Schluss mit "wir und die" - Predigt zu Joh 4, 5-14 von Olaf Waßmuth
4,5-14

Liebe Gemeinde,
eigentlich wollten wir nur einen Kaffee trinken: der neue Kollege aus der Nachbarabteilung und ich, die wir uns bisher bloß vom Sehen kannten. Aber dann sitzen wir fast anderthalb Stunden in der Kantine zusammen. Die Tassen sind lange leer. Und wir reden und reden. „Das war ein gutes Gespräch“, sagt Achim zum Abschied, und ich nicke: „Danke dafür!“
Ein gutes Gespräch: Es hat was mit gegenseitiger Wahrnehmung zu tun, mit Zuhören und Nachfragen, mit Erkenntnisgewinn und Verständnis. Ein gutes Gespräch ist, wenn es unter die Oberfläche geht – ehrlich und freundlich. Wenn Dich einer fragt: Was denkst Du wirklich? Und wenn Du Dich dann traust, das auch zu sagen. Deep Talk statt Smalltalk.
Ein gutes Gespräch – das gibt es gar nicht so oft. 
Meist haben wir keine Zeit. Manchmal wissen wir schon, was der andere sagen will. Ich kenn den doch. (Oder die.) Noch öfter sind wir unsicher: Kann ich das jetzt wirklich sagen? Könnte ich mich blamieren? Wo stehen die Fettnäpfchen?

In der Bibel kommen nur wenige Gespräche vor. Die Bibel erzählt, und das meist verdichtet und summarisch. Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist da eine Ausnahme. Mal keine Erzählung. Ein reiner Dialog zwischen Jesus und einer namenlosen Frau.
Die Situation ist nicht gerade gesprächsfördernd. Es ist brütend heiß, Mittagsstunde. Die beiden sind allein – ein Mann und eine fremde Frau, schon das ist heikel. Man trifft sich im Feindesland. Ein Jude, der durch Samarien reist, das ist ein bisschen so wie früher Transitverkehr durch die DDR. Man muss da durch, aber man hält besser nicht an.
Und trotzdem entsteht aus der Zufallsbegegnung ein Gespräch. Ein gutes Gespräch? 
Hören wir einige Verse aus dem 4. Kapitel des Johannesevangeliums:
5 Da kam Jesus in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich an den Brunnen; es war um die sechste Stunde. 7 Da kommt eine Frau aus Samarien, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! 8 Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, um Speise zu kaufen. 9 Da spricht die samaritische Frau zu ihm: Wie, du, ein Jude, erbittest etwas zu trinken von mir, einer samaritischen Frau? Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern. – 10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser.
11 Spricht zu ihm die Frau: Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? 12 Bist du etwa mehr als unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Söhne und sein Vieh. 13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; 14 wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.
Ist das nun ein gutes Gespräch? Um Himmels Willen: Nein! möchte man rufen. Nach heutigen Maßstäben läuft da vieles schief. Die Redeanteile sind ungleich verteilt, ja, es riecht nach „Mansplaining“: ein Mann meint, einer Frau die Welt erklären zu müssen. Die beiden reden aneinander vorbei, es gibt Missverständnisse. Jesus wechselt die Gesprächsebene, wenn er der Alltagsfrage nach dem Brunnenwasser völlig überraschend einen metaphorischen Dreh gibt: „Lebendiges Wasser“ bezieht sich allein auf ihn selbst.
So erstaunlich es ist, dass Jesus mit der unbekannten Frau ein Gespräch beginnt – es ist kein Austausch auf Augenhöhe. Wie denn auch? Für den Evangelisten Johannes ist klar: Hier spricht der göttliche Mittler der Wahrheit mit einem – noch –ahnungslosen Menschen.
Trotzdem finde ich zwei Dinge an diesem Gespräch richtig gut – und wegweisend.

Das erste: Jesus lässt sich überhaupt nicht ein auf die Schubladen und Etiketten, mit denen die unbekannte Frau sofort hantiert. 
Das war ja das erste, was die Frau ihm entgegnet: „Wie, Du als Jude fragst mich das als Samariterin?“
Wir kennen diese Art von Einsortierung nur zu gut:
Du als Ostdeutscher – ich als Westdeutscher.
Du als Frau – ich als Mann.
Du als Schwuler – ich als Hetero.
Du als Ausländerin – ich als Deutscher.
Wir und die – ist das große Thema unserer Zeit, und es ist eine Plage! Von links und von rechts kommt sie, die Festlegung von Menschen auf bestimmte Eigenschaften. Die Zuordnung von Rollenerwartungen. Du gehörst dieser oder jener Gruppe an – damit ist klar, wer Du zu sein hast, was Du darfst, ob Du gut bist oder böse, Täter oder Opfer, je nach Perspektive. Du bist Jude, ich bin Samariterin, so fängt die Frau am Brunnen an und erklärt auch gleich die Spielregeln, die damit verbunden sind. Spielregeln, die andere ihr vorgeschrieben und eingeschärft haben.
Jesus ignoriert die Regeln. Er unterläuft sie. Das kann er, weil er Mann und Jude ist, werden einige sagen. Doch das ändert nichts am Effekt: „Wir und die“ spielt keine Rolle mehr. Zum Glück! Das Gruppen-Spiel läuft leer. Jetzt geht es nur darum, wer er ist – und später im biblischen Kapitel auch darum, wer sie ist. Als Person, als einzelne. 
Wir und die. Es gibt seit einiger Zeit wieder mächtige Kräfte, die uns so spalten wollen. Der große, bellende Anheizer von „Wir und die“ ist seit Montag zurück im Weißen Haus. Aber auch im deutschen Wahlkampf setzen manche ganz auf Spaltung. Vor einem Jahr hat unsere Gesellschaft mit den bundesweiten Demonstrationen ein Zeichen gesetzt: Wir wollen das nicht! Es ist gut, sich heute daran zu erinnern, dass Jesus und die frühen Christen mit „Wir und die“ entschieden Schluss gemacht haben. Das ist nicht nur ein Nebenaspekt unseres Predigttextes; es zieht sich durch die Bibel. Es ist das heimliche Thema dieses Sonntags im Kirchenjahr: Schluss mit „Wir und die“! Vor dem Angesicht Gottes lösen sich alle zugeschriebenen Identitäten auf: Menschen kommen von Osten und Westen, von Süden und Norden – das ist erstaunlich und wunderbar, aber letztlich egal. Im Reich Gottes sitzen alle am selben Tisch. So sagt es der Wochenspruch aus Lukas 13.

Das Gespräch zwischen Jesus und der Frau wird persönlich. Und es wird existenziell. Das ist nun das zweite, was mir an diesem Gespräch gut gefällt.
Jesus und die Frau aus Samaria sprechen darüber, was uns am Leben hält. Das, was wir zum Leben brauchen. Wonach wir uns sehnen, oder im Bild gesprochen: dürsten. Lebendiges Wasser. Alle Menschen brauchen Wasser. Egal, wo sie herkommen, welches Geschlecht, welche Hautfarbe, welche Religion sie haben. Wasser ist das Allgemeinste, das Grundsätzlichste, das Notwendigste. Der Durst nach Leben ist allen Menschen gemein. Ohne Unterschied. Ich denke an das, was Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis schrieb: „Wir müssen lernen, die Menschen weniger auf das anzusehen, was sie tun und unterlassen, als auf das, was sie erleiden.“ Oder: wonach sie dürsten. Eine neue Perspektive.
Wann hören wir auf über Stärken und Schwächen zu reden – über das, was die anderen alles falsch machen und wir selbst natürlich richtig? Wann reden wir mal über das, was uns antreibt, wonach wir uns sehnen, was wir uns wünschen? Das wären doch mal andere Gespräche. Jesus und die Frau am Brunnen machen es vor.

Vor einigen Monaten haben die Evangelische Kirche und die Diakonie Deutschland eine Initiative gestartet, die jetzt, vor der Bundestagwahl, nochmal richtig Fahrt aufnimmt. Sie heißt „Verständigungsorte“ – Hashtag #VerständigungsOrte, um genau zu sein. Die Idee dahinter ist, dass wir als Kirche doch prädestiniert sind, die Lager zu überwinden. Kirchengemeinden in ganz Deutschland bieten Gesprächsveranstaltungen an: In Minden werden kleine Gruppen zusammengebracht, die gemeinsam kochen. In Bad Hersfeld steht eine Bank mitten in der Fußgängerzone und lädt Passanten zu Kaffee und Tee ein. In einer Bibliothek in Rottweil kann man sich für 20 Minuten einen Gesprächspartner ausleihen – als lebendiges Buch. Und und und. Menschen mit unterschiedlichen Identitäten sollen einander wahrnehmen mit ihrer individuellen Geschichte .Und sie sollen sich gegenseitig sagen dürfen, was sie bewegt, was sie sich wünschen, wonach sie, ja: „dürsten“. Offen und ehrlich, in einem geschützten Raum. Verstehen wollen statt Wut. 
Verständigungsorte kann sich jeder von uns selbst suchen. Wie in unserer Geschichte sind sie oft da, wo es was zu trinken gibt: in der Kneipe, im Café, an der Kaffeemaschine im Büro. Überall da, wo Sie Menschen treffen, die anders drauf sind oder Ihnen einfach unbekannt. Zeigen Sie Interesse am anderen. Lassen Sie sich ein auf ihn oder sie. Und sagen Sie offen und freundlich, was Sie bewegt.
Vielleicht geht es dann schnell unter die Oberfläche. Vielleicht kommen Sie auch nicht weit. Vielleicht muss man manches so stehen lassen. Vielleicht gibt es Ver-stehen.
Und wenn Sie ganz mutig sind, dann reden Sie nicht nur über Hoffnungen und Befürchtungen, über Politik und Alltag, sondern über diesen Jesus, der lebendiges Wasser verheißt. Was halten Sie eigentlich von dem? Was bedeutet er für Sie? 
Ich verspreche Ihnen: Das wird ein gutes Gespräch!

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Olaf Waßmuth

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich als Gast in einer bildungsbürgerlich geprägten, politisch interessierten Großstadtgemeinde. Der Gottesdienst findet in der Situation des Bundestagswahlkampfes, wenige Tage nach der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten statt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Nachdem ich zunächst etwas mit dem „lebendigen Wasser“ gerungen hatte, stellte ich die thematische Prägung fest, die für diesen Sonntag des Kirchenjahres die „Grenzüberschreitungen“ der biblischen Botschaft ins Zentrum rückt. Damit fühlte ich mich beflügelt, auf einen scheinbaren Nebenaspekt der Perikope zu fokussieren.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die biblischen Geschichten sind voller #VerständigungsOrte, an denen sehr unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ein etwas akademischer Exkurs über Identitätspolitik und die entsprechende Terminologie sind in der Bearbeitung gestrichen worden. 

Perikope
26.01.2025
4,5-14