Gott bei der Taufe zu Jesus gesagt hat, gilt für alle: Du bist mein geliebtes Kind, an dir habe ich Wohlgefallen. Dafür ist Jesus gestorben. Dafür ist er aufgestanden und hat dem Tod getrotzt. Und wir mögen es mit ihm. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist im Blick auf eine interessierte Gemeinde in einer Kleinstadt konzipiert, bei der auch Mitarbeitende der Diakonie anwesend sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es berührt mich, mit welcher Mühe und Akribie Menschenrechtsverletzungen von Betroffenen und Engagierten dokumentiert werden, manchmal unter Lebensgefahr.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie Widerstand, Mut und Solidarität sich hinter den Passionsgeschichten entdecken lassen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Coach hat mich ermutigt, den ursprünglich sehr kurzen Bezug zu dem Tod von Alexander Nawalny etwas auszubauen.
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Alles hängt an der Liebe - Predigt zu Mt 25,31-46 von Andreas Schwarz
(24,4) Jesus sprach zu seinen Jüngern:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Liebe Gemeinde;
lautstarker Protest erhob sich im Gespräch bei einer Jugendveranstaltung, als es um die Frage ging, wie denn die Folgen menschlichen Lebens aussehen. Einer verwies dabei auf die Taufverheißung aus Markus 16. Dort sagt Jesus seinen Jüngern: 'Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden!' Jesus stellt also dem menschlichen Leben zwei mögliche Ziele vor Augen: die Seligkeit und die Verdammnis. Der jugendliche Protest verwies auf die Liebe Gottes und darauf, dass Jesus selbst die geistlich Armen seligpreist und ihnen das Himmelreich zusagt. Wie könne man da noch von der Verdammnis reden?
Angenehm ist es sicher nicht, davon zu reden, gerne hört es niemand.
Was Jesus Christus im heutigen Evangelium sagt, stellt uns ganz nüchtern und unverblümt die Zukunft vor Augen: Er legt ausführlich und beispielhaft aus, was wir in kurzen Sätzen im Glaubensbekenntnis sprechen: '... von dort wird er kommen, zu richten, die Lebenden und die Toten'. Und im Nicaenum: '... und wird wiederkommen mit Herrlichkeit zu richten die Lebenden und die Toten'. Seinen unangenehmen Beigeschmack bekommt dieses Bekenntnis, wenn es an Beispielen durchbuchstabiert wird. Und wenn dabei klar gesagt wird, das Richten Jesu an seinem Tag bringe einen doppelten Ausgang. Der im irdischen Leben gemeinsame Weg teile sich am Ende in rechts und links.
Untersuchungen von Predigten bringen ans Tageslicht, dass dieses Thema gern umgangen wird. Vom Gericht, das auch in die Verdammnis führen kann, wird wenig geredet. Wahrscheinlich, weil niemand gern davon redet. Wir hören es auch nicht gern. Es klingt furchteinflößend und legt eine Spannung auf unser Leben, von der wir gern befreit wären.
Schon die Psychologie könnte uns lehren, dass eine Angst, die der Mensch verdrängt, damit nicht gelöst ist. Sie schwelt weiter und breitet sich aus. Im schlimmsten Fall kann sie krankmachen. Ziellose und hoffnungslose Angst ist allemal eine Krankheit. Dazu aber redet Jesus Christus nicht vom kommenden Gericht.
Man hat dieses Gleichnis als Kritik an der Kirche und ihren Gliedern immer sehr gern ins Feld geführt. Man hat den Christen ihr Fehlverhalten schön deutlich machen können: 'Seht, was Jesus von euch fordert und was ihr alles unterlassen habt!' Wir werden kleinlaut und erkennen selbst unsere Schwächen. Es ist ja auch nicht schwer, anderen Menschen ihre Fehler und Versäumnisse vorzuhalten. Bloß: Dies Gleichnis haben wir dazu nicht auf unsere Seite. Es gibt keinem Menschen das Recht, andere zu verurteilen. Es geht hier gerade nicht um das Gericht, das Menschen übereinander fällen. Wenn Jesus vom Gericht redet, dann versammelt der Menschensohn alle Völker, also alle Menschen vor sich. Er sammelt und er scheidet. Wir stehen als Menschen alle vor ihm und erwarten, was er zu sagen hat. Wir haben kein Recht, dies Urteil an anderen bereits vorwegzunehmen; aber es hat auch niemand das Recht, vorweg über uns zu richten. Wir erwarten das gerechte Gericht des Menschensohnes.
Es kommt der Tag, an dem menschliches Leben aufgedeckt wird, offenbar. So, wie es Paulus in dem Wort, das uns als Wochenspruch begleitet, gesagt hat: 'Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Gottes'. Der Tag des Gerichts ist ein Tag, der aufdeckt, der offenbart, was bisher verdeckt und unsichtbar, auch unsicher war. Klarheit wird verschafft und Durchsichtigkeit. Die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden hat auf diesem Hintergrund ihren Sinn, dass es überhaupt ein Gericht gibt. Gäbe es am Ende nur einen Weg, den des ewigen Lebens, müsste von einer Rechtfertigung nicht mehr geredet werden. Das reformatorische Erbe, von der Gnade Gottes in Christus, bekennt auch den richtenden Christus. Es ist der Sohn dessen, von dem Luther in den Gebotserklärungen ständig wiederholt, 'wir sollen ihn fürchten und lieben'. Also ernst nehmen und mit ihm rechnen.
Der Gott, den wir fürchten und lieben sollen, flößt aber keine Angst ein; die ist nicht Antriebsfeder christlichen Lebens. Das Gleichnis macht in seinen Feinheiten viel davon deutlich, worum es Christus geht.
Da fällt zunächst auf, wie die, die gerettet werden, angesprochen werden: 'Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!' Auf ihnen liegt der Segen Gottes, seine Zuwendung geht mit ihnen, ist mit ihnen gegangen; seine Liebe und Treue hat sie umgeben. Sie haben ein Startkapital bekommen und ein großes Ziel vor Augen. Sie sind Kinder Gottes schon von Anfang an gewesen und darum ist ihnen das Erbe schon längst zugesagt. Sie sind keine unbeschriebenen Blätter gewesen, die mit ihrem Leben aus eigenem Antrieb Gutes zu vollbringen gehabt hätten. Die Grundlagen und Möglichkeiten waren gegeben, zur Verfügung gestellt. Sie haben von Beginn an von der Liebe des Vaters gelebt und das hat ihr Leben widergespiegelt. Sie haben gelebt, was sie empfangen haben. Sie haben andere spüren lassen, wovon sie selbst gelebt haben; sie haben weitergegeben, womit sie selbst beschenkt wurden.
Das Gleichnis macht es ganz deutlich: Die Gerechten haben sich nicht deswegen hilfreich den Notleidenden zugewendet, weil sie wussten, darin verbirgt sich der Herr, oder: Wenn ich jetzt helfe, verdiene ich mir den Zugang zum Reich Gottes.
Die Botschaft dieser Predigt kann darum nicht sein: Seid immer hilfsbereit zu den Hilfsbedürftigen, ihr helft damit Christus und entgeht so der ewigen Verdammnis.
Die Gerechten waren ja überrascht darüber, was sie selbst getan hatten, und an eine solch bedeutsame Folge ihres Tuns hatten sie nie gedacht.
Sie haben bloß den Segen und die Liebe Gottes nicht für sich behalten; sie erachteten es für selbstverständlich, sich denen zuzuwenden, denen sie helfen konnten.
Und die Liebe fragt eben nicht nach Lohn.
Wir fragen: Was ist der Maßstab für das Gericht? Antwort: Das Doppelgebot der Liebe: 'Du sollst deinen Herrn lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.'
Die Liebe, die lebendig ist, die im Menschen lebt und sein Handeln bestimmt, braucht eigentlich keine Beispiele. Die verführen immer zu Ausreden (Das kann ich gar nicht; solche Menschen gibt es hier nicht, ich kenne sie nicht), oder Selbstbestätigungen (das tue ich doch).
Jesus Christus zeigt mit diesem Gleichnis auf sich selbst, auf seine Liebe, die keine Grenzen kannte, die jeden mitnahm, ohne nach Antwort zu fragen. Die Menschen in Not - in welcher auch immer - waren in seinem Blick. Er hat sie geliebt und darum hat er sie auch gesehen.
Keiner muss Menschen in Not suchen; die Liebe zeigt sie ihm schon. Die Gerechten haben auch nicht die Welt verbessert, haben den Hunger nicht beseitigt, die Einsamkeit nicht beendet - einem einzigen Menschen haben sie sich jeweils zugewendet; aber darin hat sich ihre Liebe als lebendig erwiesen, als uneigennützig, als selbstverständlich, als keiner Rede, keines Lobes, keines Lohnes wert.
Ihr Tun hat seine Motivation allein in der Liebe; in der Liebe, die Gott ihnen geschenkt hat. Und diese Liebe Gottes lässt in jedem Menschen das Angesicht Jesu Christi aufleuchten. Er hat sich auf die Seite der Bedürftigen, Armen, Kranken, Verlassenen gestellt. Und da bleibt er, solange diese Erde steht. Sich den Menschen am Rand zuzuwenden ist gelebte Liebe und gelebter Glauben an Jesus Christus.
Dementsprechend gilt dann auch die Formulierung von der negativen Seite: Lieblosigkeit ist ein Zeichen dafür, nicht an Christus zu glauben; wer nicht liebt, leugnet die Liebe Christi, missachtet auch, dass Christus selbst auf der Seite der Leidenden steht.
Wer nicht liebt, will diesen Christus nicht, glaubt nicht an den Christus, den die Heilige Schrift bezeugt und wird darum auch den ewigen Fluch bekommen, die ewige Trennung von ihm, oder, wie das Gleichnis sagt, das ewige Feuer.
Die Liebe - empfangen und gelebt - ist der Maßstab im Jüngsten Gericht. Das ist kein Widerspruch dazu, dass es die Rechtfertigung nur aus Glauben gibt. Denn einen Glauben ohne Liebe kennt die Bibel nicht. An Christus zu glauben, verbindet mit den Menschen; einen christlichen Glauben ganz für sich allein - und darum blind für die Not der Menschen - gibt es nicht.
In ihrem Buch 'Die Egoismus-Falle' zeigt die Psychologin Ursula Nuber, dass es hierzulande schon länger eine neue Hinwendung zur Religion gibt, allerdings nicht zum Christentum. Es sind esoterische Religionen wie Buddhismus, Hinduismus oder Brahman, die wie in einem religiösen Supermarkt für jeden etwas bereithalten, vor allem aber das eine: Selbstverwirklichung. Dagegen schreibt sie: 'Man mag zur Lehre Jesu stehen wie man will, unsozial und ichbezogen ist sie nicht. ... Nicht ... das Selbst steht im Zentrum, sondern das Sich-Ereignen von Beziehung. Jesus predigt die Liebe zum Nächsten, setzt sich für Schwache ... ein und fordert unser aller verantwortliches Handeln den Menschen gegenüber: 'Was ihr getan habt dem geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan'.
Sie folgert schließlich: Möglicherweise ist die Unbeliebtheit der Lehre Jesu heute unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass sie nicht das Ich mit seinen egoistischen Bedürfnissen, sondern den Mitmenschen in den Mittelpunkt stellt.'
Sie hat es offensichtlich zutreffend beobachtet. Es scheitert am Ende der mit seinem Leben vor Gott, der zur Liebe nicht bereit war, der nur sich selbst mit seinen Sorgen und Freuden, Problemen und Hoffnungen, nicht aber den Mitmenschen in Not gesehen hat.
Am Ende gehört zu jedem Leben sein Ziel: Die einen bleiben von Christus getrennt - nun ewig, denn sie haben ihm nicht vertraut, ihn und ihre Mitmenschen nicht geliebt und also seine Nähe nicht gewollt.
Die anderen erben das, was ihnen längst zugesagt war, was ihnen geschenkt wurde, worüber sie sich gefreut, was sie gehofft und was sie auch gelebt haben - im Vertrauen und in der Liebe: die Nähe zu Jesus Christus. Das werden sie nun ewig leben. Unsere Zukunft ist klar und offengelegt; wir sind gesegnet, wir sind erwählt, das Erbe ist uns zugesagt. Die Liebe Gottes, die seinen Sohn leiden und sterben lässt, umschließt unser Leben. Wir sind geliebt, Gerechtigkeit ist uns geschenkt - unser Leben bietet unendlich viele Möglichkeiten, zu lieben. Wir wissen, auf wessen Seite wir stehen: auf der Seite Jesu, und damit auf der Seite der Menschen in Not. Die Liebe verbindet uns - mit Christus und untereinander. Die Liebe stellt uns auf die rechte Seite. Gott sei Dank. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Sonntag folgt auf die Synode unserer Kirche. Eine große personelle Umbruchsituation steht bevor, dazu auch knapper werdende finanzielle Ressourcen. Das betrifft auch die Gemeinde, die gerade mehrere schöne, festliche und gut besuchte Gottesdienste gefeiert hat. Die Kirchenjahreszeit passt gerade zum Wetter; dazu kommt ein bekanntes und vertrautes und doch irgendwie immer fremd bleibendes Gotteswort. Ja, kenne ich – ist in der durchaus biblisch fundierten Gemeinde eine mögliche Reaktion. Bekannt und doch neu. Herausfordernd, aber nicht zum Verzweifeln. Menschen sind besorgt, was wird. Kann die Predigt stärken und Vertrauen vermitteln?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Eine bekannte und doch immer wieder neue Beobachtung: Jesus ist anders als erwartet. Kein Schema fängt ihn ein. Es bleibt – auch persönlich – eine Herausforderung. Ich wollte und will mich dem stellen, auch wenn es mich persönlich in Frage stellt. An sich kann ich nur scheitern. Und doch ‚gesegnet‘ und ‚Erbe‘.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Wie oft geht es (mir) und theoretische Debatten, Auseinandersetzung, wer Recht hat und wer Anspruch auf Wahrheit erhebt. Wichtiger sind Menschen, die Hilfe und Zuwendung brauchen, die machtlos sind und leicht übersehen werden. Was ist meine Aufgabe und mein Platz?