Von einer Himmelskirche auf Erden - Predigt zu Mt 16,13-19 von Romina Englert

Von einer Himmelskirche auf Erden - Predigt zu Mt 16,13-19 von Romina Englert
16,13-19

(1) Zukunftsfragen überall

Liebe Schwestern und Brüder,
wie sieht die Zukunft der Kirche aus? Diese Frage beschäftigt uns gerade auf allen Ebenen…
Viele sagen: Wir müssen das, was aktuell gut funktioniert, einfach so lange es geht festhalten. Denn in der Verlässlichkeit liegt die Zukunft. Andere dagegen meinen: Wenn alles nur wieder so werden würde wie früher, als die Kirche und ihre Werte noch was gezählt haben, dann hätte Kirche Zukunftsperspektive.
Und dann gibt's auch diejenigen, die davon überzeugt sind, die Zukunft der Kirche liegt in der Veränderung. Denn es wird ohnehin alles anders werden. Wenn es weniger Pfarrpersonen gibt, die Kirchenaustrittszahlen weitersteigen, aber gleichzeitig die Anzahl der kircheneigenen Gebäude sinkt... Da muss man jetzt schon alles anders denken und irgendwie neu machen, bevor einen die Realität einholt. Wieder Andere sagen: Die Frage nach der Zukunft der Kirche kannst du dir schenken, denn Kirche hat keine Zukunft mehr.
Was denken Sie? Wer hat recht? Keiner? Oder irgendwie auch alle?

(2) Auf diesem Fels will ich meine Gemeinde bauen 

Werfen wir einen Blick in das Predigtwort für den heutigen Gottesdienst. Vielleicht zeigt er uns zu den Zukunftsfragen unserer Kirche neue Aspekte auf. Ich lese aus dem Matthäusevangelium im 16. Kapitel:
Da kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei? Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten. Er sprach zu ihnen: Wer sagt denn ihr, dass ich sei? Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel. Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.

(3) Die Zukunft der Kirche baut auf Menschen wie Petrus auf 

"Du bist der Fels, auf den ich meine Gemeinde bauen will.", sagt Jesus zu Petrus.
Und macht damit deutlich: Die Zukunft der Kirche hängt nicht an Strukturfragen, Gottesdienstzeiten oder Gebäuden. Die Zukunft der Kirche baut auf Menschen auf. Auf Menschen wie Petrus. Der im wahrsten Sinne der Wortes begeistert einfach so aus dem Herzen heraus den Leuten erzählt hat, was ihm an Jesus und Gott so fasziniert. Und das sogar noch auf jeder erdenklichen Sprache der Welt, so wird es uns in der Pfingstgeschichte berichtet.
Die Zukunft der Kirche baut auf Menschen wie Petrus auf, der oft aber auch vorschnell nach vorne prescht, weil er unbedingt alles richtig machen möchte. Immer wieder musste ihn Jesus einbremsen. Wie zum Beispiel als er einmal mit Jesus und zwei Anderen einen Ausflug ins Grüne gemacht hat (so wie wir heute). Da hatten sie ein Erlebnis, bei denen ihnen Mose und Elia erschienen ist. Das war für Petrus so besonders, dass er es für immer festhalten wollte. Er ließ sich von Jesus nur mit Mühe davon abhalten, mitten im Grünen für sie alle Hütten zu bauen, damit es einfach für immer so bleiben kann. Ja auch so ist Petrus.
Aber die Zukunft der Kirche baut auf Menschen wie Petrus auf. Auf den Petrus, dem dann und wann die Kraft auch mal ausging. Wie damals als er im Garten Gethsemane von Jesus gebeten wurde: „Bleib wach und bete mit mir!“ Immer wieder sind ihm vor Erschöpfung die Augen zugefallen und er ist eingeschlafen.
Gott baut die Zukunft der Kirche auf Menschen wie Petrus auf, die Stärken und Schwächen haben wie Du und ich, die sich begeistern lassen, vielleicht auch mal über das Ziel hinausschießen und denen manchmal vielleicht auch die Puste ausgeht. Und doch baut er auf uns seine Kirche auf, vor allem aber dann, wenn wir bei der entscheidenden Frage nicht zögern – wie Petrus.

(4) Die Zukunft der Kirche ist eine Glaubensfrage

"Was sagt denn ihr, wer ich sei?", fragt Jesus. Und Petrus antwortet: "Du bist der Christus, der lebendige Sohn Gottes!" Und mir kommt der Gedanke, dass das die  erste und eigentliche Frage ist, die wir uns stellen sollten, wenn wir Kirche der Zukunft bauen wollen: "Was sagst du, wer Jesus für dich ist?" Die Kirche braucht für ihre Zukunft Menschen wie Petrus, die zu solchen Glaubensfragen auskunftsfähig sind. Wer ist Jesus für dich? Dazu Menschen etwas sagen zu können, mit ihnen über ihre Glaubensfragen ins Gespräch zu kommen, das ist meiner Meinung nach die Grundlage – das Fundament, auf der wir mit Gott die Zukunft seiner Kirche aufbauen müssten – ganz im Sinne von dem, was Jesus Petrus sagt:  "Was sagst du, wer Jesus für dich ist?"

(5) Mit Petrus und den Konfis Zukunftskirche bauen

Petrus hatte seine Antwort gefunden: "Du bist der Christus, der lebendige Sohn Gottes!" Dieses Herzensbekenntnis zu Jesus war es letztendlich dann, das ihn in den Augen von Jesus ausgezeichnet hat, der Fels zu werden, auf dem Kirche gebaut wurde. Deshalb sagt er zu ihm: „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“ Jesus gibt Petrus die Schlüssel dafür, dass in seiner Kirche ein Stück Himmel auf Erden erlebbar wird. Aber wie sehen diese Schlüssel aus, mit denen wir in Gottes Sinn „Himmelskirche“ der Zukunft hier auf Erden bauen können?
Wir haben dazu unsere aktuellen Konfis befragt. Sie haben ihre „Himmelskirche“ der Zukunft bauen dürfen. Dazu mussten sie, wie im echten Leben „Ressourcen“ sammeln. Allerdings waren die bei uns so was wie „Zeit“, „Glaube“, „Liebe“ oder „Kreativität“. Alles hat wie beim „Siedler von Catan“ – Spiel etwas gekostet und insofern musste man sich entscheiden, in was man investieren wollte. Das war ein großer Spaß und es war viel geboten: 
Da lagen Spielplätze neben Friedhöfen. – Denn Kirche ist für Alle da! 
Einige haben freiwillig auf die Option eines Jugendraums verzichtet. – Denn im Gemeindehaus sind wir doch auch willkommen!
Tatsächlich war so gut wie bei jeder Kirchengemeinde relativ in der Mitte eine Kirche – Denn dort finden Menschen Gott.
Aber nicht in jeder Kirchengemeinde gab es Hauptamtliche. Manchmal reichten die Ressourcen nicht, dann musste man überlegen: Brauchen wir eine Pfarrperson oder eine Sekretärin? Und wie ist es mit der Jugendreferentin und dem Hausmeister? Auf Nachfrage, weshalb auf das Eine oder das Andere verzichtet wurde, antworten die Jugendlichen: Schön, wäre es schon. Aber dann hätten wir auf was anderes verzichten müssen, was uns wichtiger ist. Deswegen muss in unserer Gemeinde eben jeder mit anpacken, dann schaffen wir das schon. – Denn Kirche lebt von Menschen. 
In der Andacht am Nachmittag war dann die Schlussfrage: Und wie fühlt sich Gemeinde für Dich an? Diese letzte Runde war mein persönliches Highlight des Konfi-Tages. Denn egal wie unterschiedlich die „Himmelskirchen“ auf Erden am Vormittag gebaut wurden, hier bestand große Einigkeit: Gemeinde fühlt sich an wie Familie. Man ist sich nicht immer einig. Aber man kann dort sein, wie man ist. Und wenn es drauf ankommt, halten alle zusammen und helfen mit!

(6) Wir sind die Zukunft der Kirche

Liebe Mitbauende an der Zukunft der Kirche, was denken Sie? Wie sieht nun die Zukunft unserer Kirche aus? Ich denke, wir sind sie; wir alle zusammen – so wie wir hier sitzen. Wir sind die Zukunft der Kirche. Ob dann in jeder Gemeinde perspektivisch ein Hauptamtlicher arbeitet? Alle Gebäude erhalten werden können? Die Angebote alle immer direkt am Ort stattfinden werden?
Das wird von Gemeinde zu Gemeinde sicher kreativ und hoffentlich auch so engagiert gelöst werden, wie von unseren Konfis beim Spiel „Die Gemeinde von Catan“. Da wird ganz sicher auch vieles eine Frage der Abwägung.
Deswegen bin ich ehrlich: Ich weiß momentan nicht wirklich, wie die Kirche der Zukunft in den Strukturen konkret aussehen wird. Das macht Angst und ist anstrengend. Das wird uns alle zusammen noch viel Kraft kosten.
Aber! Und da bin ich mehr als sicher, wenn ich mich heute hier so umsehe. Unsere Kirche hat Zukunft – und zwar Dank uns allen eine gute, in der uns Gott immer wieder Schlüsselmomente schenkt, in denen sich Himmel und Erde berühren.
AMEN.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Romina Englert

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Wir feiern einen Gottesdienst im Grünen. Im Anschluss gibt es etwas zu Essen und zu Trinken. Es werden von Kindern Ehrenamtlicher bis hin zur Leitung des Seniorenkreises viele engagierte Menschen dabei sein. Es ist zu erwarten, dass vor allem Menschen den Weg in den Gottesdienst finden, denen die Zukunft von Kirche am Herzen liegt und für die solche Themen nicht neu sind. Außerdem werden die Konfis „ihre“ gebauten Gemeinden im Anschluss als Projekt vorstellen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt? 
Den Gedanken, dass Jesus seine Kirche explizit auf Menschen aufbaut, finde ich inspirierend – gerade im Zuge der vielen Strukturdiskussionen. Sie hat meinen Bick auf diese Prozesse bereichert. Außerdem ging mir der erste Teil der Predigtwortes nahe. Zuerst bekannte Petrus seinen Glauben, bevor er zum Fels der Gemeinde wurde. Zukunftsfähig Kirche Bauen geht nur aus gelebten Glauben heraus!

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Freude unserer Konfis daran, ihre Gemeinde zu bauen, wird mich weiterbegleiten. Genauso wie ihre guten Gedanken zu einzelnen strukturellen Aspekten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung? 
Diese Predigt wurde leider nicht gecoacht. Insofern konnte keine abschließende Bearbeitung stattfinden. 

Perikope
09.06.2025
16,13-19

Flucht nach vorne! Als Jesus nach Ägypten zog - Predigt zu Mt 2,12-15 von Fabian Vogt

Flucht nach vorne! Als Jesus nach Ägypten zog - Predigt zu Mt 2,12-15 von Fabian Vogt

Die Mitglieder der koptischen Kirche, also die Christinnen und Christen in Ägypten, lieben es zu feiern: Zum Beispiel, dass sie eine der ältesten Kirchen der Welt sind … dass sie vom Evangelisten Markus persönlich gegründet wurden … dass sie bis heute einen eigenen Papst haben … vor allem aber: Dass Jesus bei ihnen leibhaftig zu Besuch war. Was ja nicht viele Länder von sich sagen können. Ja, Jesus war in Ägypten. Seine einzige Fernreise. Und das wird in Ägypten groß gefeiert. 
Tatsächlich sind die Feste im Zusammenhang mit den „Reisen der Heiligen Familie“ – die am Nil übrigens mit den Muslimen zusammen gefeiert werden – so prägend für dieses Land und diese Kirche, dass sie 2022 von der UNESCO in die "Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit" aufgenommen wurden: "Die Feste zu den Reisen der Heiligen Familie"Verrückt, oder?
Dabei wissen wir: Die Reise Jesu nach Ägypten war weder ein Wochenendtrip noch eine Pauschalreise zum Schnorcheln in Hurghada. Das war eine Flucht. Maria und Josef fliehen mit ihrem Kind nach Ägypten, weil Jesus in seiner Heimat der Tod droht. Hören wir uns dazu noch mal den Text der biblischen Erzählung an:

Als die Weisen aus dem Morgenland wieder gegangen waren, erschien Josef im Traum ein Engel, der ihm sagte: „Steh auf! Nimm das Kind und seine Mutter und flieh mit ihnen nach Ägypten. Bleib‘ dort, bis ich dir etwas anderes sage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.“
Da stand Josef mitten in der Nacht auf und floh mit dem Kind und seiner Mutter nach Ägypten. Dort blieb er, bis Herodes gestorben war. Weil sich das erfüllen sollte, was Gott durch seinen Propheten verheißen hatte: „Ich habe meinen Sohn aus Ägypten gerufen.“  (Mt 2, 13-15)

Das Erstaunliche ist: Diese drei Bibelverse enthalten alle Elemente, die nach Artikel 16a des Grundgesetzes nötig sind, damit ein Mensch Asyl erhält: „Asylberechtigt und politisch verfolgt ist eine Person, die im Fall der Rückkehr in ihr Herkunftsland einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung ausgesetzt sein wird, ohne eine Fluchtalternative innerhalb ihres Herkunftslandes zu haben.“
Passt: Josef erfährt mitten in der Nacht, dass seinem Kind aus religiös-politischen Gründen die Ermordung droht, er bricht mit seiner Familie fluchtartig auf – und bleibt im Exil, bis die Gefahr in seinem Herkunftsland vorüber ist. Wobei klar ist: In Israel wäre Jesus vor den Soldaten des Königs Herodes nirgendwo sicher gewesen.
Interessant ist, wie diejenigen, die diese Geschichte später aufgeschrieben haben, sie deuten und in größere theologische Zusammenhänge einordnen. Ich zeige einfach mal drei Deutungsperspektiven, die uns helfen, tiefer in die Bedeutung dieser Ereignisse einzusteigen.

Die Flucht nach Ägypten ist ... eine Sternstunde der Geschichte

Klar. Ägypten ist ja nicht irgendein Land. Ägypten ist das Land des Exodus. Das Land, aus dem die Israeliten aus der Sklaverei geflohen sind. Sie erinnern sich: Mose zieht mit den versklavten Stämmen vom Nil durchs Rote Meer bis zum Sinai und später ins „Gelobte Land“, also nach Kanaan. Für jede Israelitin und jeden Israeliten ist Ägypten deshalb bis heute ein Symbol, ein Sinnbild für den Beginn eines Weges in die Freiheit. Das Beste, was dem Volk Israel je widerfahren ist: die Befreiung, die jedes Jahr im Pessach-Fest gefeiert wird. Das heißt: Jesus zieht genau den gleichen Weg später wieder. Mit ihm beginnt eine neue Freiheit. Deshalb gilt auch:

Die Flucht nach Ägypten ist ... eine Verheißung des Propheten

Wir haben das im Predigttext gehört: „Gott hat durch seinen Propheten verheißen: „Ich habe meinen Sohn aus Ägypten gerufen.“ Das ist ein Vers von Hosea, in dem es heißt: “Als Israel jung war, gewann ich es lieb, und aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ (Hos 11,1) Mit dem „Sohn Gottes“ ist also gar nicht Jesus gemeint, sondern das Volk Israel, dass für Gott wie ein Kind ist. Jetzt könnte man diese Übertragung auf Jesus eine kulturelle Aneignung nennen, für den Autor ist aber vor allem wichtig: Diese Reise ist kein Zufall, sie wurde vor Jahrhunderten angekündigt und zeigt, dass in Jesus die Geschichte Gottes mit seinem Volk weitergeht. Dann kommt:

Die Flucht nach Ägypten ist ... eine Heiligung des Geflüchteten

Das steht nicht direkt in den Versen unseres Textes, aber es gibt viele apokryphe Texte – Texte, die nicht in die Sammlung der biblischen Schriften aufgenommen wurden –, die davon erzählen. Nach dem „Pseudo-Matthäus-Evangelium“ hat Jesus in Ägypten schon als Kleinkind Wunder vollbracht, Drachen sind vor ihm niedergefallen und eine Dattelpalme hat sich vor Maria verneigt. Nach dem „Arabischen Kindheitsevangelium“ wankte nicht nur die Erde, als Jesus kam, es stürzten auch ägyptische Götterbilder ein. Und vieles mehr. Liest sich sehr unterhaltsam. Gemeint ist aber: Schon auf dieser Reise zeigt sich, dass Jesus Gottes Sohn ist und Heil bringt.
Stellen wir uns doch mal einen Moment vor, Jesus hätte heute gelebt. Auch dann hätte gegolten, was „united4rescue“, das Bündnis für zivile Seenotrettung, sagt: Es „ist ein Gebot christlicher Nächstenliebe, Menschen, die aus ihren Heimatländern vor Krieg und Elend fliehen, zu helfen und Menschenleben zu retten.“ Das ist es. 
Und jetzt stellen wir uns vor, an der ägyptischen Grenze oder bei der Bootsfahrt entlang der Mittelmeerküste wäre das passiert, was heute vielen Geflüchteten passiert … und nach dem Willen vieler migrationsfeindlicher Parteien bald Standard sein soll: Jesus wäre an der Grenze abgewiesen worden. Die Soldaten von Herodes wären per Handy über den Flüchtling informiert worden – sie hätten den Säugling erwischt und exekutiert. Ja, das ist ein Gedankenspiel. Aber eines mit Folgen. 
Wäre das passiert, dann hätte es womöglich nie ein Christentum gegeben. Diese historische Spekulation klingt vielleicht übertrieben, aber mit jeder und jedem Geflüchteten, die oder der zurück in den sicheren Tod geschickt wird, endet eine Geschichte, ein Leben, eine Zukunft. Und das gilt auch für diejenigen, die beim Versuch, über das Mittelmeer zu kommen, ertrinken. Es klingt immer so anonym, wenn es wieder heißt: „Es sind 120 Menschen ertrunken.“ Aber das ist keine anonyme Masse, das sind von Gott geliebte Individuen, und für sie – wie auch für uns – gilt genau das, was die Erzähler der Jesusgeschichte in dieser Flucht nach Ägypten gesehen haben: Auch wir sind eine Sternstunde der Geschichte, eine Verheißung des Propheten, eine Heilung des Geflüchteten. Was meine ich damit?
Wir können uns darüber echauffieren, dass der Autor die Fluchtgeschichte Jesu theologisch überhöht hat – wir können aber auch sagen: Darin stecken geistliche Kerngedanken, die das Wesen des christlichen Glaubens auf faszinierende Weise auf den Punkt bringen. Schauen wir uns das mal genauer an.

Jede und jeder ist ... eine Sternstunde der Geschichte

Im ersten Petrusbrief steht der schöne Satz: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk des Eigentums, damit ihr die Tugenden dessen verkündet, der euch aus der Finsternis berufen hat zu seinem wunderbaren Licht.“ (1. Petr 2,9) Nicht nur das Leben Jesu ist eine Sternstunde. Für Gott ist das Leben jeder und jedes einzelnen eine Sternstunde. Darum hören wir von ihm immer wieder: „Ich bin mit dir, weil du in meinen Augen unschätzbar und wertvoll bist.“ (Jes 43,4) Und wenn die Flucht Jesu mit dem Weg der Israeliten in die Freiheit in Verbindung gebracht wird, dann gilt für uns die Zusage: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“ (Gal 5,1) Wir alle befinden uns auf dem Weg in die Freiheit und erleben den Exodus in unserem Alltag immer wieder neu. Hoffentlich!

Jede und jeder ist ... eine Verheißung des Propheten

Dem Autor der Fluchtgeschichte Jesu ist es ganz wichtig, darauf hinzuweisen, dass schon die Propheten diesen Weg vorhergesehen haben. Aber wenn die Prophezeiung ursprünglich dem Gottes Volk gilt, dann gilt sie doch für uns genauso. Und nicht nur das: Jesus sagt sehr deutlich: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe.“ (Jo 15,16) Sprich: Für uns alle gibt es eine Verheißung. Gott schreibt Geschichte mit jeder und jedem von uns. Und jede und jeder ist berufen, ein Leben zu führen, dass aus Unfreiheiten Freiheiten und aus Wüsten Gärten macht.

Jede und jeder ist ... eine Heiligung des Geflüchteten

Wir haben gesehen, wie wichtig es den apokryphen Evangelien ist, von den Wundertaten Jesu in Ägypten zu erzählen, also davon, dass die Anwesenheit Jesu heilsame Konsequenzen für die Menschen um ihn herum hat. Selbst als er noch ein kleines Kind ist. Die Botschaft dahinter lautet: Da, wo der Geist Gottes wirkt, passiert Heilung. Heilsames! Und auch das ist ein Gedanke, der durch Jesus später auf alle Menschen ausgeweitet wird. Wir alle sind eingeladen und aufgefordert, dieses heilbringende Tun fortzusetzen. Deshalb sagt Jesus ja: „Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebt es auch.“ (Mt 10,8) 
Wenn es aber stimmt, dass wir in der Fluchtgeschichte Jesu derart grundlegende Ideale des Glaubens finden – und zugleich deutlich wird, dass die erwähnten Verheißungen ausnahmslos jedem Menschen gelten, dann können wir gar nicht anders, als in jedem Geflüchteten einen Menschen zu sehen, auf dem Gottes Verheißung ruht. Oder aber, wie es der Bibeltext nahelegt: in jedem Menschen Jesus zu sehen. Und das heißt: in jedem Menschen Gott zu sehen. Wir sollten Gott nicht ertrinken lassen. 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen. 

Man muss der Sache nachgehen - Predigt zu Mt 2,1-12 von Henning Kiene

Man muss der Sache nachgehen - Predigt zu Mt 2,1-12 von Henning Kiene
2,1-12

I. Der Sache muss man nachgehen
„Der Sache muss man nachgehen“, denkt er. Er sieht einen namenlosen Stern, extrem hell und bisher von niemandem beschrieben. Ach, hätten er oder diese Leute, Kolleginnen und Kollegen, diesen Stern doch schon erkundet, er könnte gemütlich im Morgenland bleiben, seinen Cappuccino trinken, in der Küche für alle kochen, in Ruhe würde er die Ergebnisse der Bundesliga studieren und – zum Spaß – das Horoskop in der Zeitung lesen. So hatte er den Januar immer begonnen, lässig in das neue Jahr hineingleiten, er hatte sich mit anderen Leuten getroffen, den Weihnachtsbaum angesehen und die Krippenfiguren Tag für Tag dichter an die Krippe herangeschoben. Überhaupt nicht vergessen, heute müssten die drei Könige am Stall ankommen. 
Dass die Weisen aus dem Morgenland aufbrechen, bleibt bis heute bemerkenswert. Es wäre einfacher nicht aufzubrechen. Wie jetzt. Aber: Jetzt ist Wahlkampf, man muss sich in Bewegung setzen, die Demokratie vor Verdruss und Stillstand schützen. Der Sache, den Menschen nachgehen, auf den Marktplätzen, an den Haustüren, rund um die Küchentische braucht es weise Menschen, die der Sache auf den Grund gehen wollen. 
Was die Weisen später wohl erzählen werden? Von den Menschen, denen sie begegnet sind, von Herodes, dem Hofstaat des Herrschers, von den Leuten auf dem Marktplatz, von diesem geheimnisvollen Haus in Bethlehem, Maria und Joseph. Sie folgen dem Stern und auf der Erde öffnet sich ihnen ein neuer Kosmos. 

II. Sternenhimmel 
Es gibt glasklare Winternächte, in denen kein Licht stört und der Himmel sich weit ausspannt, die Sterne rauben einem den Atem, glitzern, blinken unendlich fern und sind zum Greifen nah. Die Finger Gottes lassen sich ahnen, sie rücken am Himmel alles sorgfältig zu fast ewiger Ordnung zurecht. Denn Gott setzt die Lichter „an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis.“ (1. Mose 1,17) „Der Sache muss man nachgehen“, denkt der weise Mensch, lässt den Cappuccino stehen und die Zeitung liegen, geht vor die Tür, folgt dem Stern auf dessen fremder Bahn. Dass da andere auch aufbrechen? Es wundert ihn nicht. Weisheit sucht Gesellschaft. In so einer glasklaren Nacht beginnt das neue Jahr. Da ist ein Plan, die Weisen wollen ihn lesen, alle anderen möchten staunen, sagen und schwärmen: „Oh! Wie schön.“ 
Was die Weisen später wohl erzählen werden? Von dem Stern, dessen fernes Licht dem Kind in der Krippe gilt? In ihm sahen sie den ganzen Kosmos und erkannten hier die Spur eines Sinnes, den alles im Leben in sich trägt. Dass der Stern aus dem fernen Kosmos auf dieses Haus weist, Maria, Joseph, das Kind in der Krippe meint, werden sie immer wieder erzählen und sagen, dass das Ferne und das Unbekannte sich enthüllt, im Naheliegenden entfaltet. Man erforscht die Ewigkeit und landet bei Jesus und dessen Leben. 
„Der Sache muss man nachgehen“, die Weisen aus dem Morgenland sind keine Couchpotatos, im Gegenteil, sie fragen sich über den Marktplatz zum Königspalast durch. Weil sie nicht sitzen bleiben, werden die Weisen berühmt, weil sie das Haupttor finden, an dem die Kamera der Sprechanlage sie anstarrt, der Türöffner summt, treten sie ein. Hände suchen sie ab nach Waffen, ein Hund schnüffelt herum. Hartnäckigkeit ist ein anderes Wort für die Weisheit. 
König Herodes empfängt sie und in Herodes' königlichem Glanz wirken sie nun so, als wären auch sie selbst Könige. Weisheit verleiht einem Menschen königliche Würde.

III. Unter verhängtem Himmel
Jeder Schritt hallt hart durch die langen Palastfluren. Stiefel dröhnen, der Sand unter ihren Sandalen knirscht. Hohe Wände werfen das Echo hin und her. Höflinge eilen, Frauen mit wichtigen Minen, Männer tragen Tabletts mit Tee und Feigen. Er holt tief Luft, sieht nach oben, vor ihm der König, hoch auf einem Thron, er fragt leise: „Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen.“ Seine Kolleginnen und Kollegen nicken zur Unterstützung. Weisheit ist ein anderes Wort für Mut. Die Worte hallen, das Echo hängt in allen Ecken, die Minen des Königs versteinert, die Lippen presst er fahl zusammen. Er flüstert laut: „Geht der Sache bitte gründlich nach und wenn ihr’s findet, so sagt mir’s wieder, dass auch ich komme und es anbete.“ Und die Wände wispern weiter: „Anbete, anbete, anbete“. Bevor das letzte Wort verklungen ist, führt man sie wieder durch lange Flure, Bürotüren klappen, eiliges Treiben von Schreibtisch zu Schreibtisch. Am Ausgang sagt einer der Männer: „Ihr habt ihn doch richtig verstanden, den König? Er will anbeten.“ Seine Stimme zischelt und dann fällt die Tür hinter ihnen ins Schloss, verriegelt sich selbst mit leisem Summen. 
Was die Weisen später wohl erzählen werden? Von diesem Saal, den Frauen und Männern, von all den Menschen, deren Rücken krumm ist vom Dienen, deren Stimmen heiser geworden sind von all dem Flüstern. Ohne den Himmel vertrocknet die Weisheit, wird zur Zimmerlinde. Eigentlich haben sie Mitleid mit Herodes, aber dann doch nicht. 
„Cringe“, sagt einer der weisen Menschen. Das ist der Kontrast: Er, die anderen weisen Frauen und Männer, gehen der Sache nach, wollen dem Ganzen auf den Grund gehen, nur der König macht es sich bequem, rührt in seinem Cappuccino, liest das erste Horoskop des Jahres. Sie forschen und er, der König, lässt forschen. Wie so häufig: Wer sitzen bleibt, sich an der Tageszeitung, seinen Posten, den alten Positionen, am Gestern festhält, verpasst den Stern, der ihm aufgeht. „Er will anbeten“, ahmen die Weisen die Stimme des Höflings nach, sie lachen, wispern wie das Echo: „Anbeten, anbeten, anbeten. Das könnte dem so passen!“ Sie sind Weise und für weise Menschen wird es zum Glücksfall, dem Stern folgen zu können. Der König sitzt in seinem Palast, die Weisen haben keinen Palast, nur den offenen Himmel: „Und siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, ging vor ihnen her.“ 

IV. Ankunft 
„Der Sache muss man nachgehen“, das beginnt heute, wenn Dreikönigstag ist und die Weisen aus dem Morgenland dem Stern folgen. Vielleicht sollte man häufiger unter dem Nachthimmel einer Sache nachgehen. 
Diese Weisen sind Prototypen für den Januar 2025. In dieses Jahr kann man sich nicht gemütlich einschleichen. Das Jahr 2025 hat heftig begonnen. Es wäre bequemer, wenn man den Cappuccino gemütlich zu Ende trinken würde und die Krippenfiguren an der Krippe endlich zum letzten, vollkommenen Bild, zusammenstellt: Hirten, Könige, Schafe um Krippe, Maria und Joseph herum gruppiert, die sind nun endlich vereint und man kann sich freuen, dass die Kerzen leuchten. All diese vertraut schönen Tage ließen sich noch eine Weile festhalten. Stattdessen geht es los mit den Wahlen und alle Sorgen um Frieden und den Zusammenhalt brauchen Menschen, die ihrer Sache nachgehen. 
Was die Weisen später wohl erzählen werden? Vom Hall der hohen Flure, dem Flüstern der Höflinge, von dieser Angst, die in diesem Palast wohnt und dem Zischeln der menschlichen Stimmen. Der Sache wollen sie nachgehen, nur der Palast war ein Irrweg. Sie landen im Wahlkampf auf dem Marktplatz, sehen all die Menschen, die für die Freiheit kämpfen, sie ahnen im Trubel auf der Straße ihr Ziel. 
Der Stern hält seine Bahn. Sie erreichen das Haus, müssen – damit sie sich die Köpfe nicht stoßen – sich in der Tür bücken. Da sehen sie das Kindlein mit Maria, seiner Mutter. Kein Licht stört den klaren Blick, atemlos staunen sie über den Himmel, der auf der Erde aufreißt. „Dem muss man auf den Grund gehen“, sagt der Weise und weiß den Grund: Der Stern dreht den Himmel auf die Erde um. Das ist der Grund, aus dem man diesem Stern folgt, er weist auf den Himmel hin, der hier in einem Haus geboren ist. Weisheit führt in die Nähe. 
„Man muss der Sache nachgehen“, als der heimkommt, legt er die Figuren der Krippe sorgsam in den Karton, der Cappuccino duftet nach dunklem Kaffee, er hat sie vor Augen, die ungezählten weisen Männer und Frauen, die mit ihm unterwegs sind, den König, der selbst Kinderkrankenhäuser beschießen lässt und dieses Haus in Bethlehem, diesen neu geborenen König, schutzlos der Zukunft ausgesetzt. Die Tür stand offen, hinter ihnen blieb sie einen Spalt weit offen und als er sich noch einmal umdrehte, sah er einen Streifen Licht, das den Abend zerschnitt, und konnte das Licht des Sternes von dem Lichtstreifen, der aus der Krippe fiel, nicht mehr unterscheiden. 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Weihnachtsgemeinde trifft sich zum letzten Mal und erwartet die „andere“ Weihnachtsgeschichte aus dem Matthäusevangelium. In einer vom Tourismus geprägten Region herrscht jetzt Aufbruchsstimmung. Letzter Ferien-/Urlaubstag und mit dem Gottesdienst auch der Start in den Alltag. Für die einheimische Gemeinde beginnen die Vorbereitungen auf den Alltag im Winter. Es sind Perspektiven gefragt für lange, dunkle Wochen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke, dass die Weisen eigentlich Abenteurer:innen sind und Weisheit ein Wagnis ist. 

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In den letzten Tagen gab es unglaublich schöne Wintersternenhimmel. Dass man so tief in einen der Schöpfungstage hineinsehen kann, macht mir Respekt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider hatte sich niemand als Coach:in gefunden. Das ist bedauerlich, weil genau das Coaching den Reiz der Mitarbeit ausmacht. 

Perikope
06.01.2025
2,1-12

Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit - Predigt zu Mt 2,13-18(19-23) von Anne-Kathrin Kruse

Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter mit - Predigt zu Mt 2,13-18(19-23) von Anne-Kathrin Kruse
2,13-18(19-23)

Ein Kind auf der Flucht

Wenn ein Kind auf die Welt kommt,
ist nichts, wie es vorher einmal war.
Alles dreht sich um dieses zarte und verletzliche Wesen,
dem die Herzen zufliegen.
Zugleich fordert es völlige Aufmerksamkeit,
Tag und Nacht, besonders von der Mutter.
Wenn es noch nicht richtig trinkt,
wenn es schreit und nicht in den Schlaf findet.
Mit einem Kind kommt eine bis dahin nicht gekannte Sorge 
auf die Welt, die das eigene Leben für immer verändert.
Das Kind, das Kostbarste, was du hast, nimmst du überall mit hin.
 

So wird es Maria gegangen sein.
In diesem Stall – oder wahrscheinlich eher einer Höhle –, 
wo das Vieh bei schlechtem Wetter Schutz sucht,
mit dem Futtertrog, in dem ihr Baby sicher ist.
Aber schon am Morgen nach der Geburt,
als sich die Engel längst wieder in den Himmel verzogen haben
und es mit dem Stillen noch nicht klappt
und die notdürftigen Windeln mittlerweile nass und schmutzig sind,
da mischt sich Sorge in die Freude über das Kind.
Was wird mit ihm?
Milch braucht es und ein warmes Lager.
Und Sicherheit.
Hier können wir nicht bleiben!
Aber wo sollen wir hin?
Wer nimmt uns auf?

Der alte König und das Kind

Manchmal wiederholen sich die Geschichten und die Geschichte.
Und leider vor allem die schrecklichen.
Einst war es der selbstherrliche Pharao von Ägypten, 
ein Potentat, wie wir sie heute auch kennen:
geschichtsvergessen klammert er sich an seine Macht, 
kappt gute Beziehungen und führt sein Land in die Isolation.
Zugleich stachelt er seine Bevölkerung auf:
„Die Hebräer bekommen mehr Kinder als wir Ägypter, 
wir müssen was dagegen tun.“
Kommt Ihnen das alles bekannt vor? 
So zwingen die Ägypter die Israeliten zu harter Sklavenarbeit
und machen ihnen das Leben zur Qual.
Die haben nur eine Chance: die Flucht.
Im Schutze der Nacht machen sie sich auf den Weg 
und fliehen aus Ägypten in die Wüste.

Noch panischer muss König Herodes zurzeit Jesu 
um seinen Machterhalt bangen.
Ein alt gewordener Autokrat, 
für seine Grausamkeit gefürchtet und verhasst.
Alles hofft auf sein Ende.
Und dann klopft ihm auch noch das Leben auf die Schulter und fragt:
Ach übrigens, wo ist der neugeborene König, 
dem die Herzen schon jetzt zufliegen?
Da, ganz tief unten, beim Kleinvieh, ohne Obdach, 
verletzlich und schutzlos,
aber eben ein echter Nachkomme Davids, 
ein gerechter Friedefürst,
geschützt nicht mit Waffengewalt, sondern von Gott.

Wo ein machtgieriger Herrscher Angst bekommt 
vor seinem eigenen Volk, 
da beginnt er, unmenschlich zu handeln.
Einst der Pharao, König Herodes zurzeit Jesu.
Alle neugeborenen jüdischen Jungen sollten ermordet werden,
um sicher zu gehen, 
dass niemand ihm die Herrschaft streitig machen konnte.
Auch wenn der „Kindermord von Bethlehem“ 
eine Legende sein sollte: 
es ist unsere Welt, es sind unsere Erfahrungen, 
die hier erschreckend aktuell erzählt werden.

Nimm das Kind mit

Manchmal wiederholen sich die Geschichten und die Geschichte.
So wie Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verschleppt wurde,
ein Träumer war,
so träumt Josef, der Adoptivvater Jesu, allein in unserer Geschichte dreimal.
Und er träumt nicht nur, er nimmt seine Träume ernst.
Jedesmal steht er auf, kehrt um, geht einen neuen, ungewohnten Weg, 
den Gott ihm gewiesen hat.

Angesichts des Grauens im Nahen Osten droht es, 
uns abhanden zu kommen: das Vertrauen in Gott.
Hier in unserer Geschichte ist er nah, sorgt sich, 
kümmert sich, fühlt mit, tröstet, lässt aufatmen.
Josef und Maria nehmen ihr Kind und bringen es 
auf ihrer überstürzten Flucht nach Ägypten – ausgerechnet.
Dahin, wo die Geschichte Gottes mit seinen Menschen ihren Anfang nahm, 
die Geschichte von der Rettung 
und dem Überleben des jüdischen Volkes. 
Aus diesem Volk kommt das Kind, das sie dabeihaben:
Jesus, ein kleiner jüdischer Junge.

Kinder Gottes werden

Ich glaube, deshalb ist das Wort Gottes 
in einem jüdischen Jungen erneut zur Welt gekommen:
Gott hat sich damals ganz bewusst diesen jüdischen Jungen ausgesucht, 
um uns zu befreien aus aller Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit.
Aus dem „Selber-Schuld“ und „Geht mich doch nichts an“, 
dem „bringt ja sowieso nichts“, 
aus dem Abschieben aller Verantwortung auf „die da oben“. 
Einfache Antworten auf vielschichtige Probleme sind immer falsch. 

Ein Kind weckt Hoffnung auf Zukunft.
Öffnet geschlossene Türen.
Belebt die Sehnsucht, so zu werden, 
wie Gott mich ursprünglich gemeint hat.
Du bist mein liebes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe.
Damit wir wie Kinder werden, 
denen das Weinen in der Welt in der Seele weh tut.

Träume ernstnehmen. Aufstehen,
das Kind und seine Mutter mitnehmen – so wie Josef.
Uns verletzlich machen, uns anrühren lassen von dem Elend 
und mittrauern um die Opfer auf beiden Seiten. 
Denen widerstehen, die an Gewalt glauben, 
an das „Alles gehört uns“, 
und jeweils anderen damit das Lebensrecht absprechen. 
Runter vom Sofa und eintreten für die, 
die bei uns wieder bedroht werden, weil sie Juden sind.
Ob wir nun eine Mutter oder ein Vater sind oder auch nicht.

Einer der bekanntesten Sätze im jüdischen Talmud lautet:
„Wer nur einen einzigen Menschen sterben lässt, der lässt eine ganze Welt sterben.“
Was bedeutet das?
Jeder Mensch ist von Gott geschaffen 
und damit so unendlich wertvoll wie die ganze Welt.
Stirbt er, so sterben mit ihm alle Kinder und Kindeskinder, 
die durch seinen Tod nicht mehr das Licht der Welt erblicken konnten.
Umgekehrt: „Wer nur einen einzigen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“
Das bedeutet: All seine Kinder und Kindeskinder sind mit ihm gerettet, 
weil sie durch sein Leben ins Leben kamen.
Deshalb sind wir Menschen Gott so unendlich wertvoll, so unersetzlich – 
jede und jeder Einzelne von uns.

Anspruchsvoll ist diese Vorstellung. 
Das Kind in der Krippe ist klein, 
aber herausfordernd und anspruchsvoll, wie Kinder eben sind.

Dem jüdischen Kind Jesus haben wir es zu verdanken, 
dass auch wir uns Gottes Kinder nennen dürfen – 
erwachsene Kinder, die zu Gott gehören, 
und ohne die Gott nicht sein will. 
Das ist die große Verheißung zum Christfest.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anne-Kathrin Kruse

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist der letzte Gottesdienst, den ich im Rahmen einer dreimonatigen Gottesdienstvertretung für eine Kollegin im Studienurlaub in einer Innenstadtgemeinde Berlins halten werde. Die Gemeinde hat einen starken Akademiker-Anteil. Vermutlich wird sich eine kleine ältere Gottesdienstgemeinde an diesem Sonntag zwischen den Feiertagen zusammenfinden ohne familiäre Anbindung bzw. Verpflichtungen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich die frische Erfahrung, einen lang ersehnten Enkel zu bekommen mit all der Freude, aber auch der Sorge, in welche Welt er hineinwachsen wird. Spannend war für mich erneut das tiefe Eintauchen in die reichen alttestamentlichen Bezüge zu den Josefsgeschichten (vgl. J. Ebach, Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Gen 37-50 und Mt 1-2) 

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Eine Herausforderung ist eine Predigt vom Kind jenseits der Gefahr, die Botschaft des biblischen Textes zu verharmlosen oder zu infantilisieren bzw. getriggerte Gefühle für Kinder als Predigtzweck zu missbrauchen. Und das alles angesichts der Schreckensbilder vom Vernichtungsschlag der Hamas am 7. Oktober und dem darauffolgenden Gaza-Krieg. Wichtig ist mir: Mt 2 zeigt nicht das Überleben Jesu auf Kosten anderer Kinder, vielmehr wie bedroht sein Leben als Teil des jüdischen Volkes von Anfang an war. Was bedeutet heute Mitgefühl, Fürsorge, „Compassion“ (J.Ebach, in: Lesen und Verstehen, 2022) angesichts unserer Dickfelligkeit gegenüber dem Leiden?

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mit seiner präzisen Wahrnehmung hat mich mein Coach punktgenau auf Unebenheiten in den verschiedenen Zeitbezügen und auch auf mögliche Projektionen aufmerksam gemacht. Er hat mich ermutigt, auf ein allzu flottes Abhandeln der Theodizeefrage zu verzichten, dafür aber eigene Positionen nicht selbst zu relativieren.  Herzlichen Dank dafür! Wertvolle Anregungen verdanke ich auch Kathrin Oxen. Auch dafür vielen Dank!

Perikope
29.12.2024
2,13-18(19-23)

Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft - Predigt zu Mt 21,1-11 von Barbara Bockentin

Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft - Predigt zu Mt 21,1-11 von Barbara Bockentin
21,1-11

Kurz vor Jerusalem kamen Jesus und seine Jünger nach Betfage am Ölberg. Da schickte Jesus zwei seiner Jünger voraus und sagte zu ihnen: »Geht in das Dorf, das vor euch liegt. Dort findet ihr gleich eine Eselin angebunden, zusammen mit ihrem Jungen. Bindet sie los und bringt sie mir. Und wenn euch jemand fragt: ›Was soll das?‹, dann sagt: ›Der Herr braucht sie.‹ Dann wird er sie euch sofort geben.«
So ging in Erfüllung, was Gott durch den Propheten gesagt hat: »Sagt zu der Tochter Zion:
›Sieh doch: Dein König kommt zu dir! Er ist freundlich und reitet auf einem Esel, einem jungen Esel – geboren von einer Eselin.‹«
Die Jünger gingen los und machten alles genau so, wie Jesus es ihnen aufgetragen hatte.
Sie brachten die Eselin und ihr Junges herbei und legten ihre Mäntel über sie. Jesus setzte sich darauf. Die große Volksmenge breitete ihre Mäntel auf der Straße aus. Andere schnitten Palmzweige von den Bäumen ab und legten sie ebenfalls auf die Straße.
Die Volksmenge, die vor Jesus herging und ihm folgte, rief unablässig: »Hosianna dem Sohn Davids! Gesegnet sei, wer im Namen des Herrn kommt! Hosianna in himmlischer Höhe!«
So zog Jesus in Jerusalem ein. Die ganze Stadt geriet in Aufregung. Die Leute fragten sich: »Wer ist er nur?« Die Volksmenge sagte: »Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.«   (als Evangeliumstext lesen)

Vergangenheit – Gegenwart - Zukunft

Alles gleichzeitig
Ganz schwindelig konnte einem werden, dachte sie. Alles trifft in einem einzigen Moment aufeinander: Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft. Mit voller Wucht. Ob andere das auch so spürten wie sie? Unauffällig sah sie sich um. Um sich herum aufgerissene Münder. Gedränge. Hände, die hin und her schwangen. Manche rissen sich ihre Kleider vom Leib und warfen sie über die Menge hinweg. Solch eine Ekstase. Sie konnte gar nicht anders, sie musste einfach mitmachen.

Zurücklassen
Ruhig schaute er sich um. Sie standen am Kai. Viele hielten krampfhaft ihre Habseligkeiten fest. Schließlich waren sie eindringlich vor Halunken gewarnt worden. So behielt er fest im Blick, was ihm gehörte. Viel war es nicht. Neben seinen wenigen Kleidungsstücken hatte er nur ein, zwei andere Dinge eingepackt. Für andere sicherlich wertlos. Doch sein Herz hing daran. Sie sollten ihn daran erinnern, woher er kam. Was auf ihn wartete, davon hatte er nur ungenaue Vorstellungen. Ihn trieb die blanke Not von hier fort. Dort wollte er neu anfangen. Vielleicht schaffte er es sogar und konnte den Eltern Geld schicken. Sie vielleicht sogar nachholen. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, damals Anfang des 20. Jahrhunderts auf einem Kai in Bremerhaven, dem größten Auswanderungshafen Europas.

Erwartungen
Die anderen rissen sie mit. Trieben sie voran. Schließlich stimmte auch sie in den Ruf ein. Skandierte immer wieder dieselben Worte: »Hosianna dem Sohn Davids! Gesegnet sei, wer im Namen des Herrn kommt! Hosianna in himmlischer Höhe!«
Der, dem diese Worte galten, schien sie gar nicht zu hören. Worte, die ihm galten und einen weiten Bogen spannten. Zurück in die Vergangenheit. Glorreich. Selbstbestimmt. So war es einst in diesem Land. Sich weit nach vorn in die Zukunft streckend. So könnte es wieder werden – mit ihm. Hilf doch! Rette uns! Daneben andere Worte, nicht ganz so enthusiastisch: »Das ist Jesus, der Prophet aus Nazareth in Galiläa.« Fast nüchtern klingend. Auch sie knüpfen an alte Erfahrungen und Sehnsuchtsbilder an. Wünsche, Erwartungen, dass die Zukunft anders, besser werden würde – sind in diesem einen Moment hörbar, sichtbar, zum Greifen nah.

Zukunft?
Er, der mitten in dem Geschehen war, kennt sich aus. Mit den heiligen Schriften. Mit den Erwartungen, die er durch sein Tun, durch sein Reden, durch sein Leben, weckt. Vor allem aber mit Gottes Willen. Damit, dass Gottes Reich schon jetzt angefangen hat. Das es nicht erst Zukunft ist, sondern Gegenwart. Er weiß darum, dass das auf bestehende Sehnsucht trifft. Bei anderen Widerstand hervorruft. Zumindest ahnt er, dass seine Zukunft eine andere sein wird, als die, die die skandierende Menge erwartet. Er wird alles dafür geben, dass Gottes Wille geschehen wird. So nachher im Tempel, als er voller Zorn die Tische umreißt. So, als er sich festnehmen, foltern und töten lässt.

Ankunft
Als er nach mehrwöchiger Schifffahrt endlich in Ellis Island ankommt, ist er noch lange nicht am Ziel. Hier wartet niemand auf ihn. Im Gegenteil. Viele haben Angst, dass die Neuankömmlinge ihnen streitig machen, was sie sich selbst mühsam erwirtschaftet haben. Er schafft es. Richtet sich ein in das neue Leben. Die Erinnerungen an das alte sind stets präsent. Er verknüpft sie miteinander. Lässt daraus neue Zukunftsträume wachsen.

Advent heute
Wir feiern Advent. Jedes Jahr aufs Neue stimmen wir uns darauf ein, dass Gott für uns als Mensch greifbar wird. Wir erinnern uns an Erzählungen über diesen Gott, der da kommt. Wir erinnern uns an die Erfahrungen, die Menschen bereits mit ihm gemacht haben. An solche vor langer Zeit und an aktuelle. Jedes Jahr wieder räumen wir uns aufs Neue die Möglichkeit ein, dass Gott seine Geschichte in unser Herz schreibt. Wir freuen uns auf das, was da kommen wird. Wir hoffen darauf, dass es uns verändern wird. Wir träumen, dass die Zukunft mit seiner Hilfe licht wird. 
Jeder Advent ist ein Aufbruch. Skeptisch begleitet von den einen. Sehnsüchtig erwartet von den anderen. Dabei nehmen wir mit, wovon wir gelesen, gehört und gebetet haben. Sehen die Welt, wie sie jetzt ist. Und hoffen, dass die Veränderung mit und in uns beginnt.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Barbara Bockentin

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an diejenigen, für die die Adventszeit mehr ist als Glühwein und Weihnachtsmärkte.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich glaube, Karl Rahner hat gesagt, dass Advent nicht nur Ankunft, sondern auch Zukunft ist. Ich habe versucht, dem nachzuspüren, was das bedeuten mag. Denn die Zukunft endet ja nicht an Heilig Abend.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie sich in diesem Predigttext drei Zeitebenen treffen, auf die jede:r im Leben stößt und vielleicht als unwichtig abtut.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Unterstützung, die ich bei meiner Kollegin  durch ihre positive Resonanz fand, hat es mir leicht gemacht, zu verstehen, wo eine Überarbeitung für mein Anliegen hilfreich ist. So konnte ich zu einem Schluss kommen und deutlich machen, worum es mir geht.
Dafür bin ich sehr dankbar.

Perikope
01.12.2024
21,1-11

Weil Gott so anders ist, verändert er auch mich - Predigt zu Mt 5,38-48 von Andreas Schwarz

Weil Gott so anders ist, verändert er auch mich - Predigt zu Mt 5,38-48 von Andreas Schwarz
5,38-48

Gott ist anders. Wer an ihn glaubt, der wird diese Erfahrung sein Leben lang machen. Gott ist anders als wir Menschen; er ist auch anders, als wir Menschen denken.
Jesus Christus ist auf die Erde gekommen, um von Gott zu erzählen, um uns Gott nahezubringen. Vielleicht sogar, ihn uns zu erklären, damit wir besser verstehen, wie Gott mit uns umgeht und was er von uns will.
An ihn zu glauben, bedeutet ja auch, ihn wichtig, ihn ernst zu nehmen, auf ihn zu hören und seine Worte beherzigen zu wollen. Das ist nur oft genug leichter gesagt als getan. Manchmal verstehen wir seine Worte falsch oder einfach unterschiedlich. Und ein anderes Mal möchten wir gerne nach seinen Worten handeln, schaffen es aber nicht. Es fällt uns schwer, es ist gegen unsere Natur, es überfordert uns.
Jesus erzählt von Verhaltensweisen mitten aus dem normalen und alltäglichen Leben. Es klingt sehr einfach und für viele auch einleuchtend. Aber kann ich das wirklich?
Wie gehen wir Menschen miteinander um? Gibt es Verhaltensweisen, die für Christen anders sind als für Menschen, die nicht an Christus glauben? Jesus redet zu Menschen aus dem Volk Israel, die mit den Geboten Gottes und ihren Erläuterungen aufgewachsen sind. Das kannten sie und das war ihnen wichtig.

Auge um Auge, Zahn um Zahn heißt es da. Und gemeint ist das Unrecht, das ich erlitten habe und wie ich vergelten darf oder soll. In der öffentlichen Wahrnehmung wird gerade dieser Satz immer gern gegen das Alte, das 1. Testament verwendet, es sei hart und gewaltbereit, als wäre dieser Satz eine Einladung für körperliche Auseinandersetzung. Dabei ist sehr deutlich eine Begrenzung der Vergeltung gemeint. Du sollst niemandem mehr antun, als er/sie dir angetan hat. Wenn Du eine Wunde erhalten hast, füge nicht mehr als eine zu, eine Beule gegen eine Beule – und eben ein Auge und einen Zahn.
Ein klares Wort gegen die Eskalation, in der sich die Gewalt immer weiter hochschaukelt. Als läge das in unserer menschlichen Natur, schon Kinder neigen dazu, erlittenes Leid mehrfach zurückzuzahlen. Einmal geschubst haben, dann fünf Fausthiebe zur Folge. Wenn sie älter geworden sind, kommen vielleicht Waffen dazu oder man holt seine Brüder und Cousins und schon entsteht aus geringem Anlass eine große Sache voller Gewalt.

Wie hilfreich wäre schon in der Hinsicht des göttlichen Gebots die klare Begrenzung der Vergeltung. Es ginge auf dieser Erde besser zu, als es ist. Ohne die politische Problematik zu lösen, aber nach dem terroristischen Attentat der Hamas auf israelische Bürger, bei dem mehr als 1000 Menschen ihr Leben verloren, war die Rache zahlenmäßig unverhältnismäßig, inzwischen müssten es weit mehr als 30.000 getötete PalästinenserInnen sein. Da greift das göttliche Gebot ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ offenbar nicht.

Jesus lenkt den Blick in eine ganz neue Richtung, die menschlichen Rachegefühlen völlig widerspricht. Er ermutigt, ganz auf Rache zu verzichten. Auf das erlittene Böse nicht mit Gewalt zu antworten, im Gegenteil, auf den ersten Schlag ins Gesicht auch den zweiten hinnehmen.

Gott ist anders. Anders als wir Menschen sind und empfinden und handeln. Er lässt auch dem Bösen seinen Raum. Das kann ganz schön fremd klingen und sich auch so anfühlen. Wir Menschen neigen dazu, einander in Gute und Böse einzuteilen. In ‚wir‘ und ‚die da‘ oder ‚die anderen‘. Das kann zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten sehr verschieden sein. Für die Menschen des Volkes Israel waren es besonders die Römer als feindliche Besatzungsmacht. Mit denen wollte man nichts zu tun haben, denen gönnte und tat man dann auch nichts Gutes. Sie waren ja die Bösen, die Fremden, die Besatzer, die die Macht hatten und Gewalt ausübten. Heute sind es Terroristen, Islamisten, aber weil es so schwer ist, zu unterscheiden, sind halt alle Fremden, alle Muslime, alle Migranten grundsätzlich böse, jedenfalls potentiell. Darum sollte unser Land ihren Zuzug begrenzen, sie von hier ausweisen, sie zurückführen.
Gott ist anders. Er nimmt die, die wir Böse nennen, ebenso unter seinen Schutz und seine Zuwendung. Er gönnt ihnen das Leben, auch über ihnen scheint die Sonne und es regnet, damit sie Nahrung und Kleidung haben. Und wenn es ihnen an etwas fehlt und wir sehen es und können helfen, dann ermutigt Jesus uns dazu. Wer friert, soll gekleidet werden, wir haben doch genug. Und wenn der römische Soldat, ein armer Mensch, wie immer Soldaten, irgendwo hingeschickt, wo sie gar nicht hinwollen, etwas zu tun, wozu sie gar keine Lust haben. Und dann müssen sie alle ihre schwere Ausrüstung selbst tragen. Nimmst du mir das bitte einmal für eine Meile ab? Gefühlt wäre die Reaktion: Niemals. Ich will ja gar nicht, dass du hier bist, trag dein Zeug alleine. Jesu Empfehlung: Geh zwei Meilen mit ihm und trag ihm seine Sachen. Frag nicht, ob er es wert ist, ob er deine Hilfe verdient. Tu es, weil es ihm hilft und weil du es kannst.

Nicht die Berechnung ist gefragt, die Einteilung der Menschen in gut und böse, in wertvoll und wertlos. Sondern die Weite des Herzens. In der Beziehung zu Gott und im Glauben an ihm erleben wir sein weites Herz für uns. Wir leben davon, dass er anders ist, als es unter uns Menschen üblich ist. Dass er uns aus lauter Liebe und Barmherzigkeit das Leben gönnt und ausstattet mit allem, was wir brauchen.
Was, wenn nicht wir die Menschen in gut und böse einteilen und natürlich selbst immer zu den Guten gehören, sondern wir böse sind? Vielleicht bin ich ja böse, vielleicht verletze ich Menschen, ohne es zu wissen, vielleicht tue ich Menschen weh, weil ich finde, sie haben es verdient. Es kann gut sein, dass Menschen unter mir zu leiden haben, unter dem, was ich tue oder dem, was ich sage. Wie furchtbar, wenn ich dann bekäme, was ich verdiene.

Das ist doch gerade mein christlicher Glaube, dass Gott anders ist. Dass er mir die Verfehlungen an seinen Geboten vergibt und sich mir zuwendet, dass ich viel mehr bekomme, als ich verdiene. Gott sei Dank – aus meiner ganz persönlichen Sicht – ist Gott anders. Er hat ein weites Herz. Zum Beispiel für mich. Aber auch für all die andern. Und ich bin gar nicht dazu berufen, Menschen in die Kategorien gut und böse einzuteilen.
Ich bin dankbar dafür, wie Gott mit mir umgeht und möchte das im Umgang mit anderen Menschen leben. Also keine Gewalt anwenden, gegen niemanden — und jeden Menschen als ein Geschöpf Gottes betrachten, das leben möchte.

Dass das so einfach nicht ist in der praktischen Umsetzung im Leben, wird jeder kennen und erleben. Und es gibt Situationen im Leben, die eine einfache Ermahnung nicht umsetzen lassen.
In der großen Politik ist das deutlich zu erleben. Aus dem Raum der Kirche, also von christlich motivierten Menschen, kam in den 80er Jahren die Empfehlung: Frieden schaffen ohne Waffen. Also kein Angriff und auch keine Drohung. Heute machen politische Parteien Werbung mit der Frage: Krieg oder Frieden? Und gemeint ist, es dient dem Frieden, die Ukraine nicht weiter mit Waffen zu versorgen. Aber wer wollte wirklich den Rat geben, sich nicht weiter zu verteidigen, also das eigene Land kampflos dem Angreifer zu überlassen und dann womöglich besetzt zu werden? Ist es nicht auch angemessen, seine Bürger und sein Land zu verteidigen? Es findet große Zustimmung, vom Land Israel ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen im Gaza zu verlangen. Aber ist es nicht auch geboten, sein Land zu verteidigen und auch künftig für Sicherheit vor terroristischen Attacken zu sorgen?
Entscheidungen im praktischen Leben sind schwierig und aus verschiedenen Positionen heraus kommt es zu sehr verschiedenen Sichtweisen. Das gilt auch für das kleine persönliche Leben. Ich muss mich selbst und mein Leben nicht in Gefahr bringen, ich möchte die Menschen, für die ich Verantwortung trage, meine Familie, vor Gefahren und Gewalt schützen und auch für genügend Kleidung und Nahrung sorgen.

Die einfachen Antworten auf schwierige Fragen sind oft nicht die angemessenen. Aber wir müssen in Freiheit entscheiden, immer und immer wieder. Und machen dabei auch Fehler. Wir werden es nicht vermeiden, Gebote zu übertreten, andere zu übersehen oder zu verletzen. Wir sind nicht vollkommen. Wir sind nicht Gott. Er ist anders. Seine Liebe ist grenzenlos. Sie schließt niemanden aus. Am Ende hat Jesus Christus diese Liebe und Zuwendung für die Menschen mit seinem Leben bezahlt. Er hat nicht zurückgeschlagen, als er geschlagen wurde. Er hat für die gebetet, die ihn ans Kreuz genagelt haben, er hat dem Menschen, der um seine Verlorenheit wusste, seine Sünde verziehen und das ewige Leben zugesagt.

Eine solche Vollkommenheit kann ich nicht leisten. Muss ich auch gar nicht. Ich muss mich nicht aufopfern. Aber es ist diese Liebe Gottes in seinem Sohn Jesus Christus, die auch mich meint und trifft und mitnimmt und verändert.
Gott ist anders. Wie gut. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Andreas Schwarz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist eine sehr treue und interessierte Predigtgemeinde, es ist jeweils erkennbar, wie aufmerksam zugehört und erwartet wird. Dabei sind die Frömmigkeiten sehr unterschiedlich; als Russlanddeutsche oder auch Alteingesessene zT sehr traditionell geprägt. Andererseits politisch Interessierte und Engagierte für Umweltbelange und Demokratie, gegen Rechts und Klimaleugnung. Ein spannendes Feld gerade für dieses Jesuswort.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der begrenzende Gedanke dessen, was Jesus aus dem 1. Testament zitiert. Auf diesem Hintergrund die Beobachtung, wie schnell Menschen bereit sind, Gewalt eskalieren zu lassen. Dieser Spannungsbogen hat mich sehr berührt und angespornt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Manchmal gewöhne ich mich an Verhaltensweisen und denke, sie müssten so sein. Dass es anders sein soll nach der Bergpredigt und anders sein kann, weil Gott andere Wege geht und zeigt – im Umgang miteinander, mit Fremden,... das finde ich sehr inspirierend, auch zum Weiterdenken und Weiterleben.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Manche Dinge wiederholen sich – dankenswerter Weise auch mit dieser Coach. Es hat mir so gut getan und so wertgeschätzt nahm ich die wenigen Hinweise gerne auf. Die Predigt ist etwas kürzer geworden, weil Wiederholungen und Bekräftigungen am Ende rausgestrichen wurden. Wie gut. So lässt es dem Hörer, der Leserin mehr eigenen Raum.

Perikope
20.10.2024
5,38-48