Von verborgener Liebe - Predigt zu Mk 12,1-12 von Andreas Schwarz
1Jesus fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. 2Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. 3Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. 4Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. 5Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. 6Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 7Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! 8Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. 9Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. 10Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. 11Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«? 12Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.
In meiner Studentenbude hatte ich zeitweise ein Poster hängen. Darauf war mit einer Ansicht von oben ein Landschaftsbild zu sehen. Wald vor allem, aber auch ein schmaler Pfad. Alles war in einem dunklen Grün. Dichte Bäume überall, Sträucher, ein Bach. Dazu stand in Englisch ein Spruch: Love knows hidden paths – Liebe kennt verborgene Pfade.
Ich gebe zu, das war ganz schön kitschig, diese Kombination von Wort und Bild. Das Gefühl sollte angesprochen wird und irgendwie hat es bei mir gewirkt. Ich habe mir das ins Zimmer gehängt. Es sah gut aus und klang angenehm. Und wahr scheint es mir auch zu sein. Mit der Liebe ist das so eine Sache, die ist nicht immer gleich zu sehen oder zu spüren. Oft ist sie gut verborgen. Ich entdecke sie nicht gleich. Anderes liegt darüber, verdeckt sie.
Hass, Gewalt und Totschlag sprechen lauter und deutlicher. Sie schreien mich sozusagen an, brüllen ihre blutrünstigen Bilder, sodass ich gar nicht mehr erkenne, dass es Liebe gibt. Leise und verborgen. Markus erzählt in seinem Evangelium dieses Gleichnis. In der Lutherbibel trägt es die Überschrift: Von den bösen Weingärtnern. Damit ist die Spur gelegt, das Böse zu hören und zu sehen, weil dort geschlagen, gefoltert und getötet wird.
Ich frage mich: Wo ist da Liebe? Ist da noch Raum für die Liebe?
Eine unangenehme Spannung liegt in diesem Evangelium. Jesus erzählt das Gleichnis der religiösen Elite, Hohepriestern Schriftgelehrten und Ältesten. Sie könnten hören, dass Jesus von ihnen erzählt, dass sie sie Weingärtner sind. Ihnen wird der Weinberg genommen, der Zugang zum Reich Gottes. Aber spannend ist es auch, weil es um Jesus geht. Kritische Fragen hatten sie ihm gestellt. Was machst du da, Verkäufer und Käufer aus dem Tempel zu jagen, Tische der Geldwechsler und Stände der Taubenhändler umzustoßen? Wer hat dir das erlaubt? Was für ein Mandat hast du dafür?
Mehr Vorwürfe und Anklagen als Fragen sind es, die die Hohepriester und Schriftgelehrten an Jesus richten. Da ist kein Interesse an Antworten zu spüren, sondern Menschen suchen Indizien für einen Prozess. Die Atmosphäre ist mehr als spannend, sie ist aufgeladen. Da lodert der Wunsch, diesen Jesus loszuwerden, als würden sie denken: ‚Der stiftet Unruhe, der bedroht die gewohnten Abläufe, der verwirrt die Leute, der stellt unsere Autorität in Frage.‘
Liebe kennt verborgene Wege. Leicht zu erkennen sind sie nicht. Wege, die zwischen Jesus und der religiösen Führung im Volk eine Verbindung herstellen, gibt es offenbar nicht.
Ich will euch eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Liebe und Vertrauen. Ein Mensch liebt seinen Weinberg, er liebt die Natur, die Arbeit an der frischen Luft. Das ist mühsam, es kostet Zeit und Kraft und Schweiß. Von Anfang an. Den Weinberg anpflanzen; gute Setzlinge haben, die richtige Lage sehen, guten Boden finden. Dabei immer zu wissen, es dauert. Und es gibt keine Sicherheit. Ich kann nur tun, was mir möglich ist. Also schütze ich meinen Weinberg vor Tieren und ungebetenen Gästen und ziehe einen Zaun darum. Ich grabe eine Kelter für die Reben später und baue einen Turm. Damit man Gefahren frühzeitig sehen und rechtzeitig dagegen vorgehen kann. Es gibt viel zu bedenken und viel zu tun. Aber es hat eine Aussicht. Wenn das Wetter mitspielt, die Sonne scheint, Regen fällt, dann kann ich bald ernten. Und aus der Ernte wird dann ein Fest. Dann wird mit Wein und gutem Essen gefeiert. Ich liebe meinen Weinberg. Und ich vertraue meinen Weingärtnern. Die kennen mich ja, die haben es gut bei mir. Sie haben Arbeit und Lohn, können wohnen und Geld verdienen. Ich vertraue ihnen meinen Weinberg an. Am Ende werden wir uns alle freuen, gemeinsam. Ich liebe meinen Weinberg, ich vertraue meinen Weingärtnern, dass sie diese Liebe spüren und mit ihrer Zuverlässigkeit und Treue darauf antworten. Wie sollte das auch anders sein? Liebe mit Liebe zu beantworten.
Aber das Unerwartete, das Unfassbare geschieht. Die Weingärtner beantworten meine Liebe und mein Vertrauen mit Gewalt. Den Knecht, den ich zu ihnen schicke, um die Ernte abzuholen, schlagen sie und schicken ihn mit leeren Händen zurück. Rebellion gegen meine Liebe und mein Vertrauen ist das. Offener Widerstand. Fast so etwas wie eine Kriegserklärung. Oder eine Provokation? Wie soll ich damit umgehen?
Das werde ich tun: Ich schicke wieder einen Knecht. Und wieder wird der Opfer von offener Gewalt.
Und jetzt? Ich schicke noch einen Knecht. Der wird sogar getötet.
Und jetzt? Ich höre nicht auf, ich schicke immer wieder Knechte. Manche werden geschlagen, manche getötet.
Siehst du, liebe Gemeinde, die verborgene Liebe des Besitzers? Wie er sich um seine Weingärtner müht? Wie er um ihre Liebe kämpft, sie nicht aufgibt. Und sind die Opfer noch so groß? Hört er denn nie auf zu werben, zu lieben? Wo ist denn seine Grenze?
Er überschreitet sie. Er geht den letzten und schwersten Schritt. Er schickt keinen Knecht mehr, er schickt seinen Sohn. Mehr Liebe geht nicht. Wie viel Überwindung, wie viel Schmerz kostet das? Ich kann es nur ahnen, nicht verstehen.
Liebe kennt verborgene Pfade. Sie geht schwere Wege. Sie riskiert, missverstanden oder ausgenutzt zu werden. Sie nimmt in Kauf, diese Liebe mit dem Leben zu bezahlen. Sie opfert sich und kommt womöglich nicht einmal zum Ziel. Aber sie gibt nicht auf. Um keinen Preis.
Und es geschieht, was sich abgezeichnet hatte: Die Weingärtner wittern ihre Chance, wenn sie den Erben beseitigen. Sie töten ihn und werfen seine Leiche vor den Zaun.
Meine Geschichte hat ein grausames Ende gefunden. Die Liebe ist nicht zum Ziel gekommen. Die Gewalt hatte das letzte Wort. Der Tod hat gesiegt. Ganz offenkundig. Kann die Geschichte weitergehen? Sind Liebe und Vertrauen gescheitert?
Das Evangelium ist trotz alledem nicht zu Ende. Im Gegenteil. Jetzt kommen wir in diese Geschichte hinein; wir als Zuhörer und Leser sind jetzt gefragt. Wir sind dabei in dieser Geschichte. Mit unserem Leben und unserem Glauben. Das haben die Menschen, zu denen Jesus redet, damals auch gespürt.
Hier geht es um mehr als um eine unterhaltsame Geschichte. Es geht um Liebe und Vertrauen. Und auch um Enttäuschung. Aber es geht auch um Zukunft. Die Liebe zum Weinberg ist ungebrochen. Der Besitzer gibt nicht auf. Die Arbeit geht weiter, die Mühe auch, die Abhängigkeit von Sonne, Wind und Regen. Aber die Aussicht auf Ernte bleibt lebendig, die Hoffnung auf große und fröhliche Feste. Dankbar und in Gemeinschaft.
Bloß: Mit wem? Der Herr des Weinbergs bringt die Weingärtner um und vertraut ihn anderen an. Die Spannung rückt aus dem Gleichnis heraus in die Menschen, die Jesus zuhören. Sie spüren: Es geht ja um uns! Die Frage nach Leben und Tod, nach Scheitern und Zukunft betrifft jede und jeden, die Empfänger des Gleichnisses sind. Zuerst die Hörer damals, jetzt aber alle, die dieses Gleichnis lesen oder hören.
Was machst du da? Wer hat dir das erlaubt? Was für ein Mandat hast du? Die kritischen Fragen, die Jesus auf die Anklagebank setzen sollen, sind plötzlich umgedreht. Leben oder Tod, Scheitern oder Zukunft hängen an ihm, liegen in seinen Händen. Er ist Gottes letzter und größter Liebesbeweis. Mehr geht nicht. Alles ist getan für die Zukunft. Und wenn alles getan ist, dann wird gefeiert. Ein großes Fest mit Wein und gutem Essen. Der Besitzer lädt ein zu dankbarer und fröhlicher Gemeinschaft. Was für eine Aussicht!
Ja, es ist richtig. Gewalt spielt eine große Rolle im Gleichnis. Knechte werden geschlagen, gefoltert und getötet. Der Sohn, der Erbe, wird umgebracht – der Herr des Weinbergs ist tief getroffen und enttäuscht. Er kündigt den Tod der Weingärtner an. Aber das ist nicht das Ende. Am Ende steht ein Wunder vor unseren Augen. Dass die Liebe des Herrn nicht umzubringen ist. Sie gibt nicht auf, auch jetzt nicht, mit dem Tod Sohnes nicht, so erst Recht nicht. Im Gegenteil.
Ich will dem Wunder vor unseren Augen mehr glauben, als den Bildern, die uns immer und immer wieder Gewalt zeigen. Als würden Hass und Tod den Sieg über das Leben behalten. Ich will der Liebe des Herrn mehr vertrauen, als menschlichen Kämpfen um ein Erbe an Land und Macht und Ansehen. Ich will mich auf das neue Haus freuen, das Gott mit dem Grundstein Jesus Christus baut. Ich will mich auf die verborgenen Pfade der Liebe einlassen, die nicht immer gleich zu sehen sind, die übertönt werden von den Rufen nach Gewalt und Tod. Ich höre Jesu Gleichnis als eine Einladung, die verborgenen Pfade der Liebe zu sehen und zu gehen. Sie verbinden den Herrn des Weinbergs mit uns. Sie führen bei allem Elend dieser Erde in die Zukunft. Das verleiht meinem Leben Hoffnung. Gerade dann, wenn ich gerade wenig von der Liebe spüre, wenn Kampf und Streit, wenn Hass und Gewalt die Oberhand zu gewinnen scheinen. Gott hört nicht auf, um dich und mich, um alle seine Menschen zu werben mit einer Liebe, die nicht aufhört.
Was für ein Wunder wäre das, das große und dankbare Erntefest mit gutem Wein zu feiern, mit dem Herrn des Weinbergs und seinem Sohn, mit den Jüngern, mit Pharisäern, Schriftgelehrten und Ältesten. Liebe kennt verborgene Pfade. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine treue Gottesdienstgemeinde, die sich nach den Corona-Beschränkungen wieder zahlreicher zusammenfindet. Belastungen aus dieser Zeit werden zunehmend überwunden, dankbar ist die Gemeinde für spürbare frohe Botschaft, die nicht moralisch, ethisch, politisch, weltanschaulich fordert und befiehlt, sondern in allem Druck des Lebens Hoffnung und Zuversicht benötigt. Sie kann auch wieder etwas längere Predigten gut hören, wenn sie merkt, es geht um ihr Leben. Interessiert und erwartungsvoll lässt sie sich auch auf ungewohnte Entdeckungen am Bibeltext ein.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Was ich als Thema beschrieben habe, war mir selbst eine entlastende Entdeckung. Der Text legt Gewalt und Gericht nahe. Das wahrzunehmen, aber die verborgene Liebe zu entdecken und durchzuhalten, war mir eine große Motivation, an dieser Predigt zu arbeiten.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Weiter begleiten wird mich, nicht das für wahr und richtig zu halten, was scheinbar auf der Hand liegt oder offenkundig gemeint ist. Der erste Blick auch auf einen Bibeltext oder eine bekannte Deutung muss nicht dem Geist des Evangeliums entsprechen. Manchmal braucht es viele Blicke und genaues Hinschauen und Einsortieren. Das möchte ich auch künftig versuchen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Manche Formulierungen waren zu kompliziert. Der Hinweis, Gedanken auseinander zu nehmen, sie vereinfacht neu zu formulieren, war mir sehr einleuchtend. Manche Aufzählungen waren verwirrend und störend, anderes zu formalistisch und zu wenig lebensnah. All das hat meine Coach liebevoll angemerkt und mir für meine Formulierungen zu mehr Klarheit und Verständlichkeit geholfen
Link zur Online-Bibel
Zeitenwende - Predigt zu Mk 13,28-37 von Karoline Läger-Reinbold
Zeitenwende
Der Feigenbaum im Hof
Meist nimmt sie den Hintereingang zum Büro. Der Hof liegt versteckt, mit dem Fahrrad rollt sie direkt auf die Mülltonnen zu. Dort, zwischen Raucherecke und Fahrradschuppen steht diese Bank, auf der nie jemand sitzt. Oft steht dort Herr K. aus dem Erdgeschoss, nippt schweigend am Kaffee und grüßt nur zurück, niemals selbst.
Manchmal ist dies der Ort, an dem sie kurz anhält und die Regenhose überzieht, wenn es bei schlechtem Wetter nachhause geht. An allen anderen Tagen eilt sie vorbei: Das Summen des Öffners, das Klappern der Tür, diskret und neutral erfasst ein grauer Pieper ihre Arbeitszeit.
Es hat Tage, nein, Wochen gebraucht, bis sie ihn zum ersten Mal richtig gesehen hat, den riesigen Feigenbaum mit seinen großen Blättern und den kleinen grünen Früchten. Erst als Christiane aus dem ersten Stock im Herbst von Marmelade sprach, war ihre Neugier geweckt. In diesem Jahr hat sie zum ersten Mal selbst von den süßen Früchten geerntet. Ihr klebriger Saft war ein bisschen wie eine Mahnung: Vergiss uns nicht.
Inzwischen ist Winter. Die Tage sind dunkel und kurz. Im Büro ist es kalt, in den Wohnungen auch. Dicke Pullis und Decken, wenig Licht. So lang und so heiß war der Sommer in diesem Jahr. Jetzt, im November, rückt das alles in sehr weite Ferne.
Der Predigttext (Markus 13,28-37)
„An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“
Vom Ende der Tage
Das Markusevangelium erzählt hier vom Ende der Tage. Gott ist der Schöpfer des Alls, und er ist der Herr unserer Zeit.
Der Gedanke an das Ende fällt uns nicht leicht. Niemand weiß, wann es so weit ist, und plötzlich ist der Zeitpunkt da. Jede und jeder, der im persönlichen Umfeld schon einmal mit dem Tod konfrontiert war, kennt solche Gedanken. Wir wissen nicht, wann die Zeit kommt. Meist scheint sie uns viel zu früh. Dann sind wir erschrocken, komplett überfordert.
Und so ist es gut, sich das immer wieder einmal ins Gedächtnis zu holen: Lebenszeit ist begrenzt. Die der anderen und die eigene auch. Die gemeinsame Zeit mit Familie, Partnerin oder Partner, die Zeit mit den Kindern, mit Freundinnen, Freunden: Sie wird nicht für immer sein. Wachet! Und genießt, solange es möglich ist.
Und das gilt auch für die Welt um uns herum. Vieles ist einfach immer da und wirkt unveränderlich. Mit der Zeit merke ich: An alten Häusern bröckelt die Fassade. Der liebste Baum wird einfach morsch. Aus dem Teich meiner Kindheit ist ein Tümpel geworden. Nichts ist von Dauer. Da verändert sich was. Was ich für gewiss hielt, gerät auf einmal ins Wanken.
Vergänglichkeit ist das Thema. Das Ende der Zeit und das Ende des Lebens. Der Gang auf den Friedhof gehört in diesen Tagen für Viele von uns dazu. Mit grünen Tannenzweigen, mit violetten, roten, weißen Lichtern auf dem Grab erinnern wir beides: Die Bitterkeit des Todes und die Hoffnung auf die Ewigkeit. Da ist das, was vorbei ist, und das, was noch kommt.
Ein Gefühl von Untergang
Wenige Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sprach Bundeskanzler Olaf Scholz zum ersten Mal von einer „Zeitenwende“. Das war Ende Februar. Seitdem spüren wir von Woche zu Woche mehr, was das für uns bedeutet: Da ist Krieg in Europa. Das belastet mich und macht Angst. Alles ist teurer geworden – wie warm kann ich heizen, damit die Rechnung noch bezahlbar bleibt? In den Nachrichten geht es um Armut und Hunger in den Ländern des Südens – und nun auch bei uns. Der Fortschritt, die Zukunft, die ich für sicher hielt, wird auf einmal in Frage gestellt. Und das geht so schnell – wie komme ich gedanklich da nur hinterher?
Raue Zeiten, ein „Epochenbruch". Manches, was ich in diesen Wochen höre, erinnert mich an Visionen der Endzeit, wie auch die Bibel sie kennt. Die Zerstörung des Heiligtums, der Weg ins Exil. Unheil, Tod und großes Leid sind den Menschen zur Zeit Jesu vertraut. Gleichzeitig reden sie von Gottes Güte und Treue. Was also bleibt? Was ist mein Anker im Tod und im Leben? Wo ist meine Rettung, wenn alles ins Wanken gerät?
Was bleibt
Aller Vergänglichkeit, allen Veränderungen steht einer entgegen: Der Vater. Gott selbst. Jesus, sein Sohn, dessen Ruf wir im Gleichnis hören: Seht euch vor! Wachet! Beachtet die Zeichen der Zeit. Seid kluge Zeitgenossen, macht euch Gedanken über das Ende, über den Tod und das Leben. Habt keine Angst, aber behaltet im Blick, dass wir zerbrechlich und endlich sind. Wachet! Und passt aufeinander auf. Was immer geschieht und euer Leben durcheinander bringt: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Haltet euch fest daran, sie geben euch Sicherheit.
Worte für die Ewigkeit
Wie aber lauten diese Worte? Gemeinsam können wir sie sammeln: Vielleicht die großen zuerst: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Zuversicht. Trost.
Und für den Hausgebrauch tun es vielleicht auch schon kleine Worte: Ich komm‘ vorbei, sagt die Freundin. Ein Gefühl von Verbundenheit. Ich hab‘ die Suppe gekocht, die du so gerne magst. Da ist der Gruß auf dem Handy, der sagt: Ich denke an dich. Da ist die Nachbarin, die im Vorbeigehen einen Apfel aus dem Garten schenkt. Ein Anruf am Abend: Wie war denn dein Tag?
Kleine Zeichen, die mich berühren. Kleine Schätze, die bleiben. Worte und Signale, die aufbauen, nicht zerstören. Ich bin in Gedanken bei dir. Ich zünde eine Kerze an. Ich trage das Gute im Gedächtnis, auch wenn es lange Zeit her ist. Anker und Haltepunkte: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Was auch immer geschieht: Es gibt Dinge, Symbole, die tragen uns durch. Bis zum Ende der Zeit und darüber hinaus.
An diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr gedenken wir der Menschen, die verstorben sind. Wir vergessen sie nicht, wir bewahren sie in der Erinnerung. Wir legen sie in Gottes Hand, wir nennen ihre Namen im Gebet und stellen Lichter für sie auf.
Erinnerung im Marmeladenglas
Von der süßen, braunen Feigenmarmelade ist genau noch ein Glas da. Sie hütet es wie einen kleinen Schatz in ihrem Vorratsschrank. Vielleicht wird sie es bald mal öffnen. Wie konserviertes Sonnenlicht ist das, Erinnerung und Vorgeschmack zugleich. Ein bisschen Sommer in diesem Herbst.
Der Feigenbaum steht da, in seinem Eck im Hinterhof. Still sammelt er im Boden neue Kraft. Sie denkt an ihn, wenn sie jetzt wieder im Homeoffice sitzt. Himmel und Erde werden vergehen. Der Feigenbaum bleibt. Vielleicht trägt er im Sommer wieder seine süße, klebrige Frucht.
Dunkelheit, Abschied, Trauer und Sorge. Das alles nimmt sich heute seinen Raum. Jedoch, im Kerzenlicht glänzt auch viel Schönes. Kleine Schätze wie das Marmeladenglas. Worte und Bilder, Gerüche und Orte, die sie verbindet mit denen, die ihr fehlen. Und mit denen, die da sind und zu ihr gehören. Glaube und Hoffnung und Liebe.
Und schließlich ist da Gott. Der Ewige. Die Stimme, die sagt: Ich bin da. Ich selbst bin das Wort, das bleibt.
Und da ist Christus, der zu uns spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Ich bin bei euch alle Tage, heute, morgen und in Ewigkeit.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Das Gedenken der Verstorbenen („Totensonntag“) ist vielerorts ein eigener Kasus und daher nicht alleiniges Thema dieser Predigt. Individuelle Trauer und allgemeine Traurigkeit, die dunkle Stimmung des Novembers in diesem krisenhaften Jahr sind zu bedenken – um dann den Blick zu richten auf den und auf das, was diesem Dunkel gegenübersteht: Das Wort des lebendigen Gottes.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Erinnerung an den real existierenden Feigenbaum, aus dessen Früchten ich in diesem Jahr tatsächlich Marmelade kochen konnte. Die Erkenntnis, dass dies ein Bild dafür sein könnte, wie ich Erinnerung bewahren kann, um sie zur Wurzel meiner Hoffnungen zu machen: Erinnerung und Vorgeschmack zugleich.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Ruf zur Wachsamkeit angesichts des nahenden Endes hat nichts Bedrohliches. Er ist Ausdruck von Klugheit und Weitsicht.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Große theologische Einsichten und Begriffe in kleine, alltägliche, persönliche Erfahrungen zu „übersetzen“ – das ist eine lohnende Aufgabe und große Kunst. Dabei gilt jedes Mal: Weniger ist mehr.
Link zur Online-Bibel
Getragen bist du - Predigt zu Mk 2,1-12 von Heinz Behrends
„Steh auf, Christian, du bist gesund“, sagt der Professor in der Kinderklinik. Und er steht auf. Mutter und Vater nehmen ihn fest in den Arm. Mit wankenden Knien, erleichtert verlassen seine Eltern mit ihm die Klinik. Erhofft haben sie es, aber nicht geglaubt. Eine schwere Last fällt von den Schultern der Familie. Zwei Jahre Behandlung hat er mit seinen 6 Jahren hinter sich. Leukämie. Mit blauen Flecken nach dem Fußballspiel in der Pampersliga hatte es angefangen. 2 Jahre Chemo, Erbrechen, Haarausfall. Bange Sorge um sein Leben. Erschöpft fallen sie nach der guten Nachricht abends ins Bett.
Doch der Vater bleibt lange wach. Die Erinnerung begleitet ihn durch die nächsten Tage. Wie er nach der Diagnose an Christians Bett sitzt und ihm alles durch den Kopf geht. Was haben wir getan, dass unser Sohn vom Tod bedroht ist?
Was hat er getan? Nichts. Was soll er auch mit seinen 5 Jahren getan haben, dass er solch eine Strafe verdient? Sind wir schuld? Bin ich es?
Er schaut zu den anderen Eltern auf der Station herüber. Die Mutter ist mit ihrem kleinen Sohn extra aus Griechenland angereist, weil sie von dem guten Ruf der Klinik gehört hat. Alles um jeden Preis für ihn tun. Ein Vater gibt seiner Tochter ein Gummibärchen. Sie sind alle von dem Gefühl bedrängt, ihren Kindern was schuldig geblieben zu sein. Nun wollen sie was gut machen. Wer könnte als Vater und Mutter das nicht nachvollziehen? Immer meint man, man habe etwas an den Kindern versäumt und hätte mehr tun können.
Wenn uns etwas Unbegreifliches überkommt, ist die erste Frage: Warum? Was habe ich getan? Womit hab‘ ich das verdient? Keine Sünde kann so groß sein, dass ich elend dahinsieche, dass es anderen besser ergeht als mir. Die Frage, ob wir gut genug sind, ob wir genügen, schlummert in uns. Die Frage nach der Gerechtigkeit, nach Liebe. Darum sind wir hellwach, wo schlimmes passiert und fragen: „Warum?“ „Soll das eine Strafe sein?“ Was könnte größere Strafe sein als der Verlust der Unversehrtheit, der Gesundheit?
Jesus lehnt diesen Zusammenhang entschieden ab. Die vier, die den Gelähmten zu ihm tragen, beschäftigen sich mit dieser Frage erst gar nicht. Für sie scheint es ziemlich einfach zu sein: Unser Freund ist krank, der soll wieder gesund werden. Sie packen an und tragen ihn dorthin, wo Jesus gerade predigt. Sie überwinden die Barriere der Menschenmenge, lassen ihn durchs Dach und legen ihm ihren Freund vor die Füße. Ihr fester Wille hat einen Weg gefunden. Doch was dann geschieht, verblüfft sie. Jesus sagt: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben.“ Was soll denn das nun?
Also doch Krankheit als Strafe für die Sünde, die erst geklärt werden muß?
Nehmen wir die Lähmung des jungen Mannes einmal sehr weit. Da ist ein Mensch, der ist besetzt von dem Gefühl, ich kann nichts, ich tauge nichts, ich bin nichts wert. Aus Angst wird er zu nichts fähig sein. Alles wird ihm misslingen, er wird sich scheu zurückziehen und das Leben nicht wagen. Auch Gott wird er nicht auf Augenhöhe begegnen können. Er ist völlig gelähmt.
Zu diesem sagt Jesus: „Was hat man dir getan?“
Jeder Mensch hat seine Geschichte und ist verwoben in die Geschichte seiner Väter und Mütter. Jeder hat seinen Grund für das, was er tut, sei es noch so schräg und dumm. Wir kriegen alle was mit. Nicht, was hast du getan, sondern, was hat man dir getan?
Und das ist ja wahr: Wenn man längere Zeit krank darnieder liegt, dann kommt die ganze Geschichte des Lebens oft hoch. Um heil zu werden, muss die Beziehung, die Vergangenheit geklärt werden. Die Sünde ist nicht Ursache meiner Krankheit, aber meine Geschichte muß geklärt werden, damit ich mehr als gesund werde. Alle Pläne und Gedanken wollen neu sortiert werden. Und Jesus spricht ihn an: „Mein Kind, dir sind deine Sünden vergeben“.
„Mein Kind“.
Er sagt zu einem erwachsenen Mann, der vielleicht so alt ist wie er selbst: „Mein Kind“.
„Mein Sohn“, übersetzt Luther. Jesus öffnet einen Raum zur Heilung. Du bist schutzbedürftig wie ein Kind. Und ich trage dich wie ein Kind. Du wirst geheilt sein und unbefangen, befreit wieder anfangen können wie ein Kind.
Der Meister der Sprache des Ersten Testaments und ihr genialer Übersetzer Martin Buber sagt, dass es das Wort, was bei uns Vergebung heißt, in der Bibel gar nicht gebe. Dort heißt es genau übersetzt: „tragen“. Ich, Christus, trage deine Sünde, deine Geschichte und bringe dich in Beziehung zu dir, dass du gesund und heil wirst.
Und dann sind da ja auch noch die vier. Denn als sie ihn heruntergelassen und Jesus vor die Füße gelegt haben, heißt es: „Als Jesus ihren Glauben sah.“ Nicht den Glauben des Gelähmten, sondern den Glauben der vier Freunde. Ist das nicht klasse! Es bedarf nicht des festen Glaubens des Kranken, sondern der Familie, der Freunde.
Es gibt keinen stellvertretenden Glauben, aber es gibt einen Glauben, der mir vorangeht, wenn ich selber nicht mehr kann. Was ist das viel wert, wenn der Arzt, die Schwestern, die Familie, die Freunde mich in der Krankheit umgeben und von diesem Glauben getragen sind. „Als er ihren Glauben sah.“
Wenn man einmal ernsthaft erkrankt, ist der Glaube erschüttert, da muß man sich ja mit vielen Reaktionen auseinandersetzen. Du liegst, er steht. Ohne es zu wollen, sieht er auf dich herab. Das kann demütigend sein. Menschen ziehen sich zurück, weil sie unsicher werden, wie sie mit mir umgehen sollen. Oder sie sagen: „Wenn du mich brauchst, rufe doch einfach mal an“. Oder sie rücken Dir auf den Pelz, sitzen ratlos am Bett, Du findest keine Ruhe. Oder sie haben große Erklärungen: „Du darfst nicht ‚Warum‘ fragen, sondern ‚Wozu‘?“ „Ach ja, weiß ich doch. Aber jetzt frage ich mich ‚Warum‘?“ Sie gehen mit Dir um als seist Du wieder ein Kind, tätscheln auf Deinen Händen rum. Ihr Bedauern raubt Dir die letzte Würde in einer Situation, in der Du um Dein Selbstbewusstsein kämpfst.
Nichts von all dem tun die vier Freunde, sie sind von einem großen Vertrauen getragen. Es ist zum Greifen nahe und Jesus sieht es sofort an ihrer Körperhaltung, in ihren Augen. Ich denke an Dich, ich bete für dich, ich besuche dich, ich lasse dir den Raum, den du brauchst, ich benutze deine Krankheit nicht, um meine Probleme und Ängste abzuarbeiten. Der Gelähmte hat sich in ihr Vertrauen legen lassen. Und sie haben ihn förmlich aufgehoben und nicht auf ihn herabgeschaut.
„Als er ihren Glauben sah, sprach er: Mein Sohn, steh auf, nimm dein Bett und gehe heim.“ Und er steht auf. Er nimmt seine Bahre und geht heim. Die Lähmung hat ihn verlassen. Was ihn getragen hat, kann er jetzt selber tragen. Seine Beziehungen sind klar. Du bist mein Kind, hat Christus ihm gesagt. Die Freunde sind bis zur Heilung und darüber hinaus an seiner Seite. Nun kann er wieder selbst gehen. Er ist gesund und geheilt.
Als Christians Familie die gute Nachricht erhalten hat, schreiben die Freunde aus der englischen Partnergemeinde: „Wir haben jeden Abend in unserem even song für Christian gebetet.“ Da verlässt die große Anspannung von zwei Jahren seinen Vater. Es ist der einzige Augenblick, in dem er seine Tränen nicht mehr aufhält und weint.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin Kurprediger auf der ostfriesischen Insel Langeoog. Der Gottesdienst um 11 Uhr wird von ca 120 Menschen besucht, Gäste, Touristen, vor allem Paare zwischen 50 und 75, dazu einige jüngere Eltern mit Kindern. Der Kirchraum wirkt dadurch gut gefüllt. Das Gefühl einer geleerten Kirche nach Corona bleibt ihnen erspart. Die Besucher*innen machen Urlaub, suchen Erholung. Sie haben Zeit, hören zu und sind offen für Fragen ihres Lebens.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Eigene Erfahrungen und langes Nachdenken über Beziehung von Krankheit und Schuld. Ich bin persönlich krebs-erkrankt gewesen und habe drei weitere Personen im engstem Familienkreis, deren Krebs-Erkrankung geheilt wurde. Dazu kommen Erfahrungen aus der Krankenhaus-Seelsorge. Gemeinsam mit der Ehefrau habe ich die letzten 6 Jahre 14tägig Gottesdienst in der Klinik-Kapelle gehalten.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Glaube der anderen trägt, wenn ich selbst nicht kann. Das Feld von Schuld und Krankheit bleibt ein weites. Einheit von Körper und Seele. Meine Fragen werden nicht beantwortet werden. Sie werden vermehrt auf mich zukommen. Ich bin 74. Und bereite mich vor. Auch durch Predigtarbeit wie dieser. „Warum“ zu fragen ist sinnlos, am Ende gilt nur das Vertrauen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Coaching war ausgezeichnet, sehr detailliert, konkret. Ich konnte jeden Vorschlag übernehmen. Sie hat Überlängen gestrichen. Auf irritierenden Perspektivwechsel hingewiesen. Behutsame sprachliche Veränderungen vorgeschlagen. Auf die Wirkung der Ein-Wort-Sätze hingewiesen. Auf die Verwendung von „Jesus“ und „Christus“. Und gesagt, dass sie sich über die Predigt freut.
Link zur Online-Bibel
Eine irregeleitete Witwe - Predigt zu Mk 12,41-44 von Matthias Loerbroks
Eine Gemeinde mit Ausstrahlung – das zu sein wünscht sich jede Gemeinde, das ist auch das Thema des heutigen Sonntags. „Wandelt als Kinder des Lichts“, wurde uns im Wochenspruch aus dem Epheserbrief zugerufen. Kinder des Lichts, das sind nicht Menschen, die von Natur aus ein sonniges Gemüt haben. Gemeint ist das Licht des Evangeliums, des Alten und Neuen Testaments – ein Licht, das es mit allen Finsternissen aufnehmen kann. Kinder des Lichts strahlen dieses Licht aus, geben es weiter in ihrem Tun: Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.
Ein Ort mit Ausstrahlung – der Psalm 48 besingt die Stadt Jerusalem, den Berg Zion: Schön ragt empor sein Gipfel, daran sich freut die ganze Welt. Das hörten wir bei Jesaja als Zukunftsvision: Eines Tages werden die Völker der Welt mit ihrem Latein am Ende sein, werden nach Jerusalem ziehen, um dort Gottes Wege, Gottes Methoden zu lernen. Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen, sondern ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. So wird Weisung, Tora, vom Zion ausgehen, das Wort des HERRN von Jerusalem. Bis es soweit ist, fordert Israel sich selbst auf, im Licht des HERRN zu wandeln, hofft auf dessen Ausstrahlung.
Und wenn Jesus von der Stadt auf dem Berg spricht, die nicht verborgen sein kann, meint er natürlich nicht irgendeine hochgelegene Stadt, sondern redet von Jerusalem auf dem Zion. Er erinnert seine Hörer an die Rolle und Aufgabe Israels als Licht der Völker, Licht der Welt: Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Diese Weisung der Bergpredigt gilt auch uns Jesusjüngern aus den Völkern. Jesus hat ja, wiederum von einem Berg, seine Jünger ausgesandt, die Völker zu lehren, all das zu halten, was er ihnen geboten hat. Vor zwei Wochen war davon die Rede. Auch der Epheserbrief richtet sich an uns Nichtjuden. Einst wart ihr Finsternis, heißt es kurz vor unserem Wochenspruch. Ihr wart fremd und fern der verheißungsvollen Bundesgeschichte Israels, ohne Hoffnung und ohne Gott, jedenfalls ohne den Gott Israels, tapptet noch im Dunkeln. Jetzt aber seid ihr Licht im Herrn, nämlich Israels Mitbürger und Gottes Hausgenossen. Darum wandelt und handelt auch als Kinder des Lichts, als Gemeinde mit Ausstrahlung. Wir Jesusjünger aus den Völkern haben bereits mit dem begonnen, was Jesaja für die letzten Tage erwartet: Wir lernen Weisung vom Zion, das Wort des HERRN von Jerusalem.
Heute ist ein wichtiger Tag im jüdischen Kalender: der 9. Tag im Monat Aw, Tischa b Aw. Das jüdische Volk in aller Welt gedenkt der Zerstörungen des Tempels in Jerusalem, 586 v.u.Z. durch Babel und im Jahr 70 durch die Römer, und anderer Katastrophen in der jüdischen Geschichte. Man fastet an diesem Tag, und in den Synagogen wird das Buch Klagelieder gelesen, das die Verwüstung Jerusalems beschreibt und beklagt. Es klingt in unseren Tagen bestürzend aktuell. Israel bekennt darin seine Schuld, die in die Katastrophe geführt hat, klagt aber auch die Gräueltaten der Feinde heftig an. Der 10. Sonntag nach Trinitatis, heute in vierzehn Tagen, bezieht sich seit alters her auf diesen Tag, doch auch schon heute geht es in unseren Texten um den Zion, den Berg, da das Haus des HERRN ist, um Jerusalem. Auch im heutigen Predigttext:
Er saß dem Opferstock gegenüber und schaute, wie die Leute Kupfergeld in den Opferstock warfen. Und viele Reiche warfen viel hinein. Auch eine arme Witwe kam. Sie warf zwei Kleinmünzen ein, einen Pfennig wert. Und er rief seine Jünger herbei und sprach zu ihnen: Amen, ich sage euch: Diese Witwe, die arme, hat mehr hineingeworfen als alle, die in den Opferstock eingeworfen haben. Denn alle haben aus ihrem Überfluss eingeworfen, sie aber hat aus ihrem Mangel eingeworfen alles, was sie hatte, ihr ganzes Leben.
Sehr genau nimmt Jesus den Opferstock in den Blick, in dem Spenden für den Tempel gesammelt werden. Er setzt sich, nimmt sich Zeit, beobachtet, was das für Leute sind, die Geld geben, und wie viel sie geben. Viele Reiche geben viel Geld; sie geben, kommentiert Jesus, aus ihrem Überfluss. Und auch wenn die meisten von uns nicht zu den Reichen gehören, erkennen wir uns in dieser Beschreibung wieder. Gott ist nicht das vibrierende Zentrum unseres Lebens; das, was uns ständig fasziniert und umtreibt, was uns unbedingt angeht, aber so etwas wie Religion soll es auch geben, soll seinen begrenzten, aber ehrenvollen Platz haben in unserem Leben. Für Religion haben wir was übrig.
Da kommt eine arme Witwe, und man muss leider sagen: das war zu biblischen Zeiten fast ein Pleonasmus – ist es vielfach auch noch heute –, weshalb Witwen und Waisen in der Bibel das Kriterium für Recht und Unrecht sind. Biblisches Recht ist nicht Jedem das Seine, sondern den Armen und darum den Witwen und Waisen Recht verschaffen. Die Witwe wirft sehr wenig Geld ein, und doch erklärt Jesus feierlich – Amen, ich sage euch –, sie habe mehr eingeworfen als die anderen.
Warum aber nimmt Jesus die Spendenpraxis so genau in den Blick, setzt sich dem Opferstock gegenüber und beobachtet die Leute? Und warum hebt er dann diese Witwe so hervor, macht seine Jünger auf sie aufmerksam? Will er sie uns als Vorbild empfehlen? Gehört sie zu den Menschen, deren gute Taten andere veranlassen, ihren Vater im Himmel zu preisen? Freilich werden nur wenige Menschen die Tat der Witwe so ungeniert indiskret beobachtet haben wie Jesus. Will Jesus sagen, dass sie im Licht des HERRN wandelt und so dazu beiträgt, dass der Zion, der Berg, wo das Haus des HERRN steht, weltweit ausstrahlt?
In der Tat wird diese Geschichte oft so ausgelegt – freilich meist von Menschen, die selbst nicht arm sind –, und vielleicht ist das auch der Grund, warum sie heute Predigttext ist. Doch es ist kein guter Umgang mit der Heiligen Schrift, sich unter jedem Absatz den Satz zu denken: Gehe hin und tue desgleichen – auch da, wo er gar nicht steht. Wir nehmen uns ein Beispiel an Jesus – es ist immer gut, das zu tun – und sehen genau hin.
Kurz zuvor ist Jesus nach langer Wanderung in Jerusalem eingetroffen – in der Erwartung, dass sich dort die Konflikte zwischen ihm und seinen innerjüdischen Gegner zuspitzen werden. Erst wird er von den Volksmassen begeistert begrüßt, die ihn per Akklamation zum König machen – als Gesalbten, als Messias, als Christus. Seine Gegner, die führenden Kräfte um den Tempel herum, schmieden schon Pläne, wie sie ihn beseitigen können. Doch die Unterstützung durch die einfachen Leute hält sie davon ab, gegen ihn vorzugehen: Sie fürchten sich vor dem Volk. Bereits am nächsten Tag verschärft Jesus seinerseits den Konflikt mit den Tempelkreisen. In einer spektakulären Aktion treibt er die Händler aus dem Tempel. Er zitiert dabei ein verheißungsvolles Wort aus dem Buch Jesaja: Mein Haus soll ein Bethaus sein für alle Völker – neben dem Lehrhaus für alle Völker, von dem wir schon hörten. Er zitiert im selben Atemzug aber auch ein sehr kritisches Jeremia-Wort: Ihr habt eine Räuberhöhle daraus gemacht. Zu Jesu Zeiten ist der Tempel ein Riesenbetrieb, in dem sehr viel Geld umgesetzt wird. Und dieser Betrieb ist eng verflochten, im besten Einvernehmen mit der römischen Kolonialmacht, die ihn als Einnahmequelle nutzt. Diese Aktion war also dazu angetan, nicht nur die tempelnahe Oberschicht zu blamieren, sondern auch die Römer, die eigentlichen Machthaber, zu alarmieren. Sie lässt zudem vermuten, dass Jesus die Spenden für den Tempelschatz nicht gerade wohlwollend betrachtet, seine Position gegenüber dem Opferstock auch ein Entgegen meint, Opposition.
Auch danach ist Jesus täglich im Tempel, er lehrt, lässt sich in Gespräche verwickeln. Mit den Sadduzäern aber, der Priesterpartei, und mit ihren Verbündeten auch unter den Ältesten und den Schriftgelehrten – den Kollaborateuren der römischen Machthaber – kommt es zu keiner Verständigung: Ihr irrt, sagt Jesus ihnen, ihr irrt sehr. Eine der Kontroversen betrifft den Umgang mit Geld – darf man dem Kaiser, den Römern Steuern zahlen? –, wirft bereits die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Geld auf, von Credo und Kredit. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, sagt Jesus, und Gott, was Gottes ist. Gibt die Witwe Gott oder doch eher dem Kaiser, den Römern, was Gottes ist?
Mit einem der Schriftgelehrten aber stimmt Jesus vollkommen überein darüber, was das höchste der vielen Gebote ist. Jesus zitiert da das Grundbekenntnis Israels, das Schma Israel, in dem ein Zusammenhang anklingt zwischen der Einheit Gottes und der ungeteilten Ganzheit seiner Anhänger: Höre Israel, der HERR, unser Gott ist Einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen. Da könnte das Tun der Witwe doch vorbildlich sein. Wenn sie auch nur einen Pfennigbetrag gibt, er besteht doch aus zwei Münzen. Sie aber macht nicht Halbe-Halbe, will keine halbe Sachen, sondern gibt das Ganze. Man mag das unvernünftig und leichtsinnig finden, aber es ist ein eindrucksvolles Zeugnis ihres Vertrauens, dass dieser Gott die Witwen und Waisen, die Armen, die Fremdlinge erhält, sie mit ihrer Hingabe also nicht ins Leere fällt; sie gibt Gott in jeder Hinsicht Kredit. Aber in der Sicht Jesu, jedenfalls in der Sicht des Markus, ist doch zweifelhaft, ob es sich bei dieser Gabe tatsächlich um einen Dienst am Gott Israels handelt, oder um Sklavendienst für ganz andere Mächte und Gewalten.
Denn unmittelbar vor unserem Text beschimpft Jesus andere Schriftgelehrte. Sie fressen die Häuser der Witwen, sagt er. Sie werden sie ja nicht mit vorgehaltener Pistole ausgeraubt haben, sondern mit religiösen, ideologischen Mitteln dazu gebracht, ihnen ihre Habe zu geben. Und dann sieht Jesus einer solchen armen Witwe zu, wie sie ihre letzte Habe dem Tempel gibt, und macht seine Jünger auf sie aufmerksam. Dies Zusammentreffen gibt zu denken, zumal das die beiden einzigen Stellen sind, an denen im Markusevangelium das Wort Witwe fällt. Und unmittelbar nach unserer Geschichte hören wir, wie einer seiner Jünger Jesus bewundernd und staunend auf das Gebäude aufmerksam macht: Sieh nur, was für Steine! Was für Bauten! Doch Jesus entgegnet: Ja, sieh die gewaltigen Bauten; hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben. Diese Umrahmung ist der Deutungsrahmen unserer Geschichte. Jesus beklagt die Witwe als ein Opfer ideologischer Irreführung, ein Opfer derer, die Häuser fressen. Er warnt vor irregeleiteter Hingabe an falsche Instanzen und Objekte. Wandelt als Kinder des Lichts – das meint nicht nur das tröstliche Licht des Evangeliums in finsteren Zeiten, sondern auch sein aufklärendes Licht, das uns davor bewahren soll, im Zwielicht, im Nebel von Ideologien, Verblendungen und Verschleierungen in die Irre zu gehen, den Gott Israels mit allerlei religiös aufgeladenen Gestalten, Mächten und Wahrheiten zu verwechseln.
Doch es ist nicht nur Warnung, nicht nur Klage, dass Jesus unseren Blick auf diese arme Witwe lenkt. Witwen, besonders arme Witwen, sind in der Bibel oft ein Bild für ein Israel ohne Zukunft, jedenfalls mit gefährdeter Zukunft – etwa die, deren Sohn Jesus im Lukasevangelium auferweckt. Jesus will die Witwe nicht denunzieren, sich von ihr nicht distanzieren. Er solidarisiert sich mit ihr. Sie hat ihr ganzes Leben gegeben, sagt er über sie in einer auffälligen Formulierung. Auch wenn damit gemeint ist: Alles, was sie zum Leben hatte – und so wird es auch meist übersetzt –, Jesus sagt das, kurz bevor er selbst sein Leben hingibt. So wird die Witwe zwar zum Gegenbild, aber damit auch zum Bild fürs Leiden und Sterben Jesu. Er macht sich die verlorene Sache, die Irrwege und damit die zukunftslose Situation seines Volkes zu eigen, für die diese Witwe steht, übernimmt sie, nimmt sie ihm damit ab: Das Großartige wie das Schreckliche aller menschlichen und darum leider oft auch unmenschlichen Religion nimmt er weg, nimmt er auf sich. In dieser Hingabe Jesu, für die diese Witwe ein etwas irritierendes Bild ist, solidarisiert sich zugleich der Gott Israels, der seinen Sohn hingibt, mit seinem Volk und dadurch mit allen Völkern. Es tut uns gut, am heutigen 9. Aw daran erinnert zu werden.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Gemeinde, in der die ganz Reichen und die ganz Armen meist nicht da sind; doch unter denen, die da sind, müssen mehr Menschen aufs Geld gucken als noch vor einem Jahr; andere befürchten, das demnächst tun zu müssen. Die Geschichte vom Scherflein der Witwe wird bekannt sein, meist aber als Vorbild verstanden werden, als Lob vorbehaltloser Hingabe. Das aber halte ich nach genauerem Hinsehen für falsch.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der 7. August ist auch Tischa b Aw, Gedenken der Zerstörungen des ersten und des zweiten Tempels in Jerusalem. Es ist gut, wenn christliche Gemeinden am Leben ihrer jüdischen Geschwister und Nachbarn Anteil nehmen, vor allem an einem so wichtigen Tag. Können die Texte des Sonntags mit ihren Bezügen zu Jerusalem, Zion und Tempel dazu beitragen?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Licht des Evangeliums beider Teile der Bibel ist nicht nur tröstliches Licht in den Finsternissen des eigenen Lebens und des Weltgeschehens, sondern auch aufklärendes Licht in ideologischen Verblendungen, Irrungen und Wirrungen. Die Kinder des Lichts sollten dieses Licht freilich nicht als Besserwisser von oben herab verbreiten, sondern – wie ihr Herr – in Solidarität mit den Irregeleiteten.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es ist immer schmerzlich, Gedanken und Formulierungen zu beerdigen, die zuvor mit Lust gezeugt und unter Schmerzen geboren wurden. Aber es verhilft der Predigt zur Konzentration, hilft darum auch ihren Hörern dabei, sich ihrerseits zu konzentrieren.
Link zur Online-Bibel
#notspeechless - Predigt zu Mk 16,1-8 von Henriette Crüwell
Liebe Geschwister im Glauben,
Grausame Leerstellen machen fassungslos
Der syrische Künstler Khaled Barakeh arbeitet mit Fotografien, die er im Internet findet. Männer und Frauen sind dort zu sehen, die nur einen Augenblick entfernt im Krieg ein Kind verloren haben und es nun fassungslos in den Armen halten. Dabei hat er die toten Kinder so aus dem Bild geschnitten, dass nur noch ihre Umrisse als weiße Leerstellen zurückbleiben und sie auf neue Weise sichtbar werden. Barakeh entlarvt damit die perverse Logik des Krieges und verleiht dem sprachlosen und abgründigen Entsetzen Ausdruck. Ein Entsetzen, das in seiner Heimat schon viel zu lange zum Alltag gehört und das seit dem 24. Februar 2022 nun auch uns in Europa beherrscht.
Leerstelle: das leere Grab.
„Er ist nicht hier!“ rufen auch die Frauen am Ostermorgen verzweifelt, als sie ihren langjährigen Gefährten dort nicht mehr finden, wo sie ihn zu finden glauben. Auch vor ihnen tut sich jene schwindelerregende Leere auf, wie sie Menschen zu allen Zeiten befällt, wenn sie ertragen müssen, dass Gewalt und Krieg ihnen das Liebste genommen haben, was sie hatten.
Die Kriegsfolie des Markusevangeliums
Der Evangelist Markus schreibt sein Evangelium im Jahr 70 unserer Zeitrechnung unter dem Eindruck des ersten jüdischen Krieges, in dem der Römische Kaiser Vespasian mit seinen Truppen über das Land herfiel und Jerusalem dem Erdboden gleichmachte. Welchen Sinn macht da die Rede von der Auferstehung eines Einzelnen vor solchem Wahnsinn, angesichts der Leichenberge von Jerusalem?, fragt Markus. Das Halleluja will ihm nicht so leicht über die Lippen kommen. Es ist ihm einfach nicht möglich, wie Paulus triumphierend zu jubeln: „Tod, wo ist dein Sieg? Wo ist Dein Stachel?“
Markus: Offenes Grab – Offenes Ende
Markus lässt den Zweifel zu und hält die Leerstelle der Sprachlosigkeit und des Entsetzens offen. Denn es ist doch wahr: Sie ist durch nichts anderes zu füllen als allein durch jene, die nicht mehr da sind. Und so findet sein Evangelium auf den ersten Blick ein merkwürdiges und geradezu verstörendes Ende. Die Frauen fliehen, schweigend und zutiefst verzweifelt. Das Grab ist leer. „Er ist nicht hier!“
Sehnsucht nach dem Füllen der Leere
Erst nachträglich sind Erscheinungsgeschichten dazugekommen, die dann noch erzählen, wie er doch wider alle Vernunft da ist. Vielleicht weil die ersten Zuhörer und Leserinnen dieses Schweigen schier nicht aushalten konnten. Vielleicht weil ihre Sehnsucht nach einem Happy End übergroß war. Und wer könnte es ihnen heute, wo es uns wieder die Sprache verschlägt, verdenken?
Die Leerstelle aushalten, gemeinsam zum Grab gehen
Aber wir dürfen diese Leerstelle nicht leichtfertig übergehen, damit jene, die aus dem Leben gerissen sind, nicht vergessen werden, und die Hoffnung wider alles Hoffen nicht abbricht. Wie gut also, dass dieser offene Schluss des Markusevangeliums in diesem Jahr unser Osterevangelium ist. Denn wir stellen uns damit an die Seite all jener, deren Welt gerade wieder wie ein Kartenhaus zusammenbricht, und die wieder ohne Worte sind. Und so gehen wir heute Morgen mit ihnen und den drei Frauen ans Grab, wie unzählige vor ihnen und nach ihnen, um zu begreifen, was einfach nicht zu begreifen ist und um Trost zu finden in aller Untröstlichkeit. Und Markus beschreibt das so:
Als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingeht nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich.
Das trotzige Evangelium als Gegenerzählung
Liebe Geschwister im Glauben, den Augenzeugen, den Männern und Frauen, die damals dabei waren, hat es die Sprache ebenso verschlagen wie den Menschen im zerstörten Jerusalem im Jahr 70 unter Kaiser Vespasian, wie 2015 im zerbombten Aleppo und jetzt im umkämpften Kiew 2022. Markus schreibt sein Evangelium für sie alle, denen der Terror in den Knochen steckt und die nichts mehr in den Armen halten als Leere. Und dass das Markusevangelium mit diesem entsetzen Schweigen endet, ist das pure Gefühl des Zusammenhalts, der aushält, was nicht auszuhalten ist, der dabeibleibt und nicht wegschaut, dessen Worte aus dem Schweigen kommen und die so - auf diese einzig mögliche Weise - dafür einstehen, dass der Tod nicht das letzte Wort behält.
Das Kind weist den Weg
Denn das Grab ist nicht leer. In den anderen Evangelien sind es Engel, die dort Wache halten. Himmlische Boten. Bei Markus aber ist es niemand anders als ein Jüngling, ein Jugendlicher unter Jugendlichen, die zu allen Zeiten auf den Schlachtfeldern dieser Welt sterben. Ein Sohn unter Söhnen und Töchtern von Müttern und Vätern, die vor Sorge um sie nicht ein noch aus wissen. Ein Kind unter Kindern, die auch im Bombenhagel, im Luftschutzkeller und in den Metrostationen neu geboren werden. Als Zeichen, dass auch mitten im Tod immer und immer wieder das Leben beginnt. Solange Menschen auf dieser Erde leben. „Geht hin und sagt seinen Jüngern, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er gesagt hat,“ fordert dieses Kind die trauernden Frauen auf, deren Namen an jene Orte erinnern, wo der Krieg am verheerendsten gewütet hat: Maria aus Magdala und Salome, die für Jerusalem steht.
Nicht Flucht, sondern Relecture
Und Weglaufen vom Grab heißt nicht, dass die Frauen dem Auftrag des Kindes nicht folgen. Denn es geht gar nicht darum, die Schuhe zu schnüren und nach Galiläa zu laufen, sondern darum, das Evangelium noch einmal auf der ersten Seite aufzuschlagen und es von Neuem zu lesen. Denn es beginnt doch in Galiläa. Dort, wo die Römischen Besatzer ihren Vernichtungsfeldzug begonnen haben. Und eben dort erschallt die Stimme des Rufers in der Wüste. Eben dort tritt Jesus das erste Mal mit seinem Evangelium des Friedens in das Licht der Öffentlichkeit. Eben dort verknüpft der Evangelist den Schrecken des Krieges mit dem Leben und Sterben Jesu. An all jenen Orten, wo die Römer nur eine große Leere hinterlassen haben, erzählt er von den Wundertaten und von der Liebe, die dort durch diesen Messias neu zum Leben erwacht. Bis hin zum Kreuz, Markus kennt keinen anderen und keinen größeren Trost als diesen! Es ist seine Therapie, nämlich immer und immer wieder den Weg Jesu erzählend nachzugehen, bis er zum eigenen wird.
Aufständische Osterworte in der Sprachlosigkeit
Als die Journalistin Shila Bejaht Kulturschaffende zum Ukraine-Krieg befragen wollte, war stets die erste Reaktion: „Ich bin so sprachlos…! Vereint in ihrer Sprachlosigkeit, ergreifen nun Künstlerinnen und Musiker aus der ganzen Welt unter dem Motto #notspeechless doch das Wort. Sie suchen nach den richtigen Worten. Aber sie schweigen nicht. Wie Markus werden sie zu Zeuginnen und Zeugen. Sie nennen das Böse böse und den Krieg Krieg und sprechen von ihrer Hoffnung wider alle Hoffnung, vom Frieden, den der Krieg nicht geben kann.
Und manchmal hilft ihnen dabei nur noch die Musik. Schweigend sitzt der Pianist Malakoff Kovalski am Klavier, aber seine Finger finden tastend Töne, Klänge, die sich immer wieder abbrechend doch zu einer Melodie zusammenfügen und die Hoffnung wider alles Hoffen hörbar werden lassen.
Wiedersehen. Die Fülle in der Leere
Liebe Geschwister im Glauben, stehen auch wir mit ihnen zusammen auf, reden mit ihnen, weinen mit ihnen und schweigen mit ihnen. Damit die Opfer nicht vergessen werden und die Hoffnung auf Frieden nicht abbricht.
Stehen auch wir mit ihnen auf und tun, was in unserer Macht steht, um jenen beizustehen, die zu Abertausenden in sprachlosem Entsetzen fliehen.
Stehen auch wir auf und beten um Frieden – zu jenem, der als Schöpfer von Himmel und Erde immer wieder inmitten des Bösen und sogar im Tod noch Raum zum Leben schafft.
Und wo uns die Hoffnungskraft ausgeht, hören wir den Rat des Kindes im leeren Grab am Ostermorgen: „Geht nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn wiedersehen!“
Immer wieder und immer wieder können wir uns aufs Neue hinein erzählen in dieses Leben, das Jesus Christus heißt und von Gott kommt, und unsere Geschichte mit der seinen verweben und verknoten, bis auch uns die Augen aufgehen und wir mit brennendem Herzen erkennen, dass Christus der Auferstandene an unserer Seite ist.
Dann können wir vielleicht leise ins Halleluja einstimmen und glauben: Er ist nicht mehr hier. Er lebt und auch wir sollen leben. Er füllt unsere Leere mit seinem Leben. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Ostersonntag viertel nach zehn im Offenbacher Westend, wo viele Familien schon seit Generationen wohnen und fest verwurzelt sind. Nach der Osternachtsfeier am frühen Morgen kommen 30-40 Menschen verschiedenen Alters, überwiegend aber Ältere, die zu den regelmäßigen Sonntagsgottesdienstbesucher:innen gehören. Sie sind theologisch interessiert und biblisch versiert. Manche erzählen, dass durch die Bilder aus der Ukraine eigene sprachlose Erinnerungen wach werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich empfinde ein tiefe Sprach- und Ratlosigkeit angesichts des Krieges in Europa. Und immer wieder sagen mir andere im Gespräch: „Ich bin sprachlos und fassungslos!“ Und mich bewegt die Frage, wie in diese Sprachlosigkeit (oder aus ihr heraus?) von Auferstehung reden? Deswegen war ich sehr dankbar, dass in diesem Jahr ausgerechnet der eigentliche Schluss des Markusevangeliums der Predigttext für Ostersonntag ist. Denn Markus lässt die Sprachlosigkeit zu, hält sie aus und bietet einen Weg des Glaubens an, in dem er die Leerstelle als Leerstelle markiert und sie für die Gegenwart des Auferstandenen offenhält.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich war es eine große Entdeckung, dass Markus sein Evangelium für vom Krieg traumatisierte Menschen geschrieben hat. Siehe dazu ausführlich: Andreas Bedenbender, „der gescheiterte Messias“, Leipzig 2019. Das bewusst offene Ende und die Aufforderung von Ostern und dem leeren Grab her die eigene Geschichte mit dem Weg Jesu zu verbinden, im Jahr 2022 eine sehr tröstliche Osterbotschaft.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das offene Ende.
Link zur Online-Bibel
Eine andere Gemeinschaft - Predigt zu Mk 10,35-45 von Elisabeth Rauh
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Heute, am Sonntag Judika, hören wir als Predigttext Worte aus dem Markusevangelium:
35Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. 36Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? 37Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. 38Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? 39Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. 41Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
Wir haben es uns doch verdient!
Liebe Gemeinde,
da gingen zu Jesus zwei gute Christenmenschen aus der evangelischen Kirche und sprachen zu ihm:
Bitte, Jesus. Das kannst du doch nicht ablehnen. Wir haben doch alles getan, sieh her: Wir sind auf die Antikriegsdemo gegangen. Wir haben Petitionen geschrieben. Wir haben Kleidung und Windeln gespendet. Wir haben uns auf die Liste eingetragen, um Flüchtlinge zu unterstützen.
Wir haben Energie gespart. Wir haben Bio-Lebensmittel eingekauft und überhaupt essen wir nur noch ganz wenig Fleisch. Wir haben uns ein Elektroauto gekauft. Wir sind beim Klimastreik mitgelaufen.
Wir haben der Nachbarin, die in Quarantäne war, Einkäufe gebracht. Wir haben unsere Masken immer getragen. Wir sind geduldig zuhause geblieben, haben Tests gemacht, haben uns impfen lassen, zeigen jedem das Zertifikat vor.
Wir sind gegen Sexismus am Arbeitsplatz. Wir verwenden inklusive Sprache. Wir gehen Diskussionen nicht aus dem Weg.
Wir haben hierarchische Strukturen in unserer Kirche beseitigt. Wir sind alle Brüder und Schwestern, wir haben Gremien, Quoten, Beschwerdestellen. Wir sind herrschaftskritisch, demütig und selbstreflektiert.
Also, bitte, Jesus: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Wir haben es uns doch verdient. Das kannst du doch nicht ablehnen.
Jakobus und Johannes als gute Christenmenschen
Liebe Gemeinde, stellt euch Jakobus und Johannes als gute Christenmenschen vor.
Die beiden sind treue Nachfolger Jesu von Anfang an. „Die Donnersöhne“ hat Jesus die Brüder genannt. Die Gleichnisse, die Jesus erzählt, und die Wunder, die er vollbracht hat, haben sie begeistert. Mit großem Eifer haben sie alles zurückgelassen, was ihnen lieb war. Jesu Bewegung der Gerechtigkeit und Liebe hat sie in ihren Bann gezogen. Ihr Glaube an das Gute hat an Kraft gewonnen.
Schon einmal, vor gar nicht langer Zeit, haben die beiden erlebt, dass sie bei Jesus eine besondere Position hatten: Das eine Mal, als Jesus sie mit Petrus auf den Berg geführt hatte, als das Weiß ihre Augen blendete, Elija und Mose auftraten und eine Stimme von oben her sagte: „Dies ist mein geliebter Sohn! Hört auf ihn!“
Ihr Versprechen, niemandem von dem Erlebten zu erzählen, haben sie eingehalten; aber es beschäftigt sie sehr. Wie wird es sein, wenn das Reich Gottes kommt? Und es muss doch etwas bedeuten, dass Petrus und sie beide die einzigen waren, die das miterlebt haben?
Die Plätze rechts und links direkt neben Jesus, am Tisch in seiner Herrlichkeit, scheinen ihnen genau angemessen für die Treue, den Eifer und die Opferbereitschaft, die sie für Jesus aufbringen. Sie wollen ganz nah bei Jesus sein. Das kann er doch nicht ablehnen.
Auf der richtigen Seite stehen
Liebe Gemeinde, wann war es je so einfach wie heute, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen? Hier die Guten, dort die Bösen. Glasklar scheint es in dieser weltpolitischen Lage und bis auf wenige an den politischen Rändern sind sich alle einig: Putin, das ist so einer, der als Herrscher gilt, der sein Volk niederhält, ein Mächtiger, der ihnen Gewalt antut. Der in der Ukraine Krankenhäuser und Kindergärten bombardiert. Der keine freie Meinungsäußerung in seinem Land zulässt und Kinder ebenso wie Alte verhaften lässt, wenn sie das Selbstverständliche öffentlich äußern: Nein zum Krieg!
Und auf der anderen Seite der ukrainische Präsident Selenskyj: Er bringt nicht sich selbst in Sicherheit, sondern kämpft mitten unter den Ukrainer*innen um sein Land. Zu sehen ist er in seinen Videobotschaften nur noch in Armeekleidung, er strahlt dabei Entschlossenheit, Zuversicht und Tapferkeit aus.
So sieht keiner aus, der herrscht und tyrannisiert. Sondern eher einer, der seinen Leuten dient. Ein „Diener des Volkes“, wie in der Fernsehserie, durch die er berühmt wurde. Der sich selbst aufopfert für das Gute. Ein Held, der sein Leben aufs Spiel setzt.
Kaum je war es scheinbar so einfach, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Hier die Guten, dort die Bösen.
Ein Herzenstext
Es ist wirklich ein Herzenstext von mir, der heute zu predigen ist. Mich inspiriert es, wie Jesus die Jünger auffordert, eine andere Gemeinschaft zu leben. Herrschaftsverhältnisse sind nicht gottgegeben. So ist es unter euch nicht: Der Dienst an der Gemeinschaft ist das, was sie strukturieren soll.
Ich mag den Text. Das ist riskant. Denn wenn ich ihn zu leicht nehme, missbrauche ich ihn, um mich zu vergewissern, dass ich auf der richtigen Seite stehe. Ich ziehe ihn dann heran, um auf andere zeigen zu können.
Ich mag den Text. Wenn ich mich ihm stelle, dann weigert er sich, mich zu vergewissern. Sondern er mahnt: Zeigst du mit einem Finger auf andere, zeigen drei auf dich. Sei dir nicht zu sicher.
Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. So ist es unter euch nicht. Ich bin skeptisch gegenüber jedem Heldenkult. Selbst wenn es um den, wie ich ausdrücklich finde, tapferen Selenskyj geht. Die Realität ist keine Fernsehserie, kein Comic, kein Theaterstück. Die Akteure sind keine Idealtypen, die irgendwelche Charakterzüge verkörpern. Es sind echte Menschen, widersprüchlich, ambivalent, beeinflussbar, bestechlich. Selbst wenn sie Gutes wollen, schaffen sie auch Böses.
Eine andere Gemeinschaft
Jesus sagt: Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.
Wie sieht dann eine Gemeinschaft aus, die nach dem Wort Jesu lebt?
Es gibt in ihr keine Herrschaft, sondern alle sind gleichermaßen an Entscheidungen beteiligt. Es gibt kein Oben und kein Unten. Alle achten aufeinander und unterstützen sich gegenseitig. Die Glieder sorgen einträchtig füreinander. Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit. (1Kor 12,25f) So wird an anderer Stelle in der Bibel die ideale Gemeinschaft beschrieben.
Aber die Erfahrung sagt: Jede Gemeinschaft muss sich irgendwie organisieren. Das gilt für Städte und Dörfer, für Sportvereine oder für Kirchengemeinden. Selbst die kleinste Arbeitsgruppe, der kleinste Hauskreis braucht eine Struktur, wie Aufgaben und Verantwortlichkeiten verteilt sind. Leitung ist also eine Notwendigkeit. Leitung bedeutet aber auch Macht. Und weil Menschen widersprüchlich, ambivalent, beeinflussbar und bestechlich sind, kann Macht immer missbraucht werden.
Es hat keinen Sinn, so zu tun, als gäbe es in einer Gemeinschaft keine Macht. Vielmehr geschieht der schlimmste Machtmissbrauch häufig dort, wo die Mächtigen so tun, als seien sie Diener. Vorsicht vor dem Herrschen, welches sich als Dienen tarnt!
Die ideale, herrschaftsfreie Gemeinschaft ist ein Ideal, keine Realität. Aber sie sich vorzustellen, gibt die Richtung vor für das Gestalten und Kontrollieren von Macht: Leitung muss der Gemeinschaft dienen.
Checkt ihr’s nicht?
Liebe Gemeinde, das Markusevangelium ist voll von Szenen, in denen man den Jüngern, wenn Jesus es nicht schon selbst sagt, zurufen möchte: Checkt ihr’s nicht?
Anders als die Jünger, die Jesu Ankündigungen nicht glauben wollen, kennen wir Christ*innen den Ausgang der Geschichte: Jesus wird gekreuzigt. Und dieses Schicksal scheint an all diesen Stellen durch. Hier auch. Für den Evangelisten Markus ist die Kreuzigung der Schlüssel zum Verstehen der Jesusgeschichte.
Ostern wird es nicht ohne den Karfreitag. Und die Herrlichkeit des Christus gibt es nicht ohne das Kreuz. Die Worte Jesu im Markusevangelium deuten darauf immer wieder hin. Das ist für die Jünger Jesu nicht zu verstehen. Sie haben noch nicht gesehen, wie Jesus am Kreuz stirbt, und noch nicht die Auferstehungsbotschaft gehört.
Aber auch für uns ist es schwer zu begreifen. Gott durchkreuzt unsere Vorstellungen von Hoheit und Niedrigkeit, unsere Erwartungen von Frieden, Herrlichkeit, Erlösung.
Gottes Herrlichkeit ist dort zu entdecken, wo die Jünger, wo wir sie am wenigsten erwarten: In der Erniedrigung, in der Verfolgung, Folter und Hinrichtung Jesu. In seinem Leiden, stellvertretend für alles Leiden der Welt. Da zeigt Gott, wem seine Herrlichkeit verheißen ist.
Das gute Leben für alle
Gute Christenmenschen sein, das ist etwas Großartiges. Dazu sind wir berufen. Aber es ist nicht das Ticket in die Herrlichkeit Gottes. Der Gott, der sich ans Kreuz nageln lässt, folgt nicht dieser menschlichen Logik von Leistung und Belohnung.
Wenn ich trotzdem weiter zu Antikriegsdemos gehe, meine Maske trage, Menschen helfe, gegen Hierarchien anrenne, dann einfach deshalb, weil es richtig ist. Weil mein Glaube mir einen Kompass gibt, der heißt: das gute Leben für alle. Und das reicht als Begründung völlig aus. Es geht niemals darum, mir bei Gott etwas zu verdienen.
Ich glaube aber, dass Segen darauf liegt, nach diesem Kompass zu handeln. Im besten Fall wird ein Strahl von Gottes Herrlichkeit spürbar, wie ein erster warmer Frühlingssonnenstrahl.
Jesus Christus sagt: Der Menschensohn ist gekommen, dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Ich glaube fest daran: Am Tisch in Gottes Herrlichkeit wird am Ende rechts und links genug Platz für alle sein.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Sonntagabendgottesdienst in der Evangelischen Studierendengemeinde. Die Gottesdienstgemeinde ist gemischt aus kritisch-protestantischen, skeptisch-distanzierten, engagierten und Gemeinschaft suchenden Studierenden und jungen Erwachsenen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt und zugleich gehemmt hat mich der unmittelbare Eindruck des Kriegsausbruchs in der Ukraine. Die Zuordnungen schienen allzu eindeutig.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Besonders beschäftigt hat mich das Gegenüber von Herrschen und Dienen. Gerade in der Kirche wird Herrschen zuweilen als Dienen verschleiert. Ich sehe mich aufgefordert, weiterhin wachsam und selbstkritisch auf (kirchliche) Strukturen zu schauen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Den Rauswurf eines zwar aufwändig erstellten, aber letztlich nur selbstdarstellerischen Abschnitts über Hegel.
Link zur Online-Bibel
Wer bin ich? - Predigt zu Mk 8,31-38 von Julia Neuschwander
I
Liebe Gemeinde,
„Wer bin ich?“ – So lautet der Titel eines Gedichts von Dietrich Bonhoeffer. Der evangelische Theologe hat dieses Gedicht im Gefängnis geschrieben. Im Jahr 1943 wurde er verhaftet und in das Wehrmachtsgefängnis in Berlin-Tegel gebracht. Nach wochenlangen Verhören und Schikanen beruhigte sich die Lage für ihn allmählich etwas. Dietrich Bonhoeffer durfte in seiner Haft gelegentlich Pakete und Besuche empfangen. Er sprach in diesen Zeiten wohl viel mit Mithäftlingen und auch mit seinen Bewachern, die bei ihm Nähe, Rat und Trost suchten und fanden. Er schrieb in dieser Zeit viele Briefe, Gedichte und Abhandlungen. Einiges davon konnte er mit der Hilfe von ihm zugetanen Gefängniswärtern aus dem Gefängnis schmuggeln. Einer dieser Texte ist das Gedicht aus dem Jahr 1944 mit dem Titel „Wer bin ich?“.
„Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr au seinem Schloss. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. (….) Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle (….) ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?“
Dietrich Bonhoeffer beschreibt in dem Gedicht, wie er spürt, wie ihn die anderen wahrnehmen, nämlich als frei und freundlich und klar, aber dass seine inneren Gefühle ganz andere sind, nämlich dass er sich unruhig, sehnsüchtig und krank fühlt. Er fühlt sich zerrissen. Wer ist er wirklich, der, den die anderen wahrnehmen, der gelassene, heitere, feste Mensch, der seine Haft geduldig erträgt und noch andere tröstet? Oder der ohnmächtig Bangende, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
„Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?“ fragt er sich. „Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?“ Sein Gedicht mit mehreren Strophen beendet er schließlich mit den Zeilen:
„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
II
„Wer bin ich? Dein bin ich, o Gott!“ – Wie Dietrich Bonhoeffer stellen auch wir uns heute manchmal die Frage: Wer bin ich?
Wenn wir selbst uns das fragen – die eine nachdenklich, der andere verzweifelt –, geht es oft um Erwartungen. Das können die Erwartungen der Eltern, der Freund:innen sein oder die Erwartungen des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin, vermischt mit unseren eigenen Erwartungen an uns selbst. Jugendliche fragen sich, welchen Beruf sie ergreifen möchten. Sie fragen sich, wie will ich mal leben? Welche Ausbildung mache ich am besten? Wo komme ich wie an? Erwachsene fragen sich, wie sie die nächsten Jahre gestalten wollen, das nächste Jahrzehnt. Wie viele Kinder möchte ich haben? Welche Beziehung möchte ich führen? Wo wohne und arbeite ich? Was ist dabei mit den Träumen, die ich mal als Kind oder Jugendliche hatte?
Nicht immer lassen sich alle Erwartungen, fremde und eigene, unter einen Hut bringen. Dabei geht es eigentlich gar nicht darum, dass andere mir sagen, wer ich sein soll. Sondern dass ich mich selbst frage und versuche, dies herauszufinden: Was ich möchte und wer ich wirklich bin.
Eine wichtige theologische Erkenntnis der letzten Jahrzehnte ist, dass wir Menschen das, was wir sind, also unsere eigene Identität, gar nicht selbst erschaffen können. Es ist eine Illusion zu glauben, dass es Vollkommenheit in dem geben könnte, wie wir uns selbst erschaffen oder entwickeln. Ob wir sehr klug, sehr erfolgreich, sehr schön, sehr gläubig oder sehr glücklich sein möchten – es wird uns nicht gelingen. Denn unser Leben ist ein Leben mit Brüchen und Krisen, mit Anfängen und Abbrüchen. Wir haben dabei nicht alles selbst in der Hand.
Wenn alte oder sehr alte Menschen manchmal sehr bewusst auf ihr Leben zurück blicken, dann erscheint ihnen ihre Lebenslinie nur selten klar und gerade. Ihr Leben – stellen sie im Rückblick fest – verlief gar nicht linear, sondern in vielen Schleifen und Mäandern wie ein natürlicher Flusslauf in der Landschaft. Es gab Aufbrüche und Umzüge, geplante und ungeplante. Menschen, die ihnen wichtig und nahe waren, starben oder waren nach einer gewissen Zeit nicht mehr in ihrer Nähe. Die eigenen Pläne ließen sich nicht immer umsetzen, sei es in Bezug auf die eigene Berufswahl, in der Kindererziehung, im Umgang mit der eigenen Familie oder mit Freund:innen oder sei es der Wunsch, ein Haus zu bauen oder ein Stück Land zu bewirtschaften.
Vieles von dem, was sie sich vorgenommen hatten, konnten sie, so stellen sie im Nachhinein fest, nicht vollständig umsetzen. „Jetzt erkenne ich stückweise in einem Spiegel ein dunkles Bild, aber dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“, so heisst es dazu im 1. Korintherbrief im 13. Kapitel. Wer bin ich? Das zu erkennen, ist uns Menschen nicht wirklich möglich. Unser Leben verläuft bruchstückhaft und wir Menschen erkennen uns selbst wohl auch nur bruchstückhaft in dem, was uns wirklich ausmacht. Das wiederum zu erkennen, ist sehr ernüchternd und für viele mit Scham und Traurigkeit verbunden.
Gleichzeitig heisst es auch für uns: Wir sind dadurch in diesem Leben befreit davon, selbst zu voller Identität und Ganzheit zu kommen. Wir dürfen unsere Anstrengungen leichter nehmen. Wir dürfen unseren Anspruch, perfekt sein zu wollen, getrost aufgeben. Gott ist es, der uns ganz und gar kennt. Die göttliche Geisteskraft ist es, die allein uns ganz macht, heil und vollkommen in all unserer Gebrochenheit und Unvollkommenheit. Wenn wir dies erkennen, können wir vielleicht ähnlich vertrauensvoll wie Dietrich Bonhoeffer sagen: „Wer bin ich? Dein bin ich, o Gott!“
III
Die Passionszeit bietet mir die Chance zu einem „Mehr“ zu kommen, zu einem „Mehr“ als das, was vor Augen ist. Ich kann mich in den nächsten Wochen aus meinem dunklen Spiegel heraus aufmachen und Klarheit suchen. Ich versuche, freundschaftlich zu mir selbst zu sein und die Dinge an mich heran zu lassen. In der Zeit bis Ostern nehme ich mir die Zeit, dem Ruf in die innere und äußere Freiheit zu folgen. Ich kann herausfinden, dass ich „ganz anders“ bin, also Seiten habe, die ich noch gar nicht kenne. „Will mir jemand nachfolgen….“, heißt dann: Ich kann herausfinden, dass ich befreit und vollendet auf die Zukunft hin bin. In dieser Zukunft wird es keinen Tod, keine Tränen, kein Geschrei, keinen Schmerz und kein Leid mehr geben. „Will mir jemand nachfolgen….“, heißt: Ich suche mir kein fremdes Kreuz, keine fremde Not, kein fremdes Leiden, dass ich mir aufschultern lasse, sondern ich trage ganz einfach nur mein eigenes Kreuz. Dieses Kreuz muss ich nicht lange suchen, es ist sowieso schon bei mir da, weil ich Mensch bin. Ich kann in den nächsten Wochen erfahren, dass ich Mensch bin, begrenzt, bedürftig und angewiesen auf andere wie ein kleines Kind, das gehalten und getragen wird. Das kann für mich zugleich ernüchternd und tröstlich sein.
IV
Dietrich Bonhoeffer hat die Worte unseres Predigttextes schon im Jahr 1932 in seinem Buch mit dem Titel „Nachfolge“ aufgenommen. „Das Leben des Nachfolgenden bewährt sich darin, dass nichts zwischen Christus und ihn tritt.“ So schrieb er 1932 darin.
Für ihn war Nachfolge ein großes Freiheitsmoment in den bedrückenden Zeiten, in denen er lebte. Nachfolge bedeutete für ihn ganz konkret innere und äußere Freiheit. Sie gab ihm Mut und Kraft zum Widerstand gegenüber Adolf Hitler, gegen den Nationalsozialismus und den Antisemitismus, der sich immer mehr entwickelte. Das war das „Mehr“ für ihn, das er für sich als Christ gefunden hatte.
Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Trachtet nach dem, was auf Erden ist! Daran entscheidet sich heute viel, ob wir Christen Kraft genug haben, der Welt zu bezeugen, dass wir keine Träumer und Wolkenwandler sind. Dass wir nicht die Dinge kommen und gehen lassen, wie sie sind, dass unser Glaube wirklich nicht das Opium ist, das uns zufrieden sein lässt inmitten einer ungerechten Welt. Sondern dass wir, gerade weil wir trachten nach dem, was oben ist, nur umso hartnäckiger und zielbewusster protestieren auf dieser Erde.“
Dieser Text von Dietrich Bonhoeffer hat diese Woche eine neue Aktualität gewonnen durch die Invasion der russischen Armee in ein europäisches Nachbarland. In Europa ist das in den letzten Jahren für unfassbar Gehaltene wieder Wirklichkeit geworden: die gewaltsame Missachtung von Grenzen, Freiheitsrechten und Menschenleben. Für uns Christinnen und Christen in der Tradition von Dietrich Bonhoeffer bedeutet das, dass wir gerade jetzt unsere Stimme erheben müssen für eine gerechte Welt in Freiheit und Frieden. Mit Gottes Hilfe.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Diese Woche ist die russische Armee in die Ukraine eingefallen. Viele Menschen in der Ukraine sind auf der Flucht oder andere in Lebensgefahr, viele gestorben.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mein Widerstand gegen die für mich zunächst unfassbare Forderung im Text „Verleugne dich selbst“ und meine Begeisterung für die kraftvollen Texte Dietrich Bonhoeffers.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Theologische (Neu)Entdeckungen wie „Rechtfertigung von Lebensgeschichten“, „fragmentarische Identität“ und „Nachfolge“.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hat im letzten Redaktionsschritt – durch Aussortieren einiger Themen – in ihrer Aussage eine Zentrierung erfahren.