Die Liebe sei nicht vorgespielt - Predigt zu Röm 12, 9-16 von Anika Mélix
12, 9-16

I. Dieser Text ist Predigt genug!
Liebe Gemeinde,
zu allererst will ich gestehen: Ich hadere damit, eine Predigt zu diesem Text zu halten. Nicht, weil ich ihn für irgendwie ungeeignet oder zu kompliziert oder gar für falsch halte. Ganz im Gegenteil denke ich: Dieser Text ist Predigt genug! Da ist alles gesagt!
Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Seid solche,
die das Böse verabscheuen und dem Guten anhangen,
die in geschwisterlicher Liebe einander herzlich zugetan sind,
an Ehre einander den Vorzug geben,
im Eifer nicht nachlässig sind,
im Geist brennen,
dem Herrn dienen,
in der Hoffnung sich freuen,
in der Bedrängnis standhaft bleiben
am Gebet unablässig festhalten,
die Not der Heiligen teilen,
die Gastfreundschaft gerne erweisen.
Segnet die Verfolger.
Segnet und verflucht nicht.
Sich freuen mit denen, die sich freuen.
Weinen mit denen, die weinen.
Seid solche,
die füreinander auf dasselbe aus sind,
die nicht auf die hohen Dinge aus sind,
sondern sich gemeinsam von den niedrigen davonführen lassen.
Seid nicht solche, die sich selbst für klug halten.
Amen! (Übersetzung aus: Wolter, Michael, Der Brief an die Römer, Teilband 2: Röm 9-16, EKK VI/2, Göttingen/Ostfildern, 2019, 277f.)

II. Die Liebe als Ausgangs- und Zielpunkt – konkret!
Na gut, Ihr ahnt es schon: Ich werde doch um Worte ringen und sie am Ende Predigt nennen. Aber ich bitte Euch: Stellt nur jene meiner Worte um den Text, die ihn groß und strahlend machen. Denn ich bleibe dabei: Eigentlich ist alles gesagt!
Paulus schreibt im 1. Jahrhundert einen Brief an die heidenchristliche Gemeinde in Rom, die er nicht gegründet hat und die er bisher nicht kennt. Er ruft: Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Seit Jahrhunderten lesen Menschen auf der ganzen Welt die Abschrift dieses Briefes. Der Text ruft: Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Heute stehe ich auf dieser Kanzel und rufe es Euch und mir zu: Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Und über alle diese Wege, daran glaube ich von Herzen, ruft der Gott des Universums durch seinen Geist seiner Gemeinde zu: Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Wir sollen einander lieben! Und wie!
einander in geschwisterlicher Liebe herzlich zugetan sein
… an Ehre einander Vorzug geben
… die Not der Heiligen teilen
… Gastfreundschaft gerne erweisen
… freuen, mit denen, die sich freuen
… weinen, mit denen, die weinen
… füreinander auf dasselbe aus sein

III. Gegenüber der Liebe, was ist Gemeinde? oder: Ich ärgere mich aber über DICH!
An anderen Sonntagen stehe ich nicht hier auf der Kanzel. An anderen Sonntagen sitze ich in Euren Reihen. Und dann ärgere ich mich. Ich sitze da mit meinen zwei kleinen Kindern und die ältere Frau neben mir wirft ihnen bei jedem Geräusch strenge Blicke zu.
An anderen Sonntagen stehe ich nicht hier auf der Kanzel. An anderen Sonntagen packe ich nach dem Gottesdienst meine Sachen und gehe heim. Und dann ärgere ich mich. Über die anonyme Gemeinde. Hat überhaupt jemand gemerkt, dass ich da bin? Über die fehlende Gemeinschaft. Und jetzt jede zu sich nachhause Mittagessen oder was?
An anderen Sonntagen stehe ich nicht hier auf der Kanzel. An anderen Sonntagen hänge ich am Handy. Und dann ärgere ich mich. Über die christliche Influencerin auf Instagram, mit der Schmalspurtheologie und der großen Followerschaft.
An anderen Sonntagen stehe ich nicht hier auf der Kanzel. An anderen Sonntagen schaue ich Nachrichten. Und dann ärgere ich mich. Über die orthodoxe Kirche, die ja doch nur Putins Marionette ist und das Ansehen des Christentums weltweit weiter beschäftigt.
An anderen Sonntagen ärgere ich mich. Aber Paulus, der Text, und doch auch Gott, daran glaube ich fest, rufen: Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Also nochmal:
Verstohlen schaue ich mir die streng blickende Frau, die im Gottesdienst neben mir und meinen Kindern sitzt, genauer an. Mitte 50 vielleicht. Ernstes Gesicht. Gepflegtes Äußeres. Sie scheint alleine hier zu sein. Warum sitzt sie vorne links in der ersten Reihe? Das ist Familienbereich! Ist sie neu hier? Warum setzt sie sich nach vorne? Hört sie vielleicht schlecht?
… in geschwisterlicher Liebe einander herzlich zugetan sein
Als sie das nächste Mal zu uns hinübersieht, als mein Sohn lautstark eine Bäckertüte zum Knistern bringt, lächele ich sie an. Ein erstaunter Blick. Ein leises Lächeln.
… an Ehre einander Vorzug geben
Leise nehme ich meinen Sohn und meine Tochter bei der Hand und gehe in die Jugendkapelle. Von der Predigt höre ich heute nichts mehr. Aber die Frau neben uns, die darf sie heute ganz ungestört genießen.
Nach dem Gottesdienst stopfe ich unsere Sachen in den Kinderwagen, stecke den Kleinen hinein, nehme die Große bei der Hand und steuere auf den Ausgang zu. Ich halte inne. Gerade war eine Einladung zum Kirchenkaffee. Puh. Nicht nachhause, keinen Mittagsschlaf, stattdessen über den Hof, Kinderwagen Treppe hochbugsieren, mit fremden Menschen Smalltalk halten.
… die Not der Heiligen teilen
Ich sitze etwas steif neben einem älteren Herren am Kaffeetisch. Ich lächele schüchtern. Wir beginnen ein Gespräch. Er fragt, wie es mir geht. Wie man das so macht. Ich beschließe ehrlich zu antworten. Ich blicke mit Sorge auf das gerade erst begonnene Jahr. Die Anstellung läuft aus. Eine weitere Perspektive ist noch am entstehen. Der ältere Mann schaut ernst. Schaut interessiert. Er schweigt. Dann: „Das ist nicht leicht.“ Wir nicken. Und schweigen noch ein wenig.
… Gastfreundschaft gerne erweisen
Wir haben es nachhause geschafft. Es ist längst nach Mittag. Der kleine quengelt. Mein Mann bittet: „Nächstes Mal ohne Kirchenkaffee?“ Ich denke nach und antworte: „Dann mit Mittagessensgast aus der Gemeinde."
Der Kleine schläft. Ich hänge am Handy. Schaue der christlichen Influencerin dabei zu, wie sie Gesichtscreme vermarktet, Beziehungstipps im Namen Gottes gibt und sich beim innigen Gebet filmt.
… sich freuen, mit denen, die sich freuen
Ich schließe die Augen, atme einmal tief durch und klicke mich weiter durch ihre Storys. Auf einem Foto sieht sie glücklich aus. So richtig. Ich stoppe und blicke das Bild an. Leise sage ich: Ich wünsche mir, dass das echt ist. Ich wünsche mir, dass du glücklich bist. Ich schaue noch ein wenig in ihr hübsches, fröhliches Gesicht und lächle ein wenig mit.
… weinen, mit denen die weinen
Ich denke an einen Podcast, den ich neulich gehört habe, in dem sie davon erzählt, welche Verletzungen sie aus einer vergangenen Beziehung davongetragen hat. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, dass mich der Gedanke nicht nur, aber auch mit Häme erfüllt hat. Ich versuche mir vorzustellen, sie sei eine Freundin. Ich versuche sie echt werden zu lassen. Und ich werde traurig. Ich hoffe es ist für sie und mit ihr.
Ich habe in der Zwischenzeit von Instagram zu meiner Nachrichten-App gewechselt. Russische Orthodoxie. Ich sehe in Weiß und Gold gewandete Männer, die das Kreuz meines Herrn tragen an der Seite Putins, den ich für einen Schlächter halte, in die Kamera lächeln.
… füreinander auf dasselbe aus sein.
Ich erinnere mich an eine ehemals gute russisch-orthodoxe Freundin und krame die Nummer hervor. Ich erinnere mich, an ihre Wohnung voller Ikonen, an ihre glühende Liebe zu und ihren schwarzen Humor im Blick auf ihre Kirche. Und ich erinnere mich, wie wunderschön es war, gemeinsam zu entdecken, dass ihre Ikonen und mein evangelisches Gesangbuch denselben ehren.

IV. Sind wir noch Geschwister? – Die Sache mit der Demut
Das ist alles so nicht passiert. Ich versuche den Text in mein eigenes Leben zu sprechen, spüre, dass es mich inspiriert und spüre gleichzeitig Überforderung. Machen wir uns kurz ehrlich: Paulus hat gut reden. Er schreibt einer Gemeinde in Rom, wie sich die Glaubensgeschwister untereinander verhalten sollen. In geschwisterlicher Liebe einander herzlich zugetan sein; an Ehre einander Vorzug geben… Ihr wisst schon. Und ja: Paulus hat viele Gemeinden an vielen Orten gegründet. Er war einigermaßen international unterwegs. Und doch hat sein Horizont nichts, aber auch gar nichts mit dem zutun, mit dem wir uns heute auseinandersetzen müssen. Wer sind denn die „Glieder am Leib Christi“, wie Paulus sie in den vorhergehenden Versen nennt? Die Sitznachbarin in der Kirchenbank, die Kerngemeinde beim Kirchenkaffee, die christliche Influencerin, die mir digital begegnet, die Weltkirche, von der ich ggf. nur in Abstraktion gehört habe. Wo fängt Gemeinde an, wo hört sie auf? Wer ist mein Gegenüber? Wem soll ich gerne Gastfreundschaft erweisen? Wem in geschwisterlicher Liebe herzlich zugetan sein? Und gelten einige der Liebesaufgaben nicht vielleicht sogar allen Menschen? Weinen, mit denen die weinen?
Du meinst, man muss es jetzt auch nicht übertreiben? Wozu in die Ferne schweifen? Gut, dann hier, in Leipzig: Ihr in der Nikolaikirche, seid einander herzlich in geschwisterlicher Liebe zugetan, gebt der Thomaskirchgemeinde an Ehre Vorzug, teilt mit den Geschwistern in der FeG eure Nöte, erweist den Baptisten Leipzig gerne Gastfreundschaft, freut euch mit denen, die sich in der orthodoxen Kirchgemeinde in der Gedächtniskirche freuen, weint mit denen, die in der Leipzig English Church weinen, seid mit den Brüdern und Schwestern der Elim Gemeinde füreinander auf dasselbe aus.
Das ist schön und weit und ich lese das gerne so und mag das als Utopie so stehen lassen können, aber ganz realistisch ist es nicht. Doch da sind noch zwei Sätze:
Seid solche, die füreinander auf dasselbe aus sind, die nicht auf die hohen Dinge aus sind, sondern sich gemeinsam von den niedrigen davonführen lassen. Seid nicht solche, die sich selbst für klug halten.
Seid nicht solche, die sich selbst für klug halten.
Seid nicht solche, die sich selbst für klug halten.
Zumindest das!

V. Richtung und Haltung der Liebe als Basso continuo
Das mit der Liebe ist ja immer so eine Sache. Sie wird in Popsongs besungen, in Büchern beschrieben, in Filmen beschworen. Alle reden von ihr und über sie. Und wie das mit den großen und inflationär gebrauchten Begriffen so ist, scheint auch jede und jeder ein bisschen etwas anderes darunter zu verstehen.
Deshalb lohnt es sich, genau hinzuhören. Denn: zwischen all dem, was ich als Konkretionen der „nicht vorgespielten Liebe“ verstehe, steht Überraschendes:
Seid solche, die
im Eifer nicht nachlässig sind,
im Geist brennen,
dem Herrn dienen,
in der Hoffnung sich freuen,
in der Bedrängnis standhaft bleiben
am Gebet unablässig festhalten.
Mir scheint, als wolle Paulus an dieser Stelle dem Auftrag zur Liebe untereinander Richtung und Haltung geben. In seinem ganzen Brief an die 
römische Gemeinde bis zu diesem Kapitel 12, aus dem wir heute einen Ausschnitt hören, ringt er um die Barmherzigkeit Gottes. Um die Rechtfertigung aller Sünder. Es ist, als hätte er etwas von Gott begriffen – oder besser: als hätte ihn etwas von Gott ergriffen. Und das ist Basis und Grundlage von allem, was er an dieser Stelle über die Liebe schreibt.
Paulus weiß: Weil die von Gott erfahrene Barmherzigkeit die Quelle aller Ethik ist, weil es darum letztlich immer geht, ist davon nicht nur mein Verhalten der Gemeinde gegenüber bestimmt, sondern auch meine eigene, private Haltung, mein ganzes Sein.
Wir haben die Kraft einander in geschwisterlicher Liebe zugetan zu sein, nicht ab und zu und nur dann, wenn es sich gut anfühlt, sondern als solche, die im Eifer nicht nachlässig werden, weil sie im Geist brennen.
Wir geben einander nicht den Vorzug, weil wir gute Menschen sind, sondern weil wir dem Herrn dienen, den wir selbst als einen kennen, der anderen den Vorzug gibt.
Wir dürfen uns in der Hoffnung freuen, in der Bedrängnis standhaft sein und am Gebet unablässig festhalten, nicht weil wir unkaputtbare Supermenschen wären, sondern weil sich die Möglichkeit all das zutun aus dem speist, der unsere Hoffnung ist, der uns in Bedrängnis nicht alleine lässt und der versprochen hat, unser Gebet zu hören.

VI. Das Böse, die Verfolger und die Not der Heiligen
Gott des Paulus, Gott der Bibel, Gott unserer Gemeinde, mein Gott,
so viel Unterschiedliches in den wenigen Versen dieses Textabschnitts. So vieles, das mich herausfordert. Ich habe mich durchgebissen bis hierher. Die Worte und Sätze so gut gekaut, wie es mir möglich war. Ich hoffe, ich habe (oder besser: ich wurde) ein wenig ergriffen. Ich hoffe, ein wenig dringt in mein Leben. Aber es bleibt ein Rest. Ein Rest Worte, der sich nicht kauen lässt. 
… das Böse verabscheuen und dem Guten anhangen.
Ich weiß nicht, was das heißt, wenn es keine leere Platitude sein soll. „Das Böse“ und „das Gute“. Wie oft im Leben erfahren wir das als so schwarz/weiß? Und in dem Moment, in dem es so klar unterscheidbar ist, wird da die Aufforderung nicht überflüssig?!
die Not der Heiligen teilen.
Ich habe mit dem Satz in der Predigt schon gespielt. Aber wenn ich die Formulierung noch einmal ganz lese, wenn vor mir die Not der Heiligen steht, dann denke ich an die verfolgten, gefolterten und misshandelten Glaubensgeschwister weltweit. Ich kenne sie nicht. Ich habe keinen Kontakt. Wenn ich ehrlich bin, sind sie für mich nicht weniger abstrakt wie die Opfer des Krieges, die ich in den Nachrichten sehe. Sie leiden echte Not. Sie brauchen jemand, mit dem sie sie teilen können. Aber wie kann ich diese Person werden? Wie?
Die Verfolger segnen. Segnen, nicht verfluchen.
Gott, ich habe keine Verfolger. Alles, was ich konstruiere, um dieses Wort zu füllen, ist lächerlich und wertet jene ab, die wirklich wissen, was es bedeutet, verfolgt zu werden. Soll ich deren Verfolger segnen? Das scheint mir übergriffig zu sein…
Gott des Paulus, Gott der Bibel, Gott unserer Gemeinde, mein Gott,
so viel mehr wäre zu denken, zu verstehen und zu sagen, aber ich will enden, indem wir noch einmal hören:

Die Liebe sei nicht vorgespielt!
Seid solche,
die das Böse verabscheuen und dem Guten anhangen,
die in geschwisterlicher Liebe einander herzlich zugetan sind,
an Ehre einander den Vorzug geben,
im Eifer nicht nachlässig sind,
im Geist brennen, 
dem Herrn dienen,
in der Hoffnung sich freuen,
in der Bedrängnis standhaft bleiben
am Gebet unablässig festhalten,
die Not der Heiligen teilen,
die Gastfreundschaft gerne erweisen.
Segnet die Verfolger. 
Segnet und verflucht nicht.
Sich freuen mit denen, die sich freuen.
Weinen mit denen, die weinen.
Seid solche,
die füreinander auf dasselbe aus sind,
die nicht auf die hohen Dinge aus sind,
sondern sich gemeinsam von den niedrigen davonführen lassen.
Seid nicht solche, die sich selbst für klug halten.
Amen!

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anika Mélix

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Leipziger Stadtkirche. Tendenziell gebildet, bürgerlich, Alter vornehmlich 50+ sowie einige junge Familien, dazu Touristen. 

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich kann und darf Worte um diesen Text setzen, aber der Text braucht sie nicht, um verstanden werden zu können. Der Text ist Predigt genug!

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Schöne Worte, die man in Abstraktion sofort unterscheiben würde, müssen ins Leben hineinbuchstabiert werden.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider hat sich kein Coach gefunden.

Perikope
19.01.2025
12, 9-16