"Er dämpfet Sturm und Wellen und was mir bringet Weh" (EG 351,2) - Predigt zu Mk 4,35-41 von Luise Stribrny de Estrada
4,35–41

Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Es ist Nacht auf dem See Genezareth: Die Jünger sitzen in ihrem Boot. Wind ist aufgekommen, der sich schnell zum Sturm entwickelt hat. Er reißt an Segel und Masten und füllt mit seinem Geheul die Nacht. Er peitscht die Wellen hoch, so dass sie sich in immer neuen Anläufen auf das Boot werfen - wie eine Meute hungriger Löwen, die seine Insassen verschlingen wollen. Nachdem die Jünger, erfahrene Seeleute, alles versucht haben, was in ihrer Macht steht, müssen sie erkennen, dass ihr Tun sinnlos ist: Das Schiff füllt sich immer mehr mit Wasser. Todesangst schüttelt sie. Sie haben die Hoffnung auf Rettung aus diesen brodelnden Wassern fast aufgegeben. 
Da erinnert sich einer von ihnen daran, dass sie ihren Meister völlig aus den Augen verloren haben. Er hat ihnen auch nicht geholfen, das Segel einzuholen oder das Schiff auszuschöpfen. Der Jünger schaut sich um und entdeckt Jesus auf dem Achterschiff, friedlich auf ein Kissen gebettet - und schlafend. Zorn steigt in ihm auf: Das kann doch nicht wahr sein, dass er in all diesem tobenden Chaos dort liegt, wie ein Kind im Schoss seiner Mutter und friedlich schläft! Und Angst hat er auch keine, während sie vor Furcht vergehen. Wenn er schon von der Seefahrt keine Ahnung hat, sollte er wenigstens mit ihnen zusammen hier auf der Bank sitzen und ihnen Mut zusprechen oder beten. Stattdessen liegt er dort in aller Herrgottsruhe und schläft! Er hat sie völlig vergessen, sie, seine besten Freunde und Gefährten! Der Jünger wechselt empörte Blicke mit seinen Kameraden, dann stehen zwei von ihnen auf und schütteln Jesus wach. Sie fragen aufgebracht: „Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?“  Sie merken selbst kaum, dass sie meinen: „Hilf uns doch, kümmere dich um uns! Sorge dafür, dass wir nicht sterben müssen.“ Denn er ist jetzt wirklich ihre letzte Hoffnung, nachdem alles andere umsonst gewesen ist. Vielleicht vermag er anderes als sie...
Ich bringe mich mit ins Spiel. Was tue ich, wenn mich die Stürme des Lebens schütteln? Wenn alles über mich hereinbricht und ich die Orientierung verloren habe? Dann versuche ich, ruhig zu werden, um wieder die Oberhand zu gewinnen. Ich bemühe mich, Ordnung in das Chaos zu bringen. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Mir helfen dann Gespräche mit Menschen, die mir vertraut sind oder auch mit Außenstehenden, die mehr Abstand haben. Wenn ich in Worte fasse, was mich bedrängt, trägt das dazu bei, das Bedrohliche zu zähmen. Ich bin ihm nicht mehr hilflos ausgeliefert. 
Zurück zu Jesus und den Jüngern in ihrem Fischerboot: Nachdem seine Freunde ihn geweckt haben, ist Jesus sofort wach und erfasst die Situation, in der sie sich befinden. Er hat die unausgesprochene Bitte der Jünger verstanden und weiß, dass er handeln muss. Er steht auf und fährt den Sturm und das Meer an: „Schweig! Verstumme!“ Er gebietet über die Naturgewalten, als pfeife er eine Meute Hunde zurück, die sich auf ein Opfer stürzen will. Sofort hören sie auf ihn und gehorchen - innerhalb von Minuten legt sich der Wind, und es entsteht eine große Stille. Die Jünger empfinden sie umso deutlicher, weil noch kurz vorher ein lautes Pfeifen, Zischen und Knattern um sie gewesen war. 
Jetzt ist es ganz ruhig. Nichts ist mehr zu hören. Sie können wieder Atem schöpfen. Sie sehen sich um. Jeder einzelne begreift: Ich lebe noch. Ich bin gerettet. Ich bin nicht untergegangen in der tobenden See. Das hat Jesus getan. (Augenblick der Stille)
In diese Stille hinein fallen die Worte Jesu: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Es klingt vorwurfsvoll und etwas verärgert. Sie haben doch schon einiges mit ihm erlebt: dass er die Schwiegermutter des Petrus gesund gemacht hat und einen Aussätzigen geheilt hat, vor dem alle aus Angst vor Ansteckung geflohen waren. Sie müssten doch eigentlich begreifen, dass er eine besondere Beziehung zu Gott hat, der ihm die Macht gibt, Dinge zu tun, die alle Vorstellung überschreiten.
„Habt ihr noch keinen Glauben?“ Die Freunde wissen nicht, was sie antworten sollen, und trauen sich nach dem, was sie gerade erlebt haben, nicht, irgendetwas zu sagen. Was meint er mit „Glauben“? Woran? Hätten sie denn ahnen können, dass er imstande ist, das Meer zu zähmen, nur durch zwei kurze Befehle? Das kann doch kein Mensch! Und sie fragen sich verstohlen untereinander, halb flüsternd, voller Furcht: „Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?“ Sie können sich noch nicht vorstellen, dass er mehr ist als jeder Mensch. Sie begreifen noch nicht, dass ihr Meister dasselbe tun kann wie Gott. Erst viel später, nach seinem Tod, werden sie erkennen und glauben, dass er der Sohn Gottes ist.
Uns geht es anders als den Jüngern. Wir wissen, wer Jesus ist, und dass seine besondere Kraft von Gott herkommt. Gott hat ihn geschickt, um uns Menschen zu retten, das glauben wir. Wir leben nach dem Geschehen zu Ostern, das den Jüngern erst die Augen öffnete. Aber heißt das, dass wir in extremen Situationen mit dem Glauben keine Probleme haben? Würde die Frage: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ an uns einfach abprallen - oder träfe sie uns auch? 
Trauen wir Jesus in Momenten, in denen wir verzweifelt sind, zu, dass er uns daraus befreien kann? Nicht alle von uns werden darauf sofort mit „ja“ antworten. Und wir haben recht damit, nicht allzu gewiss ja zu sagen, denn jeder von uns hat auch schon erlebt, dass Gott uns oder einen Menschen, der uns lieb ist, aus einer existentiellen Bedrohung nicht gerettet hat. Da ist der Bruder an Krebs gestorben, obwohl wir um seine Heilung gebetet haben. Da musste der Mutter das Bein amputiert werden, obwohl wir Gott für sie gebeten hatten. Der Krieg wurde erklärt und geführt, obwohl wir Friedensgottesdienste und Mahnwachen organisiert hatten. Die Ehe ist zerbrochen, obwohl wir Gott so sehr gebeten hatten, sie zu erhalten. Gott greift nur selten selbst ein, um Menschen aus der Not zu befreien. Und wir haben -anders als die Jünger- Jesus nicht greifbar nahe, so dass wir ihn nur wachzurütteln brauchten. Wir erleben Gott oft als weit entfernt, als schwer oder gar nicht erreichbar. 
Trotzdem glaube ich, dass Gott will, dass Leiden, Not und Unrecht aufhören. Er will, dass Katastrophen abgewendet oder Zerstörtes wiedergutgemacht wird. Gott will, dass Gerechtigkeit schließlich belohnt wird, dass aber auch Frevel vergolten wird und Lüge schweigt. Er möchte, dass die Dinge an ihren rechten Ort gestellt werden und etwas Vollendetes entsteht. Am Ende wird Gott alles zurechtrücken, so dass die Tränen getrocknet werden und Liebe und Gerechtigkeit regieren – aber zu einer Zeit, die nur er kennt. 
Lasst uns in der Zeit, in der wir leben, uns gegenseitig im Glauben stärken, dass sich all das eines Tages verwirklichen wird. Dazu gehört auch, sich Geschichten zu erzählen, wie Gott Menschen geholfen hat, oft durch unsere Unterstützung. Geschichten wie diese:
Eine Ärztin erzählt: „Als junge Ärztin wurde ich eines Abends an das Bett eines Patienten gerufen. Er war gerade ins Krankenhaus eingeliefert worden, er hatte Herzprobleme und es stand sehr schlecht um ihn. Er war nicht bei Bewusstsein. Der ältere Kollege, der ihn untersucht hatte, war der Meinung, dass er die Nacht nicht überleben würde. Ich nahm mir vor, während meines Nachtdienstes regelmäßig nach ihm zu schauen. Fast jede Stunde ging ich zu ihm und redete beruhigend mit ihm. Ich streichelte seine Hand. Einmal sang ich ihm sogar etwas vor. Als es Morgen wurde, lebte er noch! Ich war erleichtert, aber noch war er nicht über den Berg. Er wurde auf eine andere Station verlegt, und ich ging in den Urlaub. Ich hörte nichts mehr von meinem Patienten. 
Jahre später lernte ich bei der Visite einen neuen Patienten kennen. Er war wegen einer Hüftoperation zu uns gekommen. Am Ende der Visite sagte er zu mir: ‚Ich habe das Gefühl, dass ich sie kenne. Ihre Stimme ist mir so vertraut. Wenn ich sie höre, habe ich ein ganz warmes Gefühl.‘ Ich konnte mir das nicht erklären, aber es ließ mir keine Ruhe. Ich nahm mir seine Krankenakte vor und las darin. Darin fand ich einen Bericht über einen Krankenhausaufenthalt vor vielen Jahren. Und mir wurde klar: Es war derselbe Patient, den ich stündlich besucht und für den ich gesungen hatte. Er hatte überlebt - und tief in seinem Unterbewussten hatte sich die Erinnerung an jene Nacht und meine Stimme gehalten, die ihn herausgesungen hatte aus seiner Todesnot.“ 
Ein Wunder. 
Geschichten wie diese können viele von uns erzählen und damit anderen Mut machen. Welche ist ihre?
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastorin Luise Stribrny de Estrada

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an Menschen, die erlebt haben, dass Gott nicht eingegriffen hat, um ihnen zu helfen. Bei den Beispielen, die ich aufführe, z.B. dass Gott die Ehe nicht gerettet hat oder ein Verwandter an Krebs gestorben ist, stehen mir bestimmte Menschen aus der Gemeinde vor Augen. Sie fragen sich: Warum passiert mir das? Warum lässt Gott das zu? Wir kann ich damit leben, ohne meinen Glauben zu verlieren?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir hat gefallen, wie bildlich im griechischen Urtext der Sturm und die Wellen beschrieben werden, wie Jesus dann nur zwei kurze Befehle gibt und eine große Stille eintritt. Ich habe bei dieser Geschichte die illustrierte Kinderbibel von Kees de Kort vor Augen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich wird die Suche nach, aber auch die Offenheit für die Wunder des Alltags weiter begleiten. Ich glaube, dass Viele sich nach Wundern sehnen, ich auch, danach, dass unsere Welt durchlässig wird für Gott und sich der Himmel öffnet. Oft geschieht das anders, als wir denken.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich fand die Idee der Coach gut, einen Abschnitt in die Nacherzählung der biblischen Geschichte einzubauen, in dem ich davon erzähle, was ich in den Stürmen des Lebens tue.

Perikope
09.02.2025
4,35–41