Brennendes Buch - Predigt zu Kohelet 7,15-18 von Jürgen Kaiser
7,15-18

1759 wurde vor der Sorbonne ein Büchlein verbrannt. Es enthielt Äußerungen, die die Moral zersetzten. Äußerungen wie diese: Da ist ein Gerechter, der zugrunde geht in seiner Gerechtigkeit, und da ist ein Ungerechter, der lange lebt in seiner Bosheit. (Koh 7,15) 
Der Autor des Buchs war François Marie Arouet. So hieß er, bevor er sich Voltaire nannte. Aber Voltaire war in Wahrheit nur der Herausgeber und Übersetzer. Denn das verbrannte Buch bestand weitgehend aus biblischen Sätzen, aus Sätzen des Buches Prediger oder mit hebräischen Namen Kohelet. In Paris wurde also ein Teil der Bibel mit der Begründung verbrannt, sie sei gegen Moral und Religion.
Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, dachte ich: Wie blöd kann man sein! Liest man aber die Urteilsbegründung des Gerichts, wird klar: Sie wussten genau, dass das Büchlein von Voltaire in Druck gegeben wurde, und sie wussten auch, dass es Ausschnitte aus dem Buch Kohelet waren. Umso verwunderlicher ist, dass sie es dennoch verbrennen ließen. Das Urteil gründet sich auf eine angeblich ungenaue und anstößige Übersetzung und die Zusammenstellung der Sätze sei in einem antireligiösen Geist erfolgt. Auf der Anklagebank saß also nicht Kohelet, der biblische Autor, auf der Anklagebank saß Voltaire, der Herausgeber und Übersetzer. 
Aber das überzeugt nicht. Denn der Aufklärer hat ja nicht irgendein beliebiges Stück aus der Bibel übersetzt, sondern genau dieses. Weil genau dieses Stück selbst ein Stück Aufklärung innerhalb der Bibel ist. Kohelet stellt Grundlegendes infrage. Dabei greift der Prediger Religion und Moral nicht an sich an. Ihm ist nur die Verbindung zwischen Religion und Moral fraglich geworden. Es sei einfach nicht so, dass Gott die Gerechten im Leben belohne und die Ungerechten bestrafe. Es sei oft ganz anders. Das könne man sehen, das sage einem doch die Lebenserfahrung! Kohelet zweifelt an der Lehre, am Dogma unter Berufung auf die Erfahrung. So selbstverständlich es für uns heute ist, eine Lehre an der Erfahrung zu prüfen, so revolutionär war das zur Zeit des Predigers wie noch zu Zeiten Voltaires. Schon Kohelet hat also die Verbindung von Religion und Moral getrennt, die Aufklärung hat die Moral auf ein neues Fundament gestellt: Vernunft und Pflicht. 

Bücher verbrennen geht heute gar nicht mehr. Keine Frage! Die Frage ist aber: Können wir uns noch an Büchern verbrennen? Ich würde kühn behaupten: Die Bibel ist nach wie vor ein heißes Buch und das Buch Kohelet ein nach wie vor unentdecktes Glutnest. Verbrennen kann man sich an Büchern oder Sätzen auf zweierlei Weise: Entweder sie begeistern, machen Geist und Gemüt so heiß, dass uns ist, als hätten wir kleine Flämmchen auf dem Kopf. Oder sie regen uns so auf, dass wir uns echauffieren. Das Buch Kohelet ist eine Sammlung diverser Sprüche. Viele sind heiß, manche begeistern, andere regen auf. 
Da gibt es zeitlose Sätze: Besser langmütig als hochmütig. (7,8) Oder: Denn wer viel Mühe hat, fängt an zu träumen, und wer viel spricht, fängt an, töricht zu reden. (5,2) Oder: Sage nicht: Wie kommt es, dass die früheren Zeiten besser waren als die jetzigen? Denn nicht aus Weisheit fragst du so. (7,10) Kann ich alles sofort unterschreiben. Und dann gibt es Sätze, die früher heiß waren und aufgeregt haben, mittlerweile aber abgekühlt sind und uns kalt lassen. Etwa die Feststellung, dass es einem Rechtschaffenen mitunter schlecht ergeht, während einer, der Unrecht tut, bestens lebt. Dass das so sein kann, daran haben wir uns gewöhnt. Das Dogma, wonach Gott gerechtes Tun unmittelbar belohne und ungerechtes Tun unmittelbar bestrafe, ist längst gefallen. Mit Gott lässt sich die Ethik nicht mehr versichern. 
Es sind heute andere Sätze, die uns in Erstaunen versetzen. Besser, in ein Haus zu gehen, wo man trauert, als in ein Haus zu gehen, wo man feiert; … Besser verdrießlich sein als lachen, denn bei trauriger Miene geht es dem Herzen gut. (Koh 7,1-3) Eine Ansicht, die ganz aus der Zeit gefallen scheint. Der Zeitgeist will lachen und feiern. Schlechte Laune verbreiten geht gar nicht. Ratgeber des Optimismus und Kurse zum positiv-Denken gibt es wie Sand am Meer. Ratgeber des Pessimismus und Schulen zur Verdrießlichkeit nicht. Bei trauriger Miene geht es dem Herzen gut. Ein Satz gegen den Zeitgeist und so gesehen ein heißer Satz, den auch ich nicht so einfach stehen lassen würde. Wie, echt jetzt? Besser verdrießlich sein als lachen? Nicht dein Ernst!
Dieser Prediger ist kein dauerlächelnder Muntermacher. Er ist allerdings auch kein depressiver Trübsalbläser. Er ist weder Optimist noch Pessimist, sondern Skeptiker. Er sieht die Grenzen des Erkennbaren ebenso wie die Grenzen des Machbaren. Aber in diese Grenzen scheint er dann doch etwas verliebt. Er betrachtet sie fasziniert und beobachtet fast genüsslich, wie das Ungreifbare und Unbegreifbare jenseits der Grenzen seine Nebelschwaden in die heimischen Regionen des Überschaubaren treibt und dort eine gewisse Ungemütlichkeit verbreitet. Jedenfalls hat der Prediger sein Lieblingswort gefunden, das klingt hebräisch so: häwäl. Alles ist häwäl. Windhauch und heiße Luft, eitel und nichtig. 38-mal kommt das Wort in dem kleinen Buch vor. Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet, nichtig und flüchtig, alles ist häwäl, Windhauch und heiße Luft. Was einmal geschah, wird wieder geschehen. Welchen Gewinn hat der Mensch von seiner ganzen Mühe und Arbeit unter der Sonne? (Koh 1,2f)
Nicht depressiv ist der Windhauch-Prediger, nur melancholisch. Wie sollte man auch nicht traurig werden angesichts der Einsicht, dass den Menschen Grenzen gesetzt sind, die sie auch beim besten Willen nicht überspringen können? Es ist zwar alles eitel und nichtig, aber deswegen noch lange nicht alles sinnlos. Im Maß ihrer Möglichkeiten sollen die Menschen tun, was sie können. Nur sollen sie sich dabei nicht überfordern. Dem begrenzten Maß im Tun und Erkennen können wir nur durch Mäßigung gerecht werden. Im Rahmen bleiben, nicht über die Stränge schlagen und sich nicht überfordern, dann lässt sich das Leben durchaus sinnvoll gestalten. 
Die Appelle zur Mäßigung, zur milden Bescheidenheit und darin dann doch zu einer stillen Vergnüglichkeit – diese Züge sind mir am Prediger sympathisch. Mein Lieblingssatz: Sei nicht übergerecht, und gib dich nicht gar zu weise. Warum willst du scheitern? (Koh 7,16) Das ist auch ein heißer Satz, heiß von der anderen Sorte. Keiner, der mich aufregt und echauffiert, sondern einer, der mich anregt und begeistert. Einen Satz wie diesen findet man meines Wissens kein zweites Mal in der Bibel. Es ist ein vollkommen singulärer Rat, zu dem nur Kohelet fähig ist. Dabei will dieser Satz gar nicht heiß machen, sondern im Gegenteil, uns etwas abkühlen, jedenfalls die Heißsporne unter uns. Eine kalte Dusche für die Eiferer. Übertreibt es nicht mit eurem Gerechtigkeitseifer! Das führt am Ende doch nur zum Scheitern, zu Enttäuschung und Frust, im schlimmsten Fall zu moralischer Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit. Übertreibt’s nicht! Damit aber dieser Rat nicht als Ermunterung missverstanden wird, sich gar nicht mehr um Gerechtigkeit zu scheren, hegt ihn der Prediger gleich durch ein Gegengewicht ein: Sei nicht zu oft ungerecht, und sei kein Tor. Warum willst du sterben vor deiner Zeit? Gut ist es, wenn du dich an das eine hältst und auch vom anderen nicht lässt. Wer Gott fürchtet, wird beidem gerecht. (Koh 7,17f) Appelle zur Mäßigung müssen beide Extreme im Blick haben.

Der Prediger – ein biblisches Glutnest, das an einer allzu eifernden Kirche zündelt, die Heilsversprechen an Gerechtigkeitsappelle knüpft, wie auch an einer allzu harmlosen Kirche, die sich damit begnügt, nur noch ein Hort guter Laune zu sein, wo man lacht und feiert. Der Prediger – viele seiner Sprüche machen mich nachdenklich, über manche kann ich mich aufregen, über andere muss ich mich wundern. Der Prediger – ein Glutnest, jedoch kein offenes Feuer. 

Das offene Feuer lodert nicht bei den Weisheitslehrern und Predigern, sondern bei den Propheten. Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?, hat Jeremia erfahren und aufgeschrieben. (Jer 23,29) Sie wurden aus brennenden Dornbüschen gerufen und gesendet (Ex 3,2) und mit glühenden Kohlen geläutert (Jes 6,6). Die Propheten haben sich an den Worten Gottes die Zunge verbrannt. Sie haben für Gott geeifert und es ist ihnen nicht gut bekommen. Sie konnten nicht anders. Gott hat sie gezwungen. 
Wir sind keine Propheten. Wir sind wie Kohelet, sammeln gute Ratschläge und machen uns unsere Gedanken über Gott. Gedanken, die das Denken im Rahmen des uns Denkbaren halten. Und eine Moral, die unser Engagement im Rahmen des uns Machbaren hält. Alles zu seiner Zeit, alles in seinem Rahmen. 
So lebst du deine Tage und gehst du deine Wege am Faden der Geschäftigkeit, in gemäßigter Betriebstemperatur, mit kontrolliertem Temperament und darfst der Weisheit des Predigers trauen. Mach, was du für richtig hältst, ohne auf eine göttliche Belohnung zu hoffen. Aber übertreib es nicht mit dem Gerechtigkeitsstreben, überlass das Eifern Gott, der hat den größeren Überblick! Und schließlich: Verachte nicht die Traurigkeit, auch sie kann einen Sinn haben. Aber am Ende steht in der Weisheit dieses Fazit: Es gibt für den Menschen nichts Gutes unter der Sonne außer zu essen und zu trinken und sich zu freuen. Das kann ihn begleiten bei seiner Mühe in der Zeit seines Lebens, die Gott ihm gegeben hat unter der Sonne. (8,15) Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. (Koh 3,13)
Ist das alles? Für heute ja. Im Büchlein des Predigers scheint das der Weisheit letzter Schluss zu sein. In anderen Büchern der Bibel geht der Blick über die Grenzen des uns Denkbaren und uns Machbaren. Von dort leuchtet ein Licht, das allen Windhauch klärt. Von dort erreicht uns ein Friede, der höher ist als alle Vernunft. Aber das ist dann eine andere Predigt für andere Zeiten. Amen. 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Großstadtgemeinde, teils mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog*innen und Ruhestandsgeistliche. Außerdem halte ich die Predigt zur Andacht der Sitzung der Kirchenleitung vor Theolog*innen und gebildeten und interessierten „Laien“.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte von der Verbrennung von Voltaires Koheletausgabe lieferte die Idee zur Frage, wie „heiß“ biblische Worte sein können und zur (nicht neuen) Erkenntnis, dass es diesbezüglich einen Unterschied zwischen Weisheit und Prophetie in Israel gibt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Kohelet ist ein Meister der Mäßigung. Er warnt vor übertriebenem Gerechtigkeitseifer wie vor allzu großer Laxheit. Der erste Rat stieß bei mir auf offenere Ohren als der zweite.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider hat sich kein Coach gefunden. Es ist aber gut, Zeit zu haben und den Predigtentwurf erst zu überarbeiten, wenn er ein paar Tage gelegen hat und diesen Schritt dann wieder ein paar Tage später zu wiederholen. 

Perikope
16.02.2025
7,15-18