"Er dämpfet Sturm und Wellen und was mir bringet Weh" (EG 351,2) - Predigt zu Mk 4,35-41 von Luise Stribrny de Estrada
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Es ist Nacht auf dem See Genezareth: Die Jünger sitzen in ihrem Boot. Wind ist aufgekommen, der sich schnell zum Sturm entwickelt hat. Er reißt an Segel und Masten und füllt mit seinem Geheul die Nacht. Er peitscht die Wellen hoch, so dass sie sich in immer neuen Anläufen auf das Boot werfen - wie eine Meute hungriger Löwen, die seine Insassen verschlingen wollen. Nachdem die Jünger, erfahrene Seeleute, alles versucht haben, was in ihrer Macht steht, müssen sie erkennen, dass ihr Tun sinnlos ist: Das Schiff füllt sich immer mehr mit Wasser. Todesangst schüttelt sie. Sie haben die Hoffnung auf Rettung aus diesen brodelnden Wassern fast aufgegeben.
Da erinnert sich einer von ihnen daran, dass sie ihren Meister völlig aus den Augen verloren haben. Er hat ihnen auch nicht geholfen, das Segel einzuholen oder das Schiff auszuschöpfen. Der Jünger schaut sich um und entdeckt Jesus auf dem Achterschiff, friedlich auf ein Kissen gebettet - und schlafend. Zorn steigt in ihm auf: Das kann doch nicht wahr sein, dass er in all diesem tobenden Chaos dort liegt, wie ein Kind im Schoss seiner Mutter und friedlich schläft! Und Angst hat er auch keine, während sie vor Furcht vergehen. Wenn er schon von der Seefahrt keine Ahnung hat, sollte er wenigstens mit ihnen zusammen hier auf der Bank sitzen und ihnen Mut zusprechen oder beten. Stattdessen liegt er dort in aller Herrgottsruhe und schläft! Er hat sie völlig vergessen, sie, seine besten Freunde und Gefährten! Der Jünger wechselt empörte Blicke mit seinen Kameraden, dann stehen zwei von ihnen auf und schütteln Jesus wach. Sie fragen aufgebracht: „Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen?“ Sie merken selbst kaum, dass sie meinen: „Hilf uns doch, kümmere dich um uns! Sorge dafür, dass wir nicht sterben müssen.“ Denn er ist jetzt wirklich ihre letzte Hoffnung, nachdem alles andere umsonst gewesen ist. Vielleicht vermag er anderes als sie...
Ich bringe mich mit ins Spiel. Was tue ich, wenn mich die Stürme des Lebens schütteln? Wenn alles über mich hereinbricht und ich die Orientierung verloren habe? Dann versuche ich, ruhig zu werden, um wieder die Oberhand zu gewinnen. Ich bemühe mich, Ordnung in das Chaos zu bringen. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Mir helfen dann Gespräche mit Menschen, die mir vertraut sind oder auch mit Außenstehenden, die mehr Abstand haben. Wenn ich in Worte fasse, was mich bedrängt, trägt das dazu bei, das Bedrohliche zu zähmen. Ich bin ihm nicht mehr hilflos ausgeliefert.
Zurück zu Jesus und den Jüngern in ihrem Fischerboot: Nachdem seine Freunde ihn geweckt haben, ist Jesus sofort wach und erfasst die Situation, in der sie sich befinden. Er hat die unausgesprochene Bitte der Jünger verstanden und weiß, dass er handeln muss. Er steht auf und fährt den Sturm und das Meer an: „Schweig! Verstumme!“ Er gebietet über die Naturgewalten, als pfeife er eine Meute Hunde zurück, die sich auf ein Opfer stürzen will. Sofort hören sie auf ihn und gehorchen - innerhalb von Minuten legt sich der Wind, und es entsteht eine große Stille. Die Jünger empfinden sie umso deutlicher, weil noch kurz vorher ein lautes Pfeifen, Zischen und Knattern um sie gewesen war.
Jetzt ist es ganz ruhig. Nichts ist mehr zu hören. Sie können wieder Atem schöpfen. Sie sehen sich um. Jeder einzelne begreift: Ich lebe noch. Ich bin gerettet. Ich bin nicht untergegangen in der tobenden See. Das hat Jesus getan. (Augenblick der Stille)
In diese Stille hinein fallen die Worte Jesu: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Es klingt vorwurfsvoll und etwas verärgert. Sie haben doch schon einiges mit ihm erlebt: dass er die Schwiegermutter des Petrus gesund gemacht hat und einen Aussätzigen geheilt hat, vor dem alle aus Angst vor Ansteckung geflohen waren. Sie müssten doch eigentlich begreifen, dass er eine besondere Beziehung zu Gott hat, der ihm die Macht gibt, Dinge zu tun, die alle Vorstellung überschreiten.
„Habt ihr noch keinen Glauben?“ Die Freunde wissen nicht, was sie antworten sollen, und trauen sich nach dem, was sie gerade erlebt haben, nicht, irgendetwas zu sagen. Was meint er mit „Glauben“? Woran? Hätten sie denn ahnen können, dass er imstande ist, das Meer zu zähmen, nur durch zwei kurze Befehle? Das kann doch kein Mensch! Und sie fragen sich verstohlen untereinander, halb flüsternd, voller Furcht: „Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind?“ Sie können sich noch nicht vorstellen, dass er mehr ist als jeder Mensch. Sie begreifen noch nicht, dass ihr Meister dasselbe tun kann wie Gott. Erst viel später, nach seinem Tod, werden sie erkennen und glauben, dass er der Sohn Gottes ist.
Uns geht es anders als den Jüngern. Wir wissen, wer Jesus ist, und dass seine besondere Kraft von Gott herkommt. Gott hat ihn geschickt, um uns Menschen zu retten, das glauben wir. Wir leben nach dem Geschehen zu Ostern, das den Jüngern erst die Augen öffnete. Aber heißt das, dass wir in extremen Situationen mit dem Glauben keine Probleme haben? Würde die Frage: „Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?“ an uns einfach abprallen - oder träfe sie uns auch?
Trauen wir Jesus in Momenten, in denen wir verzweifelt sind, zu, dass er uns daraus befreien kann? Nicht alle von uns werden darauf sofort mit „ja“ antworten. Und wir haben recht damit, nicht allzu gewiss ja zu sagen, denn jeder von uns hat auch schon erlebt, dass Gott uns oder einen Menschen, der uns lieb ist, aus einer existentiellen Bedrohung nicht gerettet hat. Da ist der Bruder an Krebs gestorben, obwohl wir um seine Heilung gebetet haben. Da musste der Mutter das Bein amputiert werden, obwohl wir Gott für sie gebeten hatten. Der Krieg wurde erklärt und geführt, obwohl wir Friedensgottesdienste und Mahnwachen organisiert hatten. Die Ehe ist zerbrochen, obwohl wir Gott so sehr gebeten hatten, sie zu erhalten. Gott greift nur selten selbst ein, um Menschen aus der Not zu befreien. Und wir haben -anders als die Jünger- Jesus nicht greifbar nahe, so dass wir ihn nur wachzurütteln brauchten. Wir erleben Gott oft als weit entfernt, als schwer oder gar nicht erreichbar.
Trotzdem glaube ich, dass Gott will, dass Leiden, Not und Unrecht aufhören. Er will, dass Katastrophen abgewendet oder Zerstörtes wiedergutgemacht wird. Gott will, dass Gerechtigkeit schließlich belohnt wird, dass aber auch Frevel vergolten wird und Lüge schweigt. Er möchte, dass die Dinge an ihren rechten Ort gestellt werden und etwas Vollendetes entsteht. Am Ende wird Gott alles zurechtrücken, so dass die Tränen getrocknet werden und Liebe und Gerechtigkeit regieren – aber zu einer Zeit, die nur er kennt.
Lasst uns in der Zeit, in der wir leben, uns gegenseitig im Glauben stärken, dass sich all das eines Tages verwirklichen wird. Dazu gehört auch, sich Geschichten zu erzählen, wie Gott Menschen geholfen hat, oft durch unsere Unterstützung. Geschichten wie diese:
Eine Ärztin erzählt: „Als junge Ärztin wurde ich eines Abends an das Bett eines Patienten gerufen. Er war gerade ins Krankenhaus eingeliefert worden, er hatte Herzprobleme und es stand sehr schlecht um ihn. Er war nicht bei Bewusstsein. Der ältere Kollege, der ihn untersucht hatte, war der Meinung, dass er die Nacht nicht überleben würde. Ich nahm mir vor, während meines Nachtdienstes regelmäßig nach ihm zu schauen. Fast jede Stunde ging ich zu ihm und redete beruhigend mit ihm. Ich streichelte seine Hand. Einmal sang ich ihm sogar etwas vor. Als es Morgen wurde, lebte er noch! Ich war erleichtert, aber noch war er nicht über den Berg. Er wurde auf eine andere Station verlegt, und ich ging in den Urlaub. Ich hörte nichts mehr von meinem Patienten.
Jahre später lernte ich bei der Visite einen neuen Patienten kennen. Er war wegen einer Hüftoperation zu uns gekommen. Am Ende der Visite sagte er zu mir: ‚Ich habe das Gefühl, dass ich sie kenne. Ihre Stimme ist mir so vertraut. Wenn ich sie höre, habe ich ein ganz warmes Gefühl.‘ Ich konnte mir das nicht erklären, aber es ließ mir keine Ruhe. Ich nahm mir seine Krankenakte vor und las darin. Darin fand ich einen Bericht über einen Krankenhausaufenthalt vor vielen Jahren. Und mir wurde klar: Es war derselbe Patient, den ich stündlich besucht und für den ich gesungen hatte. Er hatte überlebt - und tief in seinem Unterbewussten hatte sich die Erinnerung an jene Nacht und meine Stimme gehalten, die ihn herausgesungen hatte aus seiner Todesnot.“
Ein Wunder.
Geschichten wie diese können viele von uns erzählen und damit anderen Mut machen. Welche ist ihre?
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich denke an Menschen, die erlebt haben, dass Gott nicht eingegriffen hat, um ihnen zu helfen. Bei den Beispielen, die ich aufführe, z.B. dass Gott die Ehe nicht gerettet hat oder ein Verwandter an Krebs gestorben ist, stehen mir bestimmte Menschen aus der Gemeinde vor Augen. Sie fragen sich: Warum passiert mir das? Warum lässt Gott das zu? Wir kann ich damit leben, ohne meinen Glauben zu verlieren?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mir hat gefallen, wie bildlich im griechischen Urtext der Sturm und die Wellen beschrieben werden, wie Jesus dann nur zwei kurze Befehle gibt und eine große Stille eintritt. Ich habe bei dieser Geschichte die illustrierte Kinderbibel von Kees de Kort vor Augen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich wird die Suche nach, aber auch die Offenheit für die Wunder des Alltags weiter begleiten. Ich glaube, dass Viele sich nach Wundern sehnen, ich auch, danach, dass unsere Welt durchlässig wird für Gott und sich der Himmel öffnet. Oft geschieht das anders, als wir denken.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich fand die Idee der Coach gut, einen Abschnitt in die Nacherzählung der biblischen Geschichte einzubauen, in dem ich davon erzähle, was ich in den Stürmen des Lebens tue.
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09.02.2025 - 4. Sonntag vor der Passionszeit
Von verborgener Liebe - Predigt zu Mk 12,1-12 von Andreas Schwarz
1Jesus fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. 2Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. 3Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. 4Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. 5Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. 6Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 7Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! 8Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. 9Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. 10Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. 11Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«? 12Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.
In meiner Studentenbude hatte ich zeitweise ein Poster hängen. Darauf war mit einer Ansicht von oben ein Landschaftsbild zu sehen. Wald vor allem, aber auch ein schmaler Pfad. Alles war in einem dunklen Grün. Dichte Bäume überall, Sträucher, ein Bach. Dazu stand in Englisch ein Spruch: Love knows hidden paths – Liebe kennt verborgene Pfade.
Ich gebe zu, das war ganz schön kitschig, diese Kombination von Wort und Bild. Das Gefühl sollte angesprochen wird und irgendwie hat es bei mir gewirkt. Ich habe mir das ins Zimmer gehängt. Es sah gut aus und klang angenehm. Und wahr scheint es mir auch zu sein. Mit der Liebe ist das so eine Sache, die ist nicht immer gleich zu sehen oder zu spüren. Oft ist sie gut verborgen. Ich entdecke sie nicht gleich. Anderes liegt darüber, verdeckt sie.
Hass, Gewalt und Totschlag sprechen lauter und deutlicher. Sie schreien mich sozusagen an, brüllen ihre blutrünstigen Bilder, sodass ich gar nicht mehr erkenne, dass es Liebe gibt. Leise und verborgen. Markus erzählt in seinem Evangelium dieses Gleichnis. In der Lutherbibel trägt es die Überschrift: Von den bösen Weingärtnern. Damit ist die Spur gelegt, das Böse zu hören und zu sehen, weil dort geschlagen, gefoltert und getötet wird.
Ich frage mich: Wo ist da Liebe? Ist da noch Raum für die Liebe?
Eine unangenehme Spannung liegt in diesem Evangelium. Jesus erzählt das Gleichnis der religiösen Elite, Hohepriestern Schriftgelehrten und Ältesten. Sie könnten hören, dass Jesus von ihnen erzählt, dass sie sie Weingärtner sind. Ihnen wird der Weinberg genommen, der Zugang zum Reich Gottes. Aber spannend ist es auch, weil es um Jesus geht. Kritische Fragen hatten sie ihm gestellt. Was machst du da, Verkäufer und Käufer aus dem Tempel zu jagen, Tische der Geldwechsler und Stände der Taubenhändler umzustoßen? Wer hat dir das erlaubt? Was für ein Mandat hast du dafür?
Mehr Vorwürfe und Anklagen als Fragen sind es, die die Hohepriester und Schriftgelehrten an Jesus richten. Da ist kein Interesse an Antworten zu spüren, sondern Menschen suchen Indizien für einen Prozess. Die Atmosphäre ist mehr als spannend, sie ist aufgeladen. Da lodert der Wunsch, diesen Jesus loszuwerden, als würden sie denken: ‚Der stiftet Unruhe, der bedroht die gewohnten Abläufe, der verwirrt die Leute, der stellt unsere Autorität in Frage.‘
Liebe kennt verborgene Wege. Leicht zu erkennen sind sie nicht. Wege, die zwischen Jesus und der religiösen Führung im Volk eine Verbindung herstellen, gibt es offenbar nicht.
Ich will euch eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Liebe und Vertrauen. Ein Mensch liebt seinen Weinberg, er liebt die Natur, die Arbeit an der frischen Luft. Das ist mühsam, es kostet Zeit und Kraft und Schweiß. Von Anfang an. Den Weinberg anpflanzen; gute Setzlinge haben, die richtige Lage sehen, guten Boden finden. Dabei immer zu wissen, es dauert. Und es gibt keine Sicherheit. Ich kann nur tun, was mir möglich ist. Also schütze ich meinen Weinberg vor Tieren und ungebetenen Gästen und ziehe einen Zaun darum. Ich grabe eine Kelter für die Reben später und baue einen Turm. Damit man Gefahren frühzeitig sehen und rechtzeitig dagegen vorgehen kann. Es gibt viel zu bedenken und viel zu tun. Aber es hat eine Aussicht. Wenn das Wetter mitspielt, die Sonne scheint, Regen fällt, dann kann ich bald ernten. Und aus der Ernte wird dann ein Fest. Dann wird mit Wein und gutem Essen gefeiert. Ich liebe meinen Weinberg. Und ich vertraue meinen Weingärtnern. Die kennen mich ja, die haben es gut bei mir. Sie haben Arbeit und Lohn, können wohnen und Geld verdienen. Ich vertraue ihnen meinen Weinberg an. Am Ende werden wir uns alle freuen, gemeinsam. Ich liebe meinen Weinberg, ich vertraue meinen Weingärtnern, dass sie diese Liebe spüren und mit ihrer Zuverlässigkeit und Treue darauf antworten. Wie sollte das auch anders sein? Liebe mit Liebe zu beantworten.
Aber das Unerwartete, das Unfassbare geschieht. Die Weingärtner beantworten meine Liebe und mein Vertrauen mit Gewalt. Den Knecht, den ich zu ihnen schicke, um die Ernte abzuholen, schlagen sie und schicken ihn mit leeren Händen zurück. Rebellion gegen meine Liebe und mein Vertrauen ist das. Offener Widerstand. Fast so etwas wie eine Kriegserklärung. Oder eine Provokation? Wie soll ich damit umgehen?
Das werde ich tun: Ich schicke wieder einen Knecht. Und wieder wird der Opfer von offener Gewalt.
Und jetzt? Ich schicke noch einen Knecht. Der wird sogar getötet.
Und jetzt? Ich höre nicht auf, ich schicke immer wieder Knechte. Manche werden geschlagen, manche getötet.
Siehst du, liebe Gemeinde, die verborgene Liebe des Besitzers? Wie er sich um seine Weingärtner müht? Wie er um ihre Liebe kämpft, sie nicht aufgibt. Und sind die Opfer noch so groß? Hört er denn nie auf zu werben, zu lieben? Wo ist denn seine Grenze?
Er überschreitet sie. Er geht den letzten und schwersten Schritt. Er schickt keinen Knecht mehr, er schickt seinen Sohn. Mehr Liebe geht nicht. Wie viel Überwindung, wie viel Schmerz kostet das? Ich kann es nur ahnen, nicht verstehen.
Liebe kennt verborgene Pfade. Sie geht schwere Wege. Sie riskiert, missverstanden oder ausgenutzt zu werden. Sie nimmt in Kauf, diese Liebe mit dem Leben zu bezahlen. Sie opfert sich und kommt womöglich nicht einmal zum Ziel. Aber sie gibt nicht auf. Um keinen Preis.
Und es geschieht, was sich abgezeichnet hatte: Die Weingärtner wittern ihre Chance, wenn sie den Erben beseitigen. Sie töten ihn und werfen seine Leiche vor den Zaun.
Meine Geschichte hat ein grausames Ende gefunden. Die Liebe ist nicht zum Ziel gekommen. Die Gewalt hatte das letzte Wort. Der Tod hat gesiegt. Ganz offenkundig. Kann die Geschichte weitergehen? Sind Liebe und Vertrauen gescheitert?
Das Evangelium ist trotz alledem nicht zu Ende. Im Gegenteil. Jetzt kommen wir in diese Geschichte hinein; wir als Zuhörer und Leser sind jetzt gefragt. Wir sind dabei in dieser Geschichte. Mit unserem Leben und unserem Glauben. Das haben die Menschen, zu denen Jesus redet, damals auch gespürt.
Hier geht es um mehr als um eine unterhaltsame Geschichte. Es geht um Liebe und Vertrauen. Und auch um Enttäuschung. Aber es geht auch um Zukunft. Die Liebe zum Weinberg ist ungebrochen. Der Besitzer gibt nicht auf. Die Arbeit geht weiter, die Mühe auch, die Abhängigkeit von Sonne, Wind und Regen. Aber die Aussicht auf Ernte bleibt lebendig, die Hoffnung auf große und fröhliche Feste. Dankbar und in Gemeinschaft.
Bloß: Mit wem? Der Herr des Weinbergs bringt die Weingärtner um und vertraut ihn anderen an. Die Spannung rückt aus dem Gleichnis heraus in die Menschen, die Jesus zuhören. Sie spüren: Es geht ja um uns! Die Frage nach Leben und Tod, nach Scheitern und Zukunft betrifft jede und jeden, die Empfänger des Gleichnisses sind. Zuerst die Hörer damals, jetzt aber alle, die dieses Gleichnis lesen oder hören.
Was machst du da? Wer hat dir das erlaubt? Was für ein Mandat hast du? Die kritischen Fragen, die Jesus auf die Anklagebank setzen sollen, sind plötzlich umgedreht. Leben oder Tod, Scheitern oder Zukunft hängen an ihm, liegen in seinen Händen. Er ist Gottes letzter und größter Liebesbeweis. Mehr geht nicht. Alles ist getan für die Zukunft. Und wenn alles getan ist, dann wird gefeiert. Ein großes Fest mit Wein und gutem Essen. Der Besitzer lädt ein zu dankbarer und fröhlicher Gemeinschaft. Was für eine Aussicht!
Ja, es ist richtig. Gewalt spielt eine große Rolle im Gleichnis. Knechte werden geschlagen, gefoltert und getötet. Der Sohn, der Erbe, wird umgebracht – der Herr des Weinbergs ist tief getroffen und enttäuscht. Er kündigt den Tod der Weingärtner an. Aber das ist nicht das Ende. Am Ende steht ein Wunder vor unseren Augen. Dass die Liebe des Herrn nicht umzubringen ist. Sie gibt nicht auf, auch jetzt nicht, mit dem Tod Sohnes nicht, so erst Recht nicht. Im Gegenteil.
Ich will dem Wunder vor unseren Augen mehr glauben, als den Bildern, die uns immer und immer wieder Gewalt zeigen. Als würden Hass und Tod den Sieg über das Leben behalten. Ich will der Liebe des Herrn mehr vertrauen, als menschlichen Kämpfen um ein Erbe an Land und Macht und Ansehen. Ich will mich auf das neue Haus freuen, das Gott mit dem Grundstein Jesus Christus baut. Ich will mich auf die verborgenen Pfade der Liebe einlassen, die nicht immer gleich zu sehen sind, die übertönt werden von den Rufen nach Gewalt und Tod. Ich höre Jesu Gleichnis als eine Einladung, die verborgenen Pfade der Liebe zu sehen und zu gehen. Sie verbinden den Herrn des Weinbergs mit uns. Sie führen bei allem Elend dieser Erde in die Zukunft. Das verleiht meinem Leben Hoffnung. Gerade dann, wenn ich gerade wenig von der Liebe spüre, wenn Kampf und Streit, wenn Hass und Gewalt die Oberhand zu gewinnen scheinen. Gott hört nicht auf, um dich und mich, um alle seine Menschen zu werben mit einer Liebe, die nicht aufhört.
Was für ein Wunder wäre das, das große und dankbare Erntefest mit gutem Wein zu feiern, mit dem Herrn des Weinbergs und seinem Sohn, mit den Jüngern, mit Pharisäern, Schriftgelehrten und Ältesten. Liebe kennt verborgene Pfade. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine treue Gottesdienstgemeinde, die sich nach den Corona-Beschränkungen wieder zahlreicher zusammenfindet. Belastungen aus dieser Zeit werden zunehmend überwunden, dankbar ist die Gemeinde für spürbare frohe Botschaft, die nicht moralisch, ethisch, politisch, weltanschaulich fordert und befiehlt, sondern in allem Druck des Lebens Hoffnung und Zuversicht benötigt. Sie kann auch wieder etwas längere Predigten gut hören, wenn sie merkt, es geht um ihr Leben. Interessiert und erwartungsvoll lässt sie sich auch auf ungewohnte Entdeckungen am Bibeltext ein.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Was ich als Thema beschrieben habe, war mir selbst eine entlastende Entdeckung. Der Text legt Gewalt und Gericht nahe. Das wahrzunehmen, aber die verborgene Liebe zu entdecken und durchzuhalten, war mir eine große Motivation, an dieser Predigt zu arbeiten.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Weiter begleiten wird mich, nicht das für wahr und richtig zu halten, was scheinbar auf der Hand liegt oder offenkundig gemeint ist. Der erste Blick auch auf einen Bibeltext oder eine bekannte Deutung muss nicht dem Geist des Evangeliums entsprechen. Manchmal braucht es viele Blicke und genaues Hinschauen und Einsortieren. Das möchte ich auch künftig versuchen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Manche Formulierungen waren zu kompliziert. Der Hinweis, Gedanken auseinander zu nehmen, sie vereinfacht neu zu formulieren, war mir sehr einleuchtend. Manche Aufzählungen waren verwirrend und störend, anderes zu formalistisch und zu wenig lebensnah. All das hat meine Coach liebevoll angemerkt und mir für meine Formulierungen zu mehr Klarheit und Verständlichkeit geholfen
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Zeitenwende - Predigt zu Mk 13,28-37 von Karoline Läger-Reinbold
Zeitenwende
Der Feigenbaum im Hof
Meist nimmt sie den Hintereingang zum Büro. Der Hof liegt versteckt, mit dem Fahrrad rollt sie direkt auf die Mülltonnen zu. Dort, zwischen Raucherecke und Fahrradschuppen steht diese Bank, auf der nie jemand sitzt. Oft steht dort Herr K. aus dem Erdgeschoss, nippt schweigend am Kaffee und grüßt nur zurück, niemals selbst.
Manchmal ist dies der Ort, an dem sie kurz anhält und die Regenhose überzieht, wenn es bei schlechtem Wetter nachhause geht. An allen anderen Tagen eilt sie vorbei: Das Summen des Öffners, das Klappern der Tür, diskret und neutral erfasst ein grauer Pieper ihre Arbeitszeit.
Es hat Tage, nein, Wochen gebraucht, bis sie ihn zum ersten Mal richtig gesehen hat, den riesigen Feigenbaum mit seinen großen Blättern und den kleinen grünen Früchten. Erst als Christiane aus dem ersten Stock im Herbst von Marmelade sprach, war ihre Neugier geweckt. In diesem Jahr hat sie zum ersten Mal selbst von den süßen Früchten geerntet. Ihr klebriger Saft war ein bisschen wie eine Mahnung: Vergiss uns nicht.
Inzwischen ist Winter. Die Tage sind dunkel und kurz. Im Büro ist es kalt, in den Wohnungen auch. Dicke Pullis und Decken, wenig Licht. So lang und so heiß war der Sommer in diesem Jahr. Jetzt, im November, rückt das alles in sehr weite Ferne.
Der Predigttext (Markus 13,28-37)
„An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“
Vom Ende der Tage
Das Markusevangelium erzählt hier vom Ende der Tage. Gott ist der Schöpfer des Alls, und er ist der Herr unserer Zeit.
Der Gedanke an das Ende fällt uns nicht leicht. Niemand weiß, wann es so weit ist, und plötzlich ist der Zeitpunkt da. Jede und jeder, der im persönlichen Umfeld schon einmal mit dem Tod konfrontiert war, kennt solche Gedanken. Wir wissen nicht, wann die Zeit kommt. Meist scheint sie uns viel zu früh. Dann sind wir erschrocken, komplett überfordert.
Und so ist es gut, sich das immer wieder einmal ins Gedächtnis zu holen: Lebenszeit ist begrenzt. Die der anderen und die eigene auch. Die gemeinsame Zeit mit Familie, Partnerin oder Partner, die Zeit mit den Kindern, mit Freundinnen, Freunden: Sie wird nicht für immer sein. Wachet! Und genießt, solange es möglich ist.
Und das gilt auch für die Welt um uns herum. Vieles ist einfach immer da und wirkt unveränderlich. Mit der Zeit merke ich: An alten Häusern bröckelt die Fassade. Der liebste Baum wird einfach morsch. Aus dem Teich meiner Kindheit ist ein Tümpel geworden. Nichts ist von Dauer. Da verändert sich was. Was ich für gewiss hielt, gerät auf einmal ins Wanken.
Vergänglichkeit ist das Thema. Das Ende der Zeit und das Ende des Lebens. Der Gang auf den Friedhof gehört in diesen Tagen für Viele von uns dazu. Mit grünen Tannenzweigen, mit violetten, roten, weißen Lichtern auf dem Grab erinnern wir beides: Die Bitterkeit des Todes und die Hoffnung auf die Ewigkeit. Da ist das, was vorbei ist, und das, was noch kommt.
Ein Gefühl von Untergang
Wenige Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sprach Bundeskanzler Olaf Scholz zum ersten Mal von einer „Zeitenwende“. Das war Ende Februar. Seitdem spüren wir von Woche zu Woche mehr, was das für uns bedeutet: Da ist Krieg in Europa. Das belastet mich und macht Angst. Alles ist teurer geworden – wie warm kann ich heizen, damit die Rechnung noch bezahlbar bleibt? In den Nachrichten geht es um Armut und Hunger in den Ländern des Südens – und nun auch bei uns. Der Fortschritt, die Zukunft, die ich für sicher hielt, wird auf einmal in Frage gestellt. Und das geht so schnell – wie komme ich gedanklich da nur hinterher?
Raue Zeiten, ein „Epochenbruch". Manches, was ich in diesen Wochen höre, erinnert mich an Visionen der Endzeit, wie auch die Bibel sie kennt. Die Zerstörung des Heiligtums, der Weg ins Exil. Unheil, Tod und großes Leid sind den Menschen zur Zeit Jesu vertraut. Gleichzeitig reden sie von Gottes Güte und Treue. Was also bleibt? Was ist mein Anker im Tod und im Leben? Wo ist meine Rettung, wenn alles ins Wanken gerät?
Was bleibt
Aller Vergänglichkeit, allen Veränderungen steht einer entgegen: Der Vater. Gott selbst. Jesus, sein Sohn, dessen Ruf wir im Gleichnis hören: Seht euch vor! Wachet! Beachtet die Zeichen der Zeit. Seid kluge Zeitgenossen, macht euch Gedanken über das Ende, über den Tod und das Leben. Habt keine Angst, aber behaltet im Blick, dass wir zerbrechlich und endlich sind. Wachet! Und passt aufeinander auf. Was immer geschieht und euer Leben durcheinander bringt: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Haltet euch fest daran, sie geben euch Sicherheit.
Worte für die Ewigkeit
Wie aber lauten diese Worte? Gemeinsam können wir sie sammeln: Vielleicht die großen zuerst: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Zuversicht. Trost.
Und für den Hausgebrauch tun es vielleicht auch schon kleine Worte: Ich komm‘ vorbei, sagt die Freundin. Ein Gefühl von Verbundenheit. Ich hab‘ die Suppe gekocht, die du so gerne magst. Da ist der Gruß auf dem Handy, der sagt: Ich denke an dich. Da ist die Nachbarin, die im Vorbeigehen einen Apfel aus dem Garten schenkt. Ein Anruf am Abend: Wie war denn dein Tag?
Kleine Zeichen, die mich berühren. Kleine Schätze, die bleiben. Worte und Signale, die aufbauen, nicht zerstören. Ich bin in Gedanken bei dir. Ich zünde eine Kerze an. Ich trage das Gute im Gedächtnis, auch wenn es lange Zeit her ist. Anker und Haltepunkte: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Was auch immer geschieht: Es gibt Dinge, Symbole, die tragen uns durch. Bis zum Ende der Zeit und darüber hinaus.
An diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr gedenken wir der Menschen, die verstorben sind. Wir vergessen sie nicht, wir bewahren sie in der Erinnerung. Wir legen sie in Gottes Hand, wir nennen ihre Namen im Gebet und stellen Lichter für sie auf.
Erinnerung im Marmeladenglas
Von der süßen, braunen Feigenmarmelade ist genau noch ein Glas da. Sie hütet es wie einen kleinen Schatz in ihrem Vorratsschrank. Vielleicht wird sie es bald mal öffnen. Wie konserviertes Sonnenlicht ist das, Erinnerung und Vorgeschmack zugleich. Ein bisschen Sommer in diesem Herbst.
Der Feigenbaum steht da, in seinem Eck im Hinterhof. Still sammelt er im Boden neue Kraft. Sie denkt an ihn, wenn sie jetzt wieder im Homeoffice sitzt. Himmel und Erde werden vergehen. Der Feigenbaum bleibt. Vielleicht trägt er im Sommer wieder seine süße, klebrige Frucht.
Dunkelheit, Abschied, Trauer und Sorge. Das alles nimmt sich heute seinen Raum. Jedoch, im Kerzenlicht glänzt auch viel Schönes. Kleine Schätze wie das Marmeladenglas. Worte und Bilder, Gerüche und Orte, die sie verbindet mit denen, die ihr fehlen. Und mit denen, die da sind und zu ihr gehören. Glaube und Hoffnung und Liebe.
Und schließlich ist da Gott. Der Ewige. Die Stimme, die sagt: Ich bin da. Ich selbst bin das Wort, das bleibt.
Und da ist Christus, der zu uns spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Ich bin bei euch alle Tage, heute, morgen und in Ewigkeit.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Das Gedenken der Verstorbenen („Totensonntag“) ist vielerorts ein eigener Kasus und daher nicht alleiniges Thema dieser Predigt. Individuelle Trauer und allgemeine Traurigkeit, die dunkle Stimmung des Novembers in diesem krisenhaften Jahr sind zu bedenken – um dann den Blick zu richten auf den und auf das, was diesem Dunkel gegenübersteht: Das Wort des lebendigen Gottes.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Erinnerung an den real existierenden Feigenbaum, aus dessen Früchten ich in diesem Jahr tatsächlich Marmelade kochen konnte. Die Erkenntnis, dass dies ein Bild dafür sein könnte, wie ich Erinnerung bewahren kann, um sie zur Wurzel meiner Hoffnungen zu machen: Erinnerung und Vorgeschmack zugleich.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Ruf zur Wachsamkeit angesichts des nahenden Endes hat nichts Bedrohliches. Er ist Ausdruck von Klugheit und Weitsicht.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Große theologische Einsichten und Begriffe in kleine, alltägliche, persönliche Erfahrungen zu „übersetzen“ – das ist eine lohnende Aufgabe und große Kunst. Dabei gilt jedes Mal: Weniger ist mehr.
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Getragen bist du - Predigt zu Mk 2,1-12 von Heinz Behrends
„Steh auf, Christian, du bist gesund“, sagt der Professor in der Kinderklinik. Und er steht auf. Mutter und Vater nehmen ihn fest in den Arm. Mit wankenden Knien, erleichtert verlassen seine Eltern mit ihm die Klinik. Erhofft haben sie es, aber nicht geglaubt. Eine schwere Last fällt von den Schultern der Familie. Zwei Jahre Behandlung hat er mit seinen 6 Jahren hinter sich. Leukämie. Mit blauen Flecken nach dem Fußballspiel in der Pampersliga hatte es angefangen. 2 Jahre Chemo, Erbrechen, Haarausfall. Bange Sorge um sein Leben. Erschöpft fallen sie nach der guten Nachricht abends ins Bett.
Doch der Vater bleibt lange wach. Die Erinnerung begleitet ihn durch die nächsten Tage. Wie er nach der Diagnose an Christians Bett sitzt und ihm alles durch den Kopf geht. Was haben wir getan, dass unser Sohn vom Tod bedroht ist?
Was hat er getan? Nichts. Was soll er auch mit seinen 5 Jahren getan haben, dass er solch eine Strafe verdient? Sind wir schuld? Bin ich es?
Er schaut zu den anderen Eltern auf der Station herüber. Die Mutter ist mit ihrem kleinen Sohn extra aus Griechenland angereist, weil sie von dem guten Ruf der Klinik gehört hat. Alles um jeden Preis für ihn tun. Ein Vater gibt seiner Tochter ein Gummibärchen. Sie sind alle von dem Gefühl bedrängt, ihren Kindern was schuldig geblieben zu sein. Nun wollen sie was gut machen. Wer könnte als Vater und Mutter das nicht nachvollziehen? Immer meint man, man habe etwas an den Kindern versäumt und hätte mehr tun können.
Wenn uns etwas Unbegreifliches überkommt, ist die erste Frage: Warum? Was habe ich getan? Womit hab‘ ich das verdient? Keine Sünde kann so groß sein, dass ich elend dahinsieche, dass es anderen besser ergeht als mir. Die Frage, ob wir gut genug sind, ob wir genügen, schlummert in uns. Die Frage nach der Gerechtigkeit, nach Liebe. Darum sind wir hellwach, wo schlimmes passiert und fragen: „Warum?“ „Soll das eine Strafe sein?“ Was könnte größere Strafe sein als der Verlust der Unversehrtheit, der Gesundheit?
Jesus lehnt diesen Zusammenhang entschieden ab. Die vier, die den Gelähmten zu ihm tragen, beschäftigen sich mit dieser Frage erst gar nicht. Für sie scheint es ziemlich einfach zu sein: Unser Freund ist krank, der soll wieder gesund werden. Sie packen an und tragen ihn dorthin, wo Jesus gerade predigt. Sie überwinden die Barriere der Menschenmenge, lassen ihn durchs Dach und legen ihm ihren Freund vor die Füße. Ihr fester Wille hat einen Weg gefunden. Doch was dann geschieht, verblüfft sie. Jesus sagt: „Mein Sohn, dir sind deine Sünden vergeben.“ Was soll denn das nun?
Also doch Krankheit als Strafe für die Sünde, die erst geklärt werden muß?
Nehmen wir die Lähmung des jungen Mannes einmal sehr weit. Da ist ein Mensch, der ist besetzt von dem Gefühl, ich kann nichts, ich tauge nichts, ich bin nichts wert. Aus Angst wird er zu nichts fähig sein. Alles wird ihm misslingen, er wird sich scheu zurückziehen und das Leben nicht wagen. Auch Gott wird er nicht auf Augenhöhe begegnen können. Er ist völlig gelähmt.
Zu diesem sagt Jesus: „Was hat man dir getan?“
Jeder Mensch hat seine Geschichte und ist verwoben in die Geschichte seiner Väter und Mütter. Jeder hat seinen Grund für das, was er tut, sei es noch so schräg und dumm. Wir kriegen alle was mit. Nicht, was hast du getan, sondern, was hat man dir getan?
Und das ist ja wahr: Wenn man längere Zeit krank darnieder liegt, dann kommt die ganze Geschichte des Lebens oft hoch. Um heil zu werden, muss die Beziehung, die Vergangenheit geklärt werden. Die Sünde ist nicht Ursache meiner Krankheit, aber meine Geschichte muß geklärt werden, damit ich mehr als gesund werde. Alle Pläne und Gedanken wollen neu sortiert werden. Und Jesus spricht ihn an: „Mein Kind, dir sind deine Sünden vergeben“.
„Mein Kind“.
Er sagt zu einem erwachsenen Mann, der vielleicht so alt ist wie er selbst: „Mein Kind“.
„Mein Sohn“, übersetzt Luther. Jesus öffnet einen Raum zur Heilung. Du bist schutzbedürftig wie ein Kind. Und ich trage dich wie ein Kind. Du wirst geheilt sein und unbefangen, befreit wieder anfangen können wie ein Kind.
Der Meister der Sprache des Ersten Testaments und ihr genialer Übersetzer Martin Buber sagt, dass es das Wort, was bei uns Vergebung heißt, in der Bibel gar nicht gebe. Dort heißt es genau übersetzt: „tragen“. Ich, Christus, trage deine Sünde, deine Geschichte und bringe dich in Beziehung zu dir, dass du gesund und heil wirst.
Und dann sind da ja auch noch die vier. Denn als sie ihn heruntergelassen und Jesus vor die Füße gelegt haben, heißt es: „Als Jesus ihren Glauben sah.“ Nicht den Glauben des Gelähmten, sondern den Glauben der vier Freunde. Ist das nicht klasse! Es bedarf nicht des festen Glaubens des Kranken, sondern der Familie, der Freunde.
Es gibt keinen stellvertretenden Glauben, aber es gibt einen Glauben, der mir vorangeht, wenn ich selber nicht mehr kann. Was ist das viel wert, wenn der Arzt, die Schwestern, die Familie, die Freunde mich in der Krankheit umgeben und von diesem Glauben getragen sind. „Als er ihren Glauben sah.“
Wenn man einmal ernsthaft erkrankt, ist der Glaube erschüttert, da muß man sich ja mit vielen Reaktionen auseinandersetzen. Du liegst, er steht. Ohne es zu wollen, sieht er auf dich herab. Das kann demütigend sein. Menschen ziehen sich zurück, weil sie unsicher werden, wie sie mit mir umgehen sollen. Oder sie sagen: „Wenn du mich brauchst, rufe doch einfach mal an“. Oder sie rücken Dir auf den Pelz, sitzen ratlos am Bett, Du findest keine Ruhe. Oder sie haben große Erklärungen: „Du darfst nicht ‚Warum‘ fragen, sondern ‚Wozu‘?“ „Ach ja, weiß ich doch. Aber jetzt frage ich mich ‚Warum‘?“ Sie gehen mit Dir um als seist Du wieder ein Kind, tätscheln auf Deinen Händen rum. Ihr Bedauern raubt Dir die letzte Würde in einer Situation, in der Du um Dein Selbstbewusstsein kämpfst.
Nichts von all dem tun die vier Freunde, sie sind von einem großen Vertrauen getragen. Es ist zum Greifen nahe und Jesus sieht es sofort an ihrer Körperhaltung, in ihren Augen. Ich denke an Dich, ich bete für dich, ich besuche dich, ich lasse dir den Raum, den du brauchst, ich benutze deine Krankheit nicht, um meine Probleme und Ängste abzuarbeiten. Der Gelähmte hat sich in ihr Vertrauen legen lassen. Und sie haben ihn förmlich aufgehoben und nicht auf ihn herabgeschaut.
„Als er ihren Glauben sah, sprach er: Mein Sohn, steh auf, nimm dein Bett und gehe heim.“ Und er steht auf. Er nimmt seine Bahre und geht heim. Die Lähmung hat ihn verlassen. Was ihn getragen hat, kann er jetzt selber tragen. Seine Beziehungen sind klar. Du bist mein Kind, hat Christus ihm gesagt. Die Freunde sind bis zur Heilung und darüber hinaus an seiner Seite. Nun kann er wieder selbst gehen. Er ist gesund und geheilt.
Als Christians Familie die gute Nachricht erhalten hat, schreiben die Freunde aus der englischen Partnergemeinde: „Wir haben jeden Abend in unserem even song für Christian gebetet.“ Da verlässt die große Anspannung von zwei Jahren seinen Vater. Es ist der einzige Augenblick, in dem er seine Tränen nicht mehr aufhält und weint.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin Kurprediger auf der ostfriesischen Insel Langeoog. Der Gottesdienst um 11 Uhr wird von ca 120 Menschen besucht, Gäste, Touristen, vor allem Paare zwischen 50 und 75, dazu einige jüngere Eltern mit Kindern. Der Kirchraum wirkt dadurch gut gefüllt. Das Gefühl einer geleerten Kirche nach Corona bleibt ihnen erspart. Die Besucher*innen machen Urlaub, suchen Erholung. Sie haben Zeit, hören zu und sind offen für Fragen ihres Lebens.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Eigene Erfahrungen und langes Nachdenken über Beziehung von Krankheit und Schuld. Ich bin persönlich krebs-erkrankt gewesen und habe drei weitere Personen im engstem Familienkreis, deren Krebs-Erkrankung geheilt wurde. Dazu kommen Erfahrungen aus der Krankenhaus-Seelsorge. Gemeinsam mit der Ehefrau habe ich die letzten 6 Jahre 14tägig Gottesdienst in der Klinik-Kapelle gehalten.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Glaube der anderen trägt, wenn ich selbst nicht kann. Das Feld von Schuld und Krankheit bleibt ein weites. Einheit von Körper und Seele. Meine Fragen werden nicht beantwortet werden. Sie werden vermehrt auf mich zukommen. Ich bin 74. Und bereite mich vor. Auch durch Predigtarbeit wie dieser. „Warum“ zu fragen ist sinnlos, am Ende gilt nur das Vertrauen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Coaching war ausgezeichnet, sehr detailliert, konkret. Ich konnte jeden Vorschlag übernehmen. Sie hat Überlängen gestrichen. Auf irritierenden Perspektivwechsel hingewiesen. Behutsame sprachliche Veränderungen vorgeschlagen. Auf die Wirkung der Ein-Wort-Sätze hingewiesen. Auf die Verwendung von „Jesus“ und „Christus“. Und gesagt, dass sie sich über die Predigt freut.
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Eine irregeleitete Witwe - Predigt zu Mk 12,41-44 von Matthias Loerbroks
Eine Gemeinde mit Ausstrahlung – das zu sein wünscht sich jede Gemeinde, das ist auch das Thema des heutigen Sonntags. „Wandelt als Kinder des Lichts“, wurde uns im Wochenspruch aus dem Epheserbrief zugerufen. Kinder des Lichts, das sind nicht Menschen, die von Natur aus ein sonniges Gemüt haben. Gemeint ist das Licht des Evangeliums, des Alten und Neuen Testaments – ein Licht, das es mit allen Finsternissen aufnehmen kann. Kinder des Lichts strahlen dieses Licht aus, geben es weiter in ihrem Tun: Die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.
Ein Ort mit Ausstrahlung – der Psalm 48 besingt die Stadt Jerusalem, den Berg Zion: Schön ragt empor sein Gipfel, daran sich freut die ganze Welt. Das hörten wir bei Jesaja als Zukunftsvision: Eines Tages werden die Völker der Welt mit ihrem Latein am Ende sein, werden nach Jerusalem ziehen, um dort Gottes Wege, Gottes Methoden zu lernen. Sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen, sondern ihre Schwerter zu Pflugscharen machen. So wird Weisung, Tora, vom Zion ausgehen, das Wort des HERRN von Jerusalem. Bis es soweit ist, fordert Israel sich selbst auf, im Licht des HERRN zu wandeln, hofft auf dessen Ausstrahlung.
Und wenn Jesus von der Stadt auf dem Berg spricht, die nicht verborgen sein kann, meint er natürlich nicht irgendeine hochgelegene Stadt, sondern redet von Jerusalem auf dem Zion. Er erinnert seine Hörer an die Rolle und Aufgabe Israels als Licht der Völker, Licht der Welt: Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, dass sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. Diese Weisung der Bergpredigt gilt auch uns Jesusjüngern aus den Völkern. Jesus hat ja, wiederum von einem Berg, seine Jünger ausgesandt, die Völker zu lehren, all das zu halten, was er ihnen geboten hat. Vor zwei Wochen war davon die Rede. Auch der Epheserbrief richtet sich an uns Nichtjuden. Einst wart ihr Finsternis, heißt es kurz vor unserem Wochenspruch. Ihr wart fremd und fern der verheißungsvollen Bundesgeschichte Israels, ohne Hoffnung und ohne Gott, jedenfalls ohne den Gott Israels, tapptet noch im Dunkeln. Jetzt aber seid ihr Licht im Herrn, nämlich Israels Mitbürger und Gottes Hausgenossen. Darum wandelt und handelt auch als Kinder des Lichts, als Gemeinde mit Ausstrahlung. Wir Jesusjünger aus den Völkern haben bereits mit dem begonnen, was Jesaja für die letzten Tage erwartet: Wir lernen Weisung vom Zion, das Wort des HERRN von Jerusalem.
Heute ist ein wichtiger Tag im jüdischen Kalender: der 9. Tag im Monat Aw, Tischa b Aw. Das jüdische Volk in aller Welt gedenkt der Zerstörungen des Tempels in Jerusalem, 586 v.u.Z. durch Babel und im Jahr 70 durch die Römer, und anderer Katastrophen in der jüdischen Geschichte. Man fastet an diesem Tag, und in den Synagogen wird das Buch Klagelieder gelesen, das die Verwüstung Jerusalems beschreibt und beklagt. Es klingt in unseren Tagen bestürzend aktuell. Israel bekennt darin seine Schuld, die in die Katastrophe geführt hat, klagt aber auch die Gräueltaten der Feinde heftig an. Der 10. Sonntag nach Trinitatis, heute in vierzehn Tagen, bezieht sich seit alters her auf diesen Tag, doch auch schon heute geht es in unseren Texten um den Zion, den Berg, da das Haus des HERRN ist, um Jerusalem. Auch im heutigen Predigttext:
Er saß dem Opferstock gegenüber und schaute, wie die Leute Kupfergeld in den Opferstock warfen. Und viele Reiche warfen viel hinein. Auch eine arme Witwe kam. Sie warf zwei Kleinmünzen ein, einen Pfennig wert. Und er rief seine Jünger herbei und sprach zu ihnen: Amen, ich sage euch: Diese Witwe, die arme, hat mehr hineingeworfen als alle, die in den Opferstock eingeworfen haben. Denn alle haben aus ihrem Überfluss eingeworfen, sie aber hat aus ihrem Mangel eingeworfen alles, was sie hatte, ihr ganzes Leben.
Sehr genau nimmt Jesus den Opferstock in den Blick, in dem Spenden für den Tempel gesammelt werden. Er setzt sich, nimmt sich Zeit, beobachtet, was das für Leute sind, die Geld geben, und wie viel sie geben. Viele Reiche geben viel Geld; sie geben, kommentiert Jesus, aus ihrem Überfluss. Und auch wenn die meisten von uns nicht zu den Reichen gehören, erkennen wir uns in dieser Beschreibung wieder. Gott ist nicht das vibrierende Zentrum unseres Lebens; das, was uns ständig fasziniert und umtreibt, was uns unbedingt angeht, aber so etwas wie Religion soll es auch geben, soll seinen begrenzten, aber ehrenvollen Platz haben in unserem Leben. Für Religion haben wir was übrig.
Da kommt eine arme Witwe, und man muss leider sagen: das war zu biblischen Zeiten fast ein Pleonasmus – ist es vielfach auch noch heute –, weshalb Witwen und Waisen in der Bibel das Kriterium für Recht und Unrecht sind. Biblisches Recht ist nicht Jedem das Seine, sondern den Armen und darum den Witwen und Waisen Recht verschaffen. Die Witwe wirft sehr wenig Geld ein, und doch erklärt Jesus feierlich – Amen, ich sage euch –, sie habe mehr eingeworfen als die anderen.
Warum aber nimmt Jesus die Spendenpraxis so genau in den Blick, setzt sich dem Opferstock gegenüber und beobachtet die Leute? Und warum hebt er dann diese Witwe so hervor, macht seine Jünger auf sie aufmerksam? Will er sie uns als Vorbild empfehlen? Gehört sie zu den Menschen, deren gute Taten andere veranlassen, ihren Vater im Himmel zu preisen? Freilich werden nur wenige Menschen die Tat der Witwe so ungeniert indiskret beobachtet haben wie Jesus. Will Jesus sagen, dass sie im Licht des HERRN wandelt und so dazu beiträgt, dass der Zion, der Berg, wo das Haus des HERRN steht, weltweit ausstrahlt?
In der Tat wird diese Geschichte oft so ausgelegt – freilich meist von Menschen, die selbst nicht arm sind –, und vielleicht ist das auch der Grund, warum sie heute Predigttext ist. Doch es ist kein guter Umgang mit der Heiligen Schrift, sich unter jedem Absatz den Satz zu denken: Gehe hin und tue desgleichen – auch da, wo er gar nicht steht. Wir nehmen uns ein Beispiel an Jesus – es ist immer gut, das zu tun – und sehen genau hin.
Kurz zuvor ist Jesus nach langer Wanderung in Jerusalem eingetroffen – in der Erwartung, dass sich dort die Konflikte zwischen ihm und seinen innerjüdischen Gegner zuspitzen werden. Erst wird er von den Volksmassen begeistert begrüßt, die ihn per Akklamation zum König machen – als Gesalbten, als Messias, als Christus. Seine Gegner, die führenden Kräfte um den Tempel herum, schmieden schon Pläne, wie sie ihn beseitigen können. Doch die Unterstützung durch die einfachen Leute hält sie davon ab, gegen ihn vorzugehen: Sie fürchten sich vor dem Volk. Bereits am nächsten Tag verschärft Jesus seinerseits den Konflikt mit den Tempelkreisen. In einer spektakulären Aktion treibt er die Händler aus dem Tempel. Er zitiert dabei ein verheißungsvolles Wort aus dem Buch Jesaja: Mein Haus soll ein Bethaus sein für alle Völker – neben dem Lehrhaus für alle Völker, von dem wir schon hörten. Er zitiert im selben Atemzug aber auch ein sehr kritisches Jeremia-Wort: Ihr habt eine Räuberhöhle daraus gemacht. Zu Jesu Zeiten ist der Tempel ein Riesenbetrieb, in dem sehr viel Geld umgesetzt wird. Und dieser Betrieb ist eng verflochten, im besten Einvernehmen mit der römischen Kolonialmacht, die ihn als Einnahmequelle nutzt. Diese Aktion war also dazu angetan, nicht nur die tempelnahe Oberschicht zu blamieren, sondern auch die Römer, die eigentlichen Machthaber, zu alarmieren. Sie lässt zudem vermuten, dass Jesus die Spenden für den Tempelschatz nicht gerade wohlwollend betrachtet, seine Position gegenüber dem Opferstock auch ein Entgegen meint, Opposition.
Auch danach ist Jesus täglich im Tempel, er lehrt, lässt sich in Gespräche verwickeln. Mit den Sadduzäern aber, der Priesterpartei, und mit ihren Verbündeten auch unter den Ältesten und den Schriftgelehrten – den Kollaborateuren der römischen Machthaber – kommt es zu keiner Verständigung: Ihr irrt, sagt Jesus ihnen, ihr irrt sehr. Eine der Kontroversen betrifft den Umgang mit Geld – darf man dem Kaiser, den Römern Steuern zahlen? –, wirft bereits die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Geld auf, von Credo und Kredit. Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, sagt Jesus, und Gott, was Gottes ist. Gibt die Witwe Gott oder doch eher dem Kaiser, den Römern, was Gottes ist?
Mit einem der Schriftgelehrten aber stimmt Jesus vollkommen überein darüber, was das höchste der vielen Gebote ist. Jesus zitiert da das Grundbekenntnis Israels, das Schma Israel, in dem ein Zusammenhang anklingt zwischen der Einheit Gottes und der ungeteilten Ganzheit seiner Anhänger: Höre Israel, der HERR, unser Gott ist Einer. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen. Da könnte das Tun der Witwe doch vorbildlich sein. Wenn sie auch nur einen Pfennigbetrag gibt, er besteht doch aus zwei Münzen. Sie aber macht nicht Halbe-Halbe, will keine halbe Sachen, sondern gibt das Ganze. Man mag das unvernünftig und leichtsinnig finden, aber es ist ein eindrucksvolles Zeugnis ihres Vertrauens, dass dieser Gott die Witwen und Waisen, die Armen, die Fremdlinge erhält, sie mit ihrer Hingabe also nicht ins Leere fällt; sie gibt Gott in jeder Hinsicht Kredit. Aber in der Sicht Jesu, jedenfalls in der Sicht des Markus, ist doch zweifelhaft, ob es sich bei dieser Gabe tatsächlich um einen Dienst am Gott Israels handelt, oder um Sklavendienst für ganz andere Mächte und Gewalten.
Denn unmittelbar vor unserem Text beschimpft Jesus andere Schriftgelehrte. Sie fressen die Häuser der Witwen, sagt er. Sie werden sie ja nicht mit vorgehaltener Pistole ausgeraubt haben, sondern mit religiösen, ideologischen Mitteln dazu gebracht, ihnen ihre Habe zu geben. Und dann sieht Jesus einer solchen armen Witwe zu, wie sie ihre letzte Habe dem Tempel gibt, und macht seine Jünger auf sie aufmerksam. Dies Zusammentreffen gibt zu denken, zumal das die beiden einzigen Stellen sind, an denen im Markusevangelium das Wort Witwe fällt. Und unmittelbar nach unserer Geschichte hören wir, wie einer seiner Jünger Jesus bewundernd und staunend auf das Gebäude aufmerksam macht: Sieh nur, was für Steine! Was für Bauten! Doch Jesus entgegnet: Ja, sieh die gewaltigen Bauten; hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben. Diese Umrahmung ist der Deutungsrahmen unserer Geschichte. Jesus beklagt die Witwe als ein Opfer ideologischer Irreführung, ein Opfer derer, die Häuser fressen. Er warnt vor irregeleiteter Hingabe an falsche Instanzen und Objekte. Wandelt als Kinder des Lichts – das meint nicht nur das tröstliche Licht des Evangeliums in finsteren Zeiten, sondern auch sein aufklärendes Licht, das uns davor bewahren soll, im Zwielicht, im Nebel von Ideologien, Verblendungen und Verschleierungen in die Irre zu gehen, den Gott Israels mit allerlei religiös aufgeladenen Gestalten, Mächten und Wahrheiten zu verwechseln.
Doch es ist nicht nur Warnung, nicht nur Klage, dass Jesus unseren Blick auf diese arme Witwe lenkt. Witwen, besonders arme Witwen, sind in der Bibel oft ein Bild für ein Israel ohne Zukunft, jedenfalls mit gefährdeter Zukunft – etwa die, deren Sohn Jesus im Lukasevangelium auferweckt. Jesus will die Witwe nicht denunzieren, sich von ihr nicht distanzieren. Er solidarisiert sich mit ihr. Sie hat ihr ganzes Leben gegeben, sagt er über sie in einer auffälligen Formulierung. Auch wenn damit gemeint ist: Alles, was sie zum Leben hatte – und so wird es auch meist übersetzt –, Jesus sagt das, kurz bevor er selbst sein Leben hingibt. So wird die Witwe zwar zum Gegenbild, aber damit auch zum Bild fürs Leiden und Sterben Jesu. Er macht sich die verlorene Sache, die Irrwege und damit die zukunftslose Situation seines Volkes zu eigen, für die diese Witwe steht, übernimmt sie, nimmt sie ihm damit ab: Das Großartige wie das Schreckliche aller menschlichen und darum leider oft auch unmenschlichen Religion nimmt er weg, nimmt er auf sich. In dieser Hingabe Jesu, für die diese Witwe ein etwas irritierendes Bild ist, solidarisiert sich zugleich der Gott Israels, der seinen Sohn hingibt, mit seinem Volk und dadurch mit allen Völkern. Es tut uns gut, am heutigen 9. Aw daran erinnert zu werden.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Gemeinde, in der die ganz Reichen und die ganz Armen meist nicht da sind; doch unter denen, die da sind, müssen mehr Menschen aufs Geld gucken als noch vor einem Jahr; andere befürchten, das demnächst tun zu müssen. Die Geschichte vom Scherflein der Witwe wird bekannt sein, meist aber als Vorbild verstanden werden, als Lob vorbehaltloser Hingabe. Das aber halte ich nach genauerem Hinsehen für falsch.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der 7. August ist auch Tischa b Aw, Gedenken der Zerstörungen des ersten und des zweiten Tempels in Jerusalem. Es ist gut, wenn christliche Gemeinden am Leben ihrer jüdischen Geschwister und Nachbarn Anteil nehmen, vor allem an einem so wichtigen Tag. Können die Texte des Sonntags mit ihren Bezügen zu Jerusalem, Zion und Tempel dazu beitragen?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Licht des Evangeliums beider Teile der Bibel ist nicht nur tröstliches Licht in den Finsternissen des eigenen Lebens und des Weltgeschehens, sondern auch aufklärendes Licht in ideologischen Verblendungen, Irrungen und Wirrungen. Die Kinder des Lichts sollten dieses Licht freilich nicht als Besserwisser von oben herab verbreiten, sondern – wie ihr Herr – in Solidarität mit den Irregeleiteten.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Es ist immer schmerzlich, Gedanken und Formulierungen zu beerdigen, die zuvor mit Lust gezeugt und unter Schmerzen geboren wurden. Aber es verhilft der Predigt zur Konzentration, hilft darum auch ihren Hörern dabei, sich ihrerseits zu konzentrieren.
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#notspeechless - Predigt zu Mk 16,1-8 von Henriette Crüwell
Liebe Geschwister im Glauben,
Grausame Leerstellen machen fassungslos
Der syrische Künstler Khaled Barakeh arbeitet mit Fotografien, die er im Internet findet. Männer und Frauen sind dort zu sehen, die nur einen Augenblick entfernt im Krieg ein Kind verloren haben und es nun fassungslos in den Armen halten. Dabei hat er die toten Kinder so aus dem Bild geschnitten, dass nur noch ihre Umrisse als weiße Leerstellen zurückbleiben und sie auf neue Weise sichtbar werden. Barakeh entlarvt damit die perverse Logik des Krieges und verleiht dem sprachlosen und abgründigen Entsetzen Ausdruck. Ein Entsetzen, das in seiner Heimat schon viel zu lange zum Alltag gehört und das seit dem 24. Februar 2022 nun auch uns in Europa beherrscht.
Leerstelle: das leere Grab.
„Er ist nicht hier!“ rufen auch die Frauen am Ostermorgen verzweifelt, als sie ihren langjährigen Gefährten dort nicht mehr finden, wo sie ihn zu finden glauben. Auch vor ihnen tut sich jene schwindelerregende Leere auf, wie sie Menschen zu allen Zeiten befällt, wenn sie ertragen müssen, dass Gewalt und Krieg ihnen das Liebste genommen haben, was sie hatten.
Die Kriegsfolie des Markusevangeliums
Der Evangelist Markus schreibt sein Evangelium im Jahr 70 unserer Zeitrechnung unter dem Eindruck des ersten jüdischen Krieges, in dem der Römische Kaiser Vespasian mit seinen Truppen über das Land herfiel und Jerusalem dem Erdboden gleichmachte. Welchen Sinn macht da die Rede von der Auferstehung eines Einzelnen vor solchem Wahnsinn, angesichts der Leichenberge von Jerusalem?, fragt Markus. Das Halleluja will ihm nicht so leicht über die Lippen kommen. Es ist ihm einfach nicht möglich, wie Paulus triumphierend zu jubeln: „Tod, wo ist dein Sieg? Wo ist Dein Stachel?“
Markus: Offenes Grab – Offenes Ende
Markus lässt den Zweifel zu und hält die Leerstelle der Sprachlosigkeit und des Entsetzens offen. Denn es ist doch wahr: Sie ist durch nichts anderes zu füllen als allein durch jene, die nicht mehr da sind. Und so findet sein Evangelium auf den ersten Blick ein merkwürdiges und geradezu verstörendes Ende. Die Frauen fliehen, schweigend und zutiefst verzweifelt. Das Grab ist leer. „Er ist nicht hier!“
Sehnsucht nach dem Füllen der Leere
Erst nachträglich sind Erscheinungsgeschichten dazugekommen, die dann noch erzählen, wie er doch wider alle Vernunft da ist. Vielleicht weil die ersten Zuhörer und Leserinnen dieses Schweigen schier nicht aushalten konnten. Vielleicht weil ihre Sehnsucht nach einem Happy End übergroß war. Und wer könnte es ihnen heute, wo es uns wieder die Sprache verschlägt, verdenken?
Die Leerstelle aushalten, gemeinsam zum Grab gehen
Aber wir dürfen diese Leerstelle nicht leichtfertig übergehen, damit jene, die aus dem Leben gerissen sind, nicht vergessen werden, und die Hoffnung wider alles Hoffen nicht abbricht. Wie gut also, dass dieser offene Schluss des Markusevangeliums in diesem Jahr unser Osterevangelium ist. Denn wir stellen uns damit an die Seite all jener, deren Welt gerade wieder wie ein Kartenhaus zusammenbricht, und die wieder ohne Worte sind. Und so gehen wir heute Morgen mit ihnen und den drei Frauen ans Grab, wie unzählige vor ihnen und nach ihnen, um zu begreifen, was einfach nicht zu begreifen ist und um Trost zu finden in aller Untröstlichkeit. Und Markus beschreibt das so:
Als der Sabbat vergangen war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um hinzugehen und ihn zu salben. Und sie kamen zum Grab am ersten Tag der Woche, sehr früh, als die Sonne aufging. Und sie sprachen untereinander: Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Und sie sahen hin und wurden gewahr, dass der Stein weggewälzt war; denn er war sehr groß. Und sie gingen hinein in das Grab und sahen einen Jüngling zur rechten Hand sitzen, der hatte ein langes Gewand an, und sie entsetzten sich. Er aber sprach zu ihnen: Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingeht nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat. Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich.
Das trotzige Evangelium als Gegenerzählung
Liebe Geschwister im Glauben, den Augenzeugen, den Männern und Frauen, die damals dabei waren, hat es die Sprache ebenso verschlagen wie den Menschen im zerstörten Jerusalem im Jahr 70 unter Kaiser Vespasian, wie 2015 im zerbombten Aleppo und jetzt im umkämpften Kiew 2022. Markus schreibt sein Evangelium für sie alle, denen der Terror in den Knochen steckt und die nichts mehr in den Armen halten als Leere. Und dass das Markusevangelium mit diesem entsetzen Schweigen endet, ist das pure Gefühl des Zusammenhalts, der aushält, was nicht auszuhalten ist, der dabeibleibt und nicht wegschaut, dessen Worte aus dem Schweigen kommen und die so - auf diese einzig mögliche Weise - dafür einstehen, dass der Tod nicht das letzte Wort behält.
Das Kind weist den Weg
Denn das Grab ist nicht leer. In den anderen Evangelien sind es Engel, die dort Wache halten. Himmlische Boten. Bei Markus aber ist es niemand anders als ein Jüngling, ein Jugendlicher unter Jugendlichen, die zu allen Zeiten auf den Schlachtfeldern dieser Welt sterben. Ein Sohn unter Söhnen und Töchtern von Müttern und Vätern, die vor Sorge um sie nicht ein noch aus wissen. Ein Kind unter Kindern, die auch im Bombenhagel, im Luftschutzkeller und in den Metrostationen neu geboren werden. Als Zeichen, dass auch mitten im Tod immer und immer wieder das Leben beginnt. Solange Menschen auf dieser Erde leben. „Geht hin und sagt seinen Jüngern, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er gesagt hat,“ fordert dieses Kind die trauernden Frauen auf, deren Namen an jene Orte erinnern, wo der Krieg am verheerendsten gewütet hat: Maria aus Magdala und Salome, die für Jerusalem steht.
Nicht Flucht, sondern Relecture
Und Weglaufen vom Grab heißt nicht, dass die Frauen dem Auftrag des Kindes nicht folgen. Denn es geht gar nicht darum, die Schuhe zu schnüren und nach Galiläa zu laufen, sondern darum, das Evangelium noch einmal auf der ersten Seite aufzuschlagen und es von Neuem zu lesen. Denn es beginnt doch in Galiläa. Dort, wo die Römischen Besatzer ihren Vernichtungsfeldzug begonnen haben. Und eben dort erschallt die Stimme des Rufers in der Wüste. Eben dort tritt Jesus das erste Mal mit seinem Evangelium des Friedens in das Licht der Öffentlichkeit. Eben dort verknüpft der Evangelist den Schrecken des Krieges mit dem Leben und Sterben Jesu. An all jenen Orten, wo die Römer nur eine große Leere hinterlassen haben, erzählt er von den Wundertaten und von der Liebe, die dort durch diesen Messias neu zum Leben erwacht. Bis hin zum Kreuz, Markus kennt keinen anderen und keinen größeren Trost als diesen! Es ist seine Therapie, nämlich immer und immer wieder den Weg Jesu erzählend nachzugehen, bis er zum eigenen wird.
Aufständische Osterworte in der Sprachlosigkeit
Als die Journalistin Shila Bejaht Kulturschaffende zum Ukraine-Krieg befragen wollte, war stets die erste Reaktion: „Ich bin so sprachlos…! Vereint in ihrer Sprachlosigkeit, ergreifen nun Künstlerinnen und Musiker aus der ganzen Welt unter dem Motto #notspeechless doch das Wort. Sie suchen nach den richtigen Worten. Aber sie schweigen nicht. Wie Markus werden sie zu Zeuginnen und Zeugen. Sie nennen das Böse böse und den Krieg Krieg und sprechen von ihrer Hoffnung wider alle Hoffnung, vom Frieden, den der Krieg nicht geben kann.
Und manchmal hilft ihnen dabei nur noch die Musik. Schweigend sitzt der Pianist Malakoff Kovalski am Klavier, aber seine Finger finden tastend Töne, Klänge, die sich immer wieder abbrechend doch zu einer Melodie zusammenfügen und die Hoffnung wider alles Hoffen hörbar werden lassen.
Wiedersehen. Die Fülle in der Leere
Liebe Geschwister im Glauben, stehen auch wir mit ihnen zusammen auf, reden mit ihnen, weinen mit ihnen und schweigen mit ihnen. Damit die Opfer nicht vergessen werden und die Hoffnung auf Frieden nicht abbricht.
Stehen auch wir mit ihnen auf und tun, was in unserer Macht steht, um jenen beizustehen, die zu Abertausenden in sprachlosem Entsetzen fliehen.
Stehen auch wir auf und beten um Frieden – zu jenem, der als Schöpfer von Himmel und Erde immer wieder inmitten des Bösen und sogar im Tod noch Raum zum Leben schafft.
Und wo uns die Hoffnungskraft ausgeht, hören wir den Rat des Kindes im leeren Grab am Ostermorgen: „Geht nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn wiedersehen!“
Immer wieder und immer wieder können wir uns aufs Neue hinein erzählen in dieses Leben, das Jesus Christus heißt und von Gott kommt, und unsere Geschichte mit der seinen verweben und verknoten, bis auch uns die Augen aufgehen und wir mit brennendem Herzen erkennen, dass Christus der Auferstandene an unserer Seite ist.
Dann können wir vielleicht leise ins Halleluja einstimmen und glauben: Er ist nicht mehr hier. Er lebt und auch wir sollen leben. Er füllt unsere Leere mit seinem Leben. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Ostersonntag viertel nach zehn im Offenbacher Westend, wo viele Familien schon seit Generationen wohnen und fest verwurzelt sind. Nach der Osternachtsfeier am frühen Morgen kommen 30-40 Menschen verschiedenen Alters, überwiegend aber Ältere, die zu den regelmäßigen Sonntagsgottesdienstbesucher:innen gehören. Sie sind theologisch interessiert und biblisch versiert. Manche erzählen, dass durch die Bilder aus der Ukraine eigene sprachlose Erinnerungen wach werden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich empfinde ein tiefe Sprach- und Ratlosigkeit angesichts des Krieges in Europa. Und immer wieder sagen mir andere im Gespräch: „Ich bin sprachlos und fassungslos!“ Und mich bewegt die Frage, wie in diese Sprachlosigkeit (oder aus ihr heraus?) von Auferstehung reden? Deswegen war ich sehr dankbar, dass in diesem Jahr ausgerechnet der eigentliche Schluss des Markusevangeliums der Predigttext für Ostersonntag ist. Denn Markus lässt die Sprachlosigkeit zu, hält sie aus und bietet einen Weg des Glaubens an, in dem er die Leerstelle als Leerstelle markiert und sie für die Gegenwart des Auferstandenen offenhält.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Für mich war es eine große Entdeckung, dass Markus sein Evangelium für vom Krieg traumatisierte Menschen geschrieben hat. Siehe dazu ausführlich: Andreas Bedenbender, „der gescheiterte Messias“, Leipzig 2019. Das bewusst offene Ende und die Aufforderung von Ostern und dem leeren Grab her die eigene Geschichte mit dem Weg Jesu zu verbinden, im Jahr 2022 eine sehr tröstliche Osterbotschaft.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das offene Ende.