Liebe Gemeinde!
Jan liebt es in dem Familienalbum mit den vielen Fotos zu blättern. Letztes Jahr zur Einschulung hat ihm seine Großmutter das Album zusammengestellt, „damit Du weißt, wer zu Deiner Familie gehört und woher sie kommt. ...Großvater lächelte: „Damit Du weißt, von wem Deine blonden Haare sind.“ Die hatte nämlich auch schon der Ur-Urgroßvater von Jan, also der Großvater von Jans Vater. Sein Name war Hermann und er ist noch vor dem letzten Jahrhundert geboren. Sein Bild findet Jan besonders spannend. Es zeigt Hermann als kleinen Jungen – ungefähr so alt wie Jan. Er trägt einen Anzug so wie ihn die Soldaten tragen, die zur See fahren. Zu diesem Matrosenanzug gehört eine weiße Hose und ein blaues Jackett, dazu eine Mütze wie ein Kapitän. Und schließlich hält Hermann ein kleines Spielzeugschiff in der Hand. Jan wundert sich immer wieder: „So geht doch heute kein Kind mehr zur Schule.“ Großvater erklärt, dass das damals so Mode war – „So wie Du heute Dein Spider-Man T-Shirt trägst.“ „Nee, Opa! Am liebsten trage ich das mit dem Einhorn! Ist denn früher alles anders gewesen?“
„Nicht alles, aber vieles. Schau hier, da siehst Du ein Bild von einem Bauernhof. Das ist der von meinem Großvater, dem Sohn von Großvater Hermann, Hans-Hermann. Dieser Hans-Hermann war verheiratet mit Tante Antchen. Das Leben damals auf dem Hof war nicht einfach, alles musste per Hand gemacht werden, einen Trecker gab es noch nicht, aber sie hatten zwei Pferde. Aber sie waren glücklich. Und: Sie hatten einen starken Glauben.“ „Du meinst, Opa, sie vertrauten, dass Gott bei ihnen ist?“ „Ja, so habe ich es bei ihnen gelernt.
Wenn wir als Kinder bei Opa Hans-Hermann und Oma Antchen zu Besuch waren, dann haben wir immer vor dem Einschlafen gebetet: „Ich bin klein …,“„Kenne ich, kenne ich!“ ruft Jan dazwischen. „Das beten Papa und ich auch jeden Abend!“ „So?“ entgegnet jetzt Opa. „Das hat er dann wohl von mir bzw. Opa Hans-Hermann, denn beim Beten mit ihm wurde mir immer ganz warm ums Herz!“ „Aber jetzt schau mal hier, Opa: Ein Bild aus der Kirche. Ihr sagt immer, die Puppe, die Mama und Papa da halten, das bin ich!?
Aber ich kann mich an nichts erinnern! Wie gut, dass es wenigstens ein Foto gibt!“ „Und es gibt ganz viele aus Deiner Familie, Jan, die dabei waren und gehört haben, dass Gott zu Dir sagt: 'Jan, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du gehörst zu mir!'“ „Ist das wahr, Opa?“ „Was? Dass Deine ganze Familie mit dabei war und sich mitgefreut hat? „Nein! Dass Gott das zu mir gesagt hat?“„Ja, das ist wahr, so wahr wie die Tatsache, dass Du dieselben blonden Haare hast wie dein Ur-Urgroßvater Hermann, der einen Matrosenanzug trug.“
Blättern im Fotoalbum der Familie. Geschichten hören aus vergangenen Zeiten. Menschen begegnen, die meinen Lebensweg beeinflusst haben. Jan liebt es, davon zu hören. Im heutigen Predigttext begegnen wir der Geschichte des christlichen Glaubens in Europa. Leider gibt es davon keine Fotos, die wir in ein Album kleben könnten, weder Schwarz-weiß noch Farbe. Und doch malt uns der Predigttext bunte Bilder von den Anfängen.
Wir gehen zurück und blättern im Album der Erinnerungen. Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in der Apostelgeschichte im 16. Kapitel:
9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.
Gott segne dieses sein Wort an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden.
Der christliche Glaube kommt nach Europa! Die Anfänge der christlichen Kirchen auf diesem Kontinent liegen in Griechenland, dort, wo ohnehin unsere kulturelle Wiege steht. Der Schreiber der Apostelgeschichte schlägt die ersten Seiten im Familienalbum auf. Das erste Bild: Eine Hafenstadt am Mittelmeer in der heutigen Türkei. Das blaue Meer, bunte Fischerboote, Netze, die mit der Hand an Bord gezogen werden. Man hat fast das Gefühl, es riecht nach Meer – nach Salz, nach Fisch. Die Sonne scheint kräftig dort, wo viele heute Urlaub machen. Doch Paulus ist nicht zum Ausruhen am Meer …Mit den warmen Winden erreicht ihn der Ruf aus Griechenland: „Komm herüber und hilf uns!“ Ein Traum, die Stimme Gottes, sein innerer Antrieb als „Missionar der Heiden“ den neuen Glauben zu verbreiten? Paulus brannte seit seiner Bekehrung vom Saulus zum Paulus für diesen Glauben. Er hatte die große Freiheit in seinem Leben erfahren, die Jesus Christus durch seinen Weg ans Kreuz schenkte. Er spürt aber auch immer wieder den Segen Gottes, der ihn einhüllte wie in einen Mantel, wenn er Schutz und Hilfe brauchte. Die Botschaft sollte nicht im Geheimen bleiben.
„Gehet hin in alle Welt!“ mit diesem Auftrag hatte der Auferstandene seine Jünger zurückgelassen. Paulus macht damit Ernst.
Ein weiteres Bild – wie aus dem Bilderbuch: der Wind füllt die Segel, das Fährschiff gleitet sanft dahin, Paulus und sein Gefährte Silas betrachten den Horizont. Wie wird die neue Welt sie empfangen? Neapolis, die heutige Hafen- und Handelsstadt Kavala in Griechenland ist ihr Ziel. Es ist nur eine kleine Seereise durch das ägäische Meer. Nachts wird auf einer Insel pausiert, weil es in der Dunkelheit zu gefährlich ist.
Für viele ist diese Route zu einem Weg der Hoffnung geworden und endet doch tragisch. Geflüchtet aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien vertrauen sie sich Schlepperbanden an und ihren völlig überladenen Booten. Die Route der Hoffnung wird zur Endstation. Und wer die „Festung Europa“ erreicht, ist noch längst nicht in Sicherheit. Das christliche Europa scheint immer wieder zu vergessen, dass der christliche Glaube Menschen zusammenführt und nicht trennt, dass die Gottesliebe ohne die Nächstenliebe kalt und fade ist.
In den letzten Wochen sind viele Menschen auf die Straße gegangen, um ein Zeichen zu setzen gegen Fremdenhass und die Verweigerung, Geflüchtete in ihrer Not aufzunehmen. Der heutige Wahlsonntag wird zeigen, ob das Erbe der christlichen Werte auch in der Gegenwart trägt. Nicht nur der Startpunkt des christlichen Europa liegt in Griechenland, auch die Wiege der Demokratie, allerdings gut 500 Jahre bevor Paulus und Silas europäischen Boden betraten. Ich finde, beides passt gut zusammen. Und wir tun gut daran, wenn wir uns bei unserer Entscheidung für die eine oder andere Partei, an dem orientieren, was damals aus Palästina nach Europa herüberkam: der Glaube an die Menschenfreundlichkeit Gottes und an seinen Auftrag, diese Welt zu bebauen und zu bewahren.
Diese gute Botschaft wollten auch die Missionare bringen, die im Laufe der Jahrhunderte der Kirchengeschichte sich oft auf weitere Reisen als Paulus und sein Gefährte Silas begaben. Doch auf den Reisen in unbekannte Welten und zu fremden Völkern hatten sie allzu oft neben Bibel und Gesangbuch Leiden, Unterdrückung und Ausbeutung dabei – gesandt, um zu herrschen, nicht zu dienen… Deshalb muss jede Botschaft, jeder Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit kritisch hinterfragt und geprüft werden: Dient es den Menschen? Strahlt Gottes Liebe auf? Liegt darauf der wärmende Segen, den Gott verheißen hat….?
Paulus lässt sich rufen, er drängt sich nicht auf. Er ist auf der Seite der Mühseligen und Beladenen – er sucht sie und er findet sie.
Jetzt bräuchten wir ein Gruppenfoto mit allen. Es müsste ein Farbfoto sein, die Farbe der Kaiser, Könige und Kardinäle müsste darauf kräftig leuchten: Purpur. Dazu die Frauen, die draußen vor der Stadt den kostbaren Farbstoff aus der Purpurschnecke gewinnen – ein schmutziges, ein ekliges Geschäft. Die Armen schuften sich ab, damit es den Reichen noch besser geht. Eine Frau auf dem Bild sticht hervor: Selbstbewusst steht sie in der Mitte. Sie scheint den Sprung aus der Sklaverei geschafft zu haben. Nun wird sie die erste Christin auf europäischem Boden: Lydia.
Paulus und Silas suchen Menschen, die empfänglich sind für den neuen Glauben. Doch sie gehen nicht auf die Marktplätze, wie später in Athen, wo der christliche Glauben in Konkurrenz zu Philosophien und Religionen seiner Zeit steht. Sie gehen dorthin, wo sie wissen, dass Menschen in den Wurzeln des jüdischen Glaubens verankert sind: Die kleine jüdische Gemeinde, die sich am Sabbat draußen vor den Stadttoren am Fluss trifft. Vielleicht haben sie schon lange auf solche befreienden Worte gewartet: Dass es keinen Unterschied zwischen Reichen und Armen, Sklaven oder Freien, Mann oder Frau, Jude oder Grieche … gibt. Gottes Zuwendung in Jesus Christus gilt allen, seine Liebe braucht kein Purpur, seine Zuwendung zu den Menschen macht nicht Halt an den Grenzen der Kontinente. Und so entsteht die erste christliche Gemeinschaft auf europäischem Boden, vielleicht ist die Beschreibung als „Kirche“ zu weit gegriffen, aber hier liegen die Anfänge. Die Purpurhändlerin Lydia lässt sich taufen mit ihrem ganzen Hause. Die erste Kirche ist eine Frauenkirche – wie auch heute noch an der Basis. Die erste Kirche tauft offenbar auch die Kleinsten im Hause, also die, die weder „Ja“ sagen können noch ein Bekenntnis aufsagen – auch sie gehören dazu.
Und so gäbe es sicherlich ein fröhliches Foto mit der „gottesfürchtigen Lydia“ und allen, die sich taufen ließen. Ein Foto von einem Meilenstein in der Kirchengeschichte und dem großen Glück der Getauften, weil Gott spricht: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen – du bist mein!“ Seitdem verbindet sich der Name Lydia mit den Anfängen des christlichen Glaubens in Europa.
Und Ihre eigene Glaubensgeschichte – womit verbindet die sich? Welche Bilder tauchen da auf? Wer war für Sie Anstoß oder Vorbild im Glauben? Wer hat Ihnen ein Leben voller Hoffnung und Zuversicht vorgelebt? Von wem müsste ein Foto in meinem Familienalbum aufgenommen werden?
War es auch der Großvater, der tiefe Spuren des Glaubens hinterlassen hat. Ein frommer Mann. Zum Essen wurde gebetet – selbstverständlich. Und auch abends im Bett. „Ich bin klein …“
Das tat gut, das nahm die Angst in der Dunkelheit und der Einsamkeit der Nacht. Und wie ist es bei Ihnen – beten Sie mit Ihren Kindern oder Enkeln?
Ja, die ältere Genration erinnert sich noch gern und zugleich mit Schrecken an die Pastoren alter Schule, die mit aller Strenge und Disziplin die Gesangbuchlieder und den Katechismus abfragten. „Damals mussten wir noch richtig lernen!“ – heißt es. Und wirklich: Manche Schatzkiste ist da fürs Leben gepackt worden, mit guten Gebeten, tröstenden Psalmen und mit Liedern, die länger halten als die Charts der 70er und 80er Jahre. Aber es gab auch manche innere Verletzung und eine Abkehr von der Kirche – so bald wie möglich…
In meinem Konfirmandenunterricht wurde tatsächlich noch viel auswendig gelernt – die wichtigsten Lieder oder auch die Erklärung Luthers zum Glaubensbekenntnis oder zum Vater Unser. Da mir das Lernen leicht fiel, war es für mich kein Problem, aber was war mit den vielen anderen? Zum Glück hat mein Konfirmator damals aber auch schon neue Impulse im Unterricht gesetzt. Und wir sind auf einer Konfirmandenfreizeit gewesen – da haben wir den Pastor von einer ganz anderen Seite erlebt. Später, in der Jugendgruppe, gab es sogar ein freundschaftliches Verhältnis und ich sagte mir damals: So möchte ich später auch Jugendliche begleiten.
Wenn Sie zurückgehen zu den Wurzeln Ihres Glaubens, welchen Menschen begegnen Sie da, welche Erfahrungen gab es, was war hilfreich, was stand der guten Botschaft im Wege?
Ich möchte Sie einladen, einen Augenblick bei etwas Musik darüber nachzudenken und zurückzugehen an den Ort, wo die ersten Erfahrungen waren, Bilder von Menschen und Ereignissen, die für sie prägend waren.
(Musik)
Der Anfang der Kirche in Europa, die Geschichte unseres ganz persönlichen Glaubens. Es tut gut, sich an die Wurzeln erinnern zu lassen. Es macht dankbar zu erinnern, wer mich auf dem Weg des Glaubens begleitet hat. Es macht aber auch Mut, diesen Glauben weiterzugeben und wo nötig auch kritisch zu hinterfragen.
Der kleine Jan nimmt immer wieder sein Fotoalbum zur Hand mit den Bildern von Menschen, die lange vor ihm lebten, aber auch mit den Bildern schon aus seinem kurzen Leben. „Damit Du weißt, wer zu Deiner Familie gehört und woher sie kommt!“ hatte die Großmutter gesagt, als sie ihm das Album zum Schulanfang schenkte. Jan hörte immer wieder: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Doch er spürte, dass er geborgen ist und getragen wird, denn die Erinnerungen schenken ihm Hoffnung und Zuversicht. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Sonntag Sexagesimae stellt das Wort Gottes in den Mittelpunkt. Paulus lässt sich nach Griechenland rufen. Seine Worte lassen Lydia zum christlichen Glauben konvertieren. Die Epistel spricht von dem Wort als zweischneidiges Schwert. Das Evangelium von der vierfachen Ackerfrucht zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf Gottes Wort. Mit einer durchschnittlichen Gemeinde mit älteren Menschen und einer große Gruppe Konfirmand*innen möchte ich in die Zeit von Paulus und Silas eintauchen. Für alle gilt die Frage: Wer hat mich ganz persönlich in meinem Glauben begleitet?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die schönen Bilder, die von Urlaub, Erholung, Entspannung sprechen, haben mich beflügelt noch weiter diesen Bildern nachzugehen. Wie Fotos stehen sie vor mir und lassen mich den Hauch von Mittelmeer, Sonne und Wärme spüren. Ich lade dazu ein, mit Lydia über die Anfänge des christlichen Glaubens nachzudenken, damals die Anfänge des christlichen Glaubens in Europa, danach viele, viele Male ganz persönlicher Ansprachen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich habe wieder neu die Entdeckungen gemacht, dass der liebende Gott mich begleitet durch Höhen und Tiefen. Und seine Zusage gilt: Siehe ich bin bei euch, bis an das Ende der Welt (Mt 28). Dabei ist es wichtig, dass wir uns immer wieder an Stationen erinnern, wo die Liebe Gottes in unserem Leben aufleuchtet. Das macht Mut, die Wege unseres menschlichen Lebens zu wagen, auch wenn manche Wegstrecke dunkel ist und unklar.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Zunächst eine wohltuende und wohlwollende Rückmeldung und eine Analyse, die dem Prediger und der Predigt mit ihrem Anliegen völlig gerecht wurde. Der Eingangsteil ist durch die Bearbeitung entschärft worden. Der Wahlsonntag am 23.02.2025. findet nun doch einen kurzen Hinweis. DANKE!