Geht es zu weit? Es geht weiter! - Predigt zu Apg 8,26-40 von Dörte Gebhard
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in der Apostelgeschichte des Lukas im 8. Kapitel. Dafür müssen wir heute weit gehen, an die Strasse zwischen Jerusalem und Gaza.
26 Philippus ... erhielt vom Engel des Herrn den Auftrag: »Steh auf! Geh nach Süden zu der Straße, die von Jerusalem nach Gaza führt und menschenleer ist.«
27 Philippus stand auf und ging zur Straße. Dort war ein Mann aus Äthiopien unterwegs. Er war ein kastrierter Mann und ein hoher Beamter am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien. Er verwaltete ihr Vermögen und war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten.
28 Jetzt war er auf der Rückreise. Er saß in seinem Wagen und las im Buch des Propheten Jesaja.
29 Der Heilige Geist sagte zu Philippus: »Geh hin und bleib in der Nähe des Wagens!«
30 Philippus lief hin und hörte, wie der Mann laut im Buch des Propheten Jesaja las. Philippus fragte: »Verstehst du eigentlich, was du da liest?«
31 Der Eunuch sagte: »Wie soll ich es verstehen, wenn mir niemand hilft?«
Und er bat Philippus: »Steig ein und setz dich zu mir!«
32 An der Stelle, die er gerade las, stand: »Wie ein Schaf wurde er zur Schlachtbank geführt. Wie ein Lamm stumm bleibt, wenn es geschoren wird, sagte er kein einziges Wort.
33 Er wurde zutiefst erniedrigt, doch das Urteil gegen ihn wurde aufgehoben.
Wer wird seine Nachkommen zählen können? Denn sein Leben wurde von der Erde weg zum Himmel emporgehoben.«
34 Der Eunuch fragte Philippus: »Bitte sag mir, von wem spricht der Prophet hier – von sich selbst oder von einem anderen?«
35 Da ergriff Philippus die Gelegenheit: Ausgehend von dem Wort aus Jesaja, verkündete er ihm die Gute Nachricht von Jesus.
36 Als sie auf der Straße weiterfuhren, kamen sie an einer Wasserstelle vorbei.
Der Eunuch sagte: »Dort ist eine Wasserstelle. Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?« 37 [...]
38 Er befahl, den Wagen anzuhalten. Beide, Philippus und der Eunuch, stiegen ins Wasser, und Philippus taufte ihn.
39 Als sie aus dem Wasser herausstiegen, wurde Philippus vom Geist des Herrn fortgenommen. Der Eunuch sah ihn nicht mehr. Aber er setzte seinen Weg voller Freude fort.
40 Philippus fand sich in Aschdod wieder. Von dort zog er weiter bis nach Cäsarea. Unterwegs verkündete er in allen Städten die Gute Nachricht. (vgl. Basisbibel)
Immer hören die Geschichten im schönsten Moment auf! Schon als Kind hat mich bei den meisten Büchern und manchen Filmen brennend interessiert, wie es denn nun weitergeht! Jetzt, wo es erst richtig anfängt ... mit der Taufe.
Mit Fragen, so erzählt man sich, habe ich die Erwachsenen gelöchert. Ich wollte wissen, was danach geschah! Wenn ich dann wenig einleuchtende Antworten bekam, hatte ich plötzlich die „geheime“ Superkraft aller Kinder, sehr ausdauernd und immer wieder „Waaarum?“ zu fragen. Alsbald bekam ich ein Gespür dafür, wie schnell Erwachsenen etwas zu weit geht. Und nur, weil ich wissen wollte, wie es überhaupt weitergeht ...
In dieser Taufgeschichte geht einiges zu weit! Und es ging weiter, sonst wüssten wir nichts davon. Es ging weiter – an zwei völlig verschiedenen Orten.
Denn irgendwann einmal kommt dieser Kämmerer von seiner weiten Reise wieder nach Hause an den Hof seiner Königin, weit im Süden, am Nil.
Philippus dagegen trifft sich in Cäsarea, an der Mittelmeerküste, mit Paulus, der unterwegs nach Jerusalem ist (vgl. Apg 21, 8). Beide, der Schatzmeister und Philippus, der Täufling und der Täufer, werden jeweils ihre Version dieser speziellen Taufe erzählt haben. Aus ihrer Perspektive, auf ihre Art.
Am besten hören wir nacheinander beide Geschichten:
I Wie der Schatzmeister seiner Königin rapportieren muss
II Wie Philippus sich den Nachfragen des Paulus stellt
Zuerst:
I Wie der Schatzmeister seiner Königin rapportieren muss
Der Schatzmeister hatte nach seiner Taufe noch mehr als 2500 km vor sich. Seine Route ging südwärts, immer dem Nil nach, bis in den heutigen Sudan, an den Hof seiner Königin namens Amanitore.
Er war viele Monate unterwegs gewesen auf seiner Reise nach Jerusalem. Trotz seines Wagens war es eine gefährliche Fahrt. Nun kam er nach vielen Wochen erschöpft heim, musste aber sicher sofort vor seiner Königin erscheinen.
Amanitore war aufgebracht: „Wo waren Sie so lange? Was haben Sie dort getrieben? – Ich weiss, dass Sie sich für den Gott der Juden interessieren! Das haben Sie gesagt, aber Sie haben nicht gesagt, wie weit es ist! Nie hätte ich das erlaubt! Nie! Viel zu weit!“
So musste der müde Kämmerer wohl sehr viel erklären und alles vor ihren Augen ausmalen, denn Fotos hatte er keine machen können. So teilte er ihr auch fast nur unglaubliche Dinge mit, z.B. dass in Jerusalem keine Königin regierte und dort statt einem Matriarchat die Männer das alleinige Sagen hatten. Er bekannte der Königin: „Reisen bildet. Stellen Sie sich vor, die Welt ist viel grösser als Ihr grosses, nubisches Reich!“
Oh, jetzt musste er aufpassen, was er sagte! Amanitore ging es schnell einmal zu weit ...
Die Königin konnte es sich nicht vorstellen: „Sie waren der einzige Schwarze weit und breit unter Menschen mit durchwegs hellerer Haut?! Mit fast weisser Haut? Ihre Fantasie spielt Ihnen Streiche! Ich kenne nur Schwarze. Sie waren bei 40 Grad im Schatten unterwegs, die Hitze kann einem Menschen schon einen Stich versetzen!“
Er berichtete ruhig weiter: „Das prächtige und jahrtausendealte Jerusalem ist von den Römern besetzt und ein römischer Statthalter beherrscht alles und alle. Aber die römischen Herrscher dulden den Tempelkult der Juden vorläufig. Nur ich, als Eunuch, also als kastrierter Mann, hatte keinen Zugang zum Tempel. Das liegt an den Heiligen Schriften der Juden. Hören Sie, was in der Thora steht, im 5. Buch Mose, Kapitel 23, 2: Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des Herrn kommen.“
Die Herrscherin überging das und fragte lieber, ob er ihr etwas Schönes mitgebracht habe?! Als sie von der Schriftrolle erfuhr, war sie schwer enttäuscht: „Die soll besonders wertvoll sein?“ Er hatte ein Vermögen dafür bezahlt! Handgeschrieben, 66 Kapitel lang. Sie meinte: „Beeindruckend, durchaus – aber so teuer?“
Die Königin fragte, ob das nun diese Thora sei, die „Bücher der Weisung“ (vgl. Martin Buber) für die Juden? Wo eben solche merkwürdigen Regeln aufgeschrieben sind, dass ein Eunuch, dass sexuelle Minderheiten überhaupt, nicht zugelassen sind?!
Da erzählte der Kämmerer: „Das Buch des Propheten Jesaja ist mein liebstes. Darum habe ich es gekauft, trotz des hohen Preises. Nicht die Thora.
Dieses Prophetenbuch wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ergänzt und fortgesetzt von Schülern des Jesaja. In den jüngsten Kapiteln, fast am Schluss, heisst es – anders als in der Thora –, dass Kastraten eben doch Gnade und ewige Anerkennung finden bei Gott.“
Und er las seiner Königin aus Jesaja 56, 3-5 vor:
3 Der Fremde, der sich dem Herrn angeschlossen hat, soll nicht sagen müssen: Der Herr schließt mich aus seinem Volk aus! Der Kastrierte, der keine Kinder zeugen kann, soll nicht sagen müssen: Ich bin ja nur ein verdorrter Baum.
4 Denn so spricht der Herr: Es gibt Kastrierte, die meinen Sabbat immer einhalten. Sie haben sich entschieden, meinen Willen zu tun, und halten sich treu an meine Gebote.
5 Ihnen setze ich innerhalb der Tempelmauern ein Denkmal mit ihrem Namen. Das ist mehr wert als Söhne und Töchter. So sorge ich dafür, dass ihr Name für immer bleibt und niemals vergessen wird. (Basisbibel)
„Also haben Sie doch in den Tempel gedurft?“ – „Nein, leider nicht. Aber auf der Heimfahrt, da habe ich mich ganz in die Schrift des Propheten vertieft, ohne sehr viel zu begreifen. Plötzlich tauchte einer auf, der mir restlos alles erklären konnte, was ich nicht verstand – und noch viel mehr. Bei Jesaja wird von einem Gerechten geschrieben, der leiden muss, obwohl er keinerlei Schuld auf sich geladen hat. Dieser Philippus, wie er sich nannte, erzählte mir von Jesus Christus. Der hatte als Gerechter gelitten und war gekreuzigt worden, hatte aber den Tod überwunden, ist auferstanden und lebt.“
Das alles ging der Königin jetzt viel zu schnell und viel zu weit! Dieser Philippus sei absolut ärmlich gekleidet gewesen und hätte mager ausgesehen ... „Ein Dahergelaufener war gebildet und fähig, diese Schriften auszulegen? Einer ohne Wagen, ohne Diener, einer, der barfuss durch den Staub lief? Der glaubte, Jesus Christus sei nicht einfach gestorben, sondern wie ein Lamm geschlachtet worden – und lebt nun ewig nach dem Tod?“
«Ja, genau! Das glaube ich – und ich bin fröhlich unterwegs, seit ich getauft bin! Kurzentschlossen habe ich mich taufen lassen, als Wasser am Wegesrand zu finden war.»
Die Königin hatte aufmerksam zugehört und fasste es noch einmal zusammen: «In den legendären Tempel in Jerusalem haben Sie nicht gedurft, aber in einem Tümpel im Irgendwo haben Sie sich taufen lassen?! Es geschah im Namen eines Gottes, dessen Liebe sogar stärker ist als der Tod, der Menschen annimmt über alle Grenzen hinweg? Weder die Sexualität noch die Hautfarbe, weder die Herkunft noch die finanziellen Verhältnisse sind entscheidend? Alle Menschen hat Gott geschaffen, alle sollen von ihm hören und zu ihm gehören? Das hat Jesus Christus verkündet und gelebt?»
«Ja! Amen! So ist es!» Ob es der Königin zu weit ging? Wir wissen es nicht, aber trotz aller Verfolgung leben bis heute Christinnen und Christen dort, wo einst die Königin Amanitore, ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen, regierten.
Orgelzwischenspiel für den Ortswechsel
II Wie Philippus sich den Nachfragen des Paulus stellt
Schauen wir aber jetzt, wohin es Philippus verschlagen hatte nach dieser Taufe. In der Apostelgeschichte heisst es: Philippus aber fand sich in Aschdod wieder und zog umher und predigte in allen Städten das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam. Und ein paar Kapitel später wird von Paulus berichtet, dass er für ein paar Tage bei ihm wohnt und Pause macht auf seiner letzten Reise nach Jerusalem (Apg 21, 8).
Den Apostel Paulus bewundert Philippus einerseits, weil der schon predigte, als er selbst noch Christen verfolgte. Er schätzt ihn, weil er wie er nicht nur Juden, sondern auch Heiden für das Christentum gewonnen hatte.
Aber andererseits: Diese Taufgeschichte mit dem Kämmerer ging Paulus doch erstmal zu weit! Ein Schwarzer aus einer vollkommen anderen, unbekannten Kultur! Die Philosophie der heidnischen Griechen kannte man. Aber mit dem? Konnten sie sich denn überhaupt richtig verständigen? Höchstens auf Griechisch, auf keinen Fall in ihrer Muttersprache.
Philippus kam ins Schwitzen, obwohl vom Meer her doch eigentlich immer ein frisches Lüftchen blies ... Er musste sich wahrscheinlich rechtfertigen, vor allem, dass er ihn so überstürzt getauft hatte. Paulus, der grosse Apostel, stellte sich das alles anders vor. Er hatte seine Methode: Man kommt an einen neuen Ort und besucht zunächst die Synagoge. Erst, wenn man da nicht angehört oder sogar rausgeworfen wird, wendet man sich an die Heiden. Man gründet, wenn möglich, eine kleine Gemeinde, ehe man weiterzieht. Und wenn es in der Gemeinde Fragen oder Schwierigkeiten gibt, schreibt man ausführliche Briefe, schickt Mitarbeiter. Sonst ist es doch nicht nachhaltig mit der Ausbreitung des Glaubens!
Aber dieser Kämmerer? Wie hiess der denn? Philippus war es peinlich, das hatte er vor lauter Aufregung total vergessen! Und eine Adresse, wie Paulus sich das vorstellte, hatte er auch nicht. Und selbst wenn er nun geschrieben hätte «An den Christen am Königshof der Amanitore», wer hätte den Brief dorthin gebracht? Ausserhalb des Römischen Reiches gab es nicht solche Strassen, wie sie Paulus auf seinen Reisen gewohnt war!
Der Geist Gottes hatte Philippus an die Strasse nach Gaza geschickt, selbst wäre er niemals auf diese Idee gekommen. Er fand das eigentlich zu weit. Zu weit weg von Jerusalem. Zu einsam, viel zu gefährlich. Wo der Mann herkam, hätte er nicht zu sagen gewusst. Irgendwo im Süden. Weit weg. – Sie haben schliesslich über die Jesajastelle gesprochen und seien vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, natürlich ging es dann um den Glauben an Jesus Christus, nicht um Geographie!
Oh, jetzt musste er aufpassen, was er sagte! Denn Paulus war auch nur ein Mensch, dem natürlich bald einmal auffallen musste, dass dieser Kämmerer jetzt nur Jesaja kannte und nachlesen konnte. Philippus fand, er sollte auch mal einen Brief schreiben!
Aber es ging noch weiter!
Das heikelste Thema für Philippus war der Reichtum dieses Kämmerers. Den hatte er unbedachterweise gleich zuerst geschildert! Der Wagen, die Kleider, ... Und er konnte sich sogar eine Schriftrolle leisten! Paulus hätte dafür niemals das Geld zusammenbekommen. Ob Philippus diesen märchenhaft reichen Kämmerer wenigstens um eine anständige Kollekte gebeten habe ...?! Paulus erinnerte Philippus daran, dass er immerhin seit Jahren Kollekte für Jerusalem sammelte.
Aber als Philippus ängstlich darüber nachdachte, was Paulus ihm wohl noch vorhalten würde, fasste Paulus nochmal zusammen: Nachdem er nicht in den Tempel konnte, hatte Philippus ihn in einem Tümpel im Irgendwo auf seine Bitte hin getauft. Es geschah im Namen des Gottes, dessen Liebe sogar stärker ist als der Tod, der keinen Menschen hindert, der nach ihm sucht und fragt. Weder die Sexualität noch die Hautfarbe, weder die Herkunft noch die finanziellen Verhältnisse sind entscheidend. Alle Menschen hat Gott geschaffen, alle sollen von ihm hören und zu ihm gehören. Das hat Jesus Christus verkündet und gelebt, dafür ist Christus gestorben, fügt Paulus noch an.
Und Philippus ergänzt: Und er ist von den Toten auferstanden. Er hatte gern diesmal das letzte Wort.
Liebe Gemeinde,
im schönsten Moment hört diese Predigt auf!
Jetzt, wo wir soweit sind, dass die Männer sich einig sind.
Wie die Geschichte weitergeht? Das erleben wir mitten unter uns, in der grossen Gemeinschaft derer, die getauft sind und derer, die auf dem Weg zur Taufe sind.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Im Gottesdienst werden zwei Kinder eingesegnet, die Familie kommt mit ca. 60 Personen und vielen Kindern; für kleinere gibt es eine Hüeti, grössere gehen in den Kindertreff. Die Gemeinde ist sehr interessiert, es gibt viele Hauskreise und zwei Bibelgesprächskreise; die Predigt wird von einigen gern schriftlich nachgelesen. Im Anschluss an den Gottesdienst gibt es zum Start in die Sommerferien ein Grillfest, bei dem alle zusammen feiern (ca. 120 Personen).
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich hatte die Gelegenheit, den Predigttext in einer Bibelarbeit am Gemeindewochenende in Adelboden zum Thema „Lebendiges Wasser“ gemeinsam zu studieren, die Vorbereitung darauf und die Fragen der Teilnehmenden waren beflügelnd. Dass und wie queere Menschen in der Bibel vorkommen, bewegte die Teilnehmenden an dieser Bibelarbeit. Sie waren überrascht und vertieften sich in den Unterschied von Thora und Jesajabuch.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Vertieft habe ich mich anlässlich der Stichworte Kandake und Eunuch und viel über die teilweise matriarchale Kultur im heutigen Sudan gelesen. Z.B. folgende Quelle: https://www.theomag.de/126/am703.html . Befasst habe ich mich auch mit aktuellen, touristischen Reise(un)möglichkeiten, falls jemand nachfragt. Theologisch ist mir die Offenheit gegenüber allen queeren Menschen wichtig, die in Teilen unserer Kirchgemeinde noch einen weiten Weg vor sich hat – sehr vielen geht sie im Moment noch zu weit.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt verdankt der Bearbeitung mehr direkte Rede und damit mehr direkte Identifikationsmöglichkeiten mit dem Kämmerer, der Königin, dem Diakon, auch mit dem Apostel Paulus. Es wird möglich, sich in die sehr unterschiedlichen Akteure hineinzuversetzen und hoffentlich fast gleichzeitiges Verständnis auch für diejenigen zu entwickeln, die sehr verschiedener Ansichten sind.
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Himmelfahrt und Führerschein - Predigt zu Apg 1,3-11 von Christoph Kock
Frau Ludewig macht den Führerschein
[Dieser Einstieg stammt von Thomas Hirsch-Hüffel, Die Zukunft des Gottesdienstes beginnt jetzt. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2021, digitaler Anhang S. 78.]
Frau Ludewig ließ ihren Mann die Überweisungen für die Bank schreiben. Sie ließ ihn den Wagen steuern bei den Fahrten von Hamburg-Barmbek nach Grömitz zu ihrem kleinen Wohnwagen. Sie schaute mit ihm Lindenstraße, auch wenn sie lieber im Garten im Hof gesessen hätte. Dafür schnitt er am Wochenende das Gemüse und brachte eine Flasche Sekt mit, damit sie beide ein bisschen feiern konnten.
Manchmal träumte sie davon, ein Flugzeug selbst zu steuern. Immer wieder startete sie erfolgreich im Traum, aber nach ein paar Kilometern landete sie im Vorgarten ihrer Eltern. Da großes Theater: Die Hecke kaputt! Wie kannst du nur … Immer wieder diese Szene nachts. Einmal hat sie Paul morgens davon erzählt. Er hat gegrunzt und gesagt: Na, du willst ja hoch hinaus. Mach doch erstmal Führerschein, ich zahl’s auch. Hat sie nicht. Warum auch, er fuhr gern und sie fuhr mit.
Vor zwei Jahren hat sie ihren Mann nach 34 Jahren Ehe hergeben müssen.
Erst ging gar nichts mehr. Die beiden Söhne kamen oft, weil sie kaum essen wollte. Der Pastor sagte: Tragen Sie doch eine Weile schwarz. So machte sie es. Und es tat ihr gut, ihre Trauer zeigen zu können. Die Söhne schrieben die fälligen Überweisungen und bestellten ihr ein Taxi.
Eines Tages wachte sie auf, hörte die Vögel schimpfen, sah die leere und saubere Hälfte des Ehebettes an und schüttelte den Kopf. Sie ging an den Schrank, warf seine Anzüge in einen Karton, zerlegte das Bett und wartete beim Kaffee auf die Ladenöffnung. Eine Woche später stand ihr neues, schmaleres Bett im Zimmer.
Dann ging sie auf die Bank und ließ sich zeigen, wie man Überweisungen ausfüllt. Sie ließ sich vom älteren der Söhne auf einem alten Flugplatz zeigen, wie man ein Auto steuert. Meldete sich beim Führerschein an, fiel einmal durch und bestand beim zweiten Mal. Nun fährt sie – nach Kopenhagen. Weil sie das Licht so schön findet da oben.
Die Jünger sind dran
Wir sehen Jesus stehen mit seinen Jüngern ohne Führerschein. Sie sind ihm nachgefolgt. Dorthin gegangen, wohin er gegangen ist. Sie haben ihn die Richtung vorgeben lassen. Sie haben gemacht, was er gesagt hat. So einfach ist das gewesen. So viel haben sie mit ihm erlebt, Zeichen und Wunder. Manchmal verborgen in überraschenden Begegnungen: Mit Leuten haben sie am Tisch gesessen, mit denen sie wahrscheinlich sonst kaum ein Wort gewechselt hätten. Als Jesus tot ist, sitzen sie herum und können nicht eine einzige Überweisung ausfüllen.
Eines Tages sehen sie, wie Jesus in den Himmel aufsteigt. Sie sehen ihm hinterher, hängen ihren Gedanken nach. Zwei Engel sprechen sie an:
»Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen – genauso wie ihr ihn habt in den Himmel gehen sehen.« (Act 1,11)
Und jetzt? Was sollen sie jetzt tun? Warten, bis Jesus wiederkommt. Ihnen wieder sagt, wo es lang geht. Ihnen wieder sagt, was zu tun ist. Da können sie lange warten. Die Jünger sehen sich ratlos an und schon haben sie die Blickrichtung geändert.
Und dann denken sie: Was Jesus konnte, das können wir auch. Kommt, wir ziehen los und feiern das Licht, das wir aus seiner Nähe kennen. Wir sammeln Menschen und erzählen von ihm, feiern Taufe und Abendmahl, suchen nach dem, was verbindet.
Die Jünger werden selbständig unterwegs sein, eigene Entscheidungen treffen. Klar, sie werden Fehler machen. Aber das ist nicht entscheidend. Das Leben geht weiter und das Evangelium zieht weite Kreise. Darauf kommt es an. Ohne es zu merken, machen die Jünger den Führerschein. Zu Pfingsten wird das gebührend gefeiert.
Geschenkte Kraft
Zugegeben, Gott hat ihnen dabei geholfen. Oder Jesus selbst. Das ist kaum voneinander zu unterscheiden. Das haben die Jünger später gemerkt. Worte sind ihnen in Erinnerung geblieben. Jesu Worte. Ihre Fragen und seine Antworten. Wann sich Gottes Reich durchsetzen wird? Jesus hat ihnen kein Datum genannt. Bis es soweit ist, bekommen sie alle Hände voll zu tun: „Aber wenn der Heilige Geist auf euch herabkommt, werdet ihr Kraft empfangen. Dann werdet ihr meine Zeugen sein – in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde.“ (Apg 1,8)
Gottes Geist, ihre Kraft. Kraft fürs Reden und für weite Wege. Fürs Begegnen, Lernen, Reisen. Ein Geschenk mit Ansage: „Johannes hat mit Wasser getauft. Aber ihr werdet in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden.“ (Apg 1,5)
Immer deutlicher tritt zu Tage, wie Jesus sie auf den Abschied vorbereitet hat. Was sie mit ihm erlebt haben, was er ihnen erklärt hat, was er angekündigt hat. Alles zielt darauf, dass sie selbständig unterwegs sind, in seinem Namen zwar, aber auf ihren eigenen Füßen. Mit ihrem Denken und Handeln. Gottes Reich, Sehnsucht und Motivation gleichermaßen. So anders und doch mittendrin. Was manche sehnsüchtig erwarten, hat schon längst angefangen. Jesus war davon durchdrungen, hat davon gesprochen, bis zuletzt (Apg 1,3).
Dann wird den Jüngern klar: Das war erst der Anfang. Jetzt sind sie gefragt. Sie schauen sich an und freuen sich auf das, was da noch kommt.
Musikalisches Intermezzo: Max Giesinger und Lotte, 2018
Es geht grad erst los, ich will so viel noch sehen
Will gegen die Wand fahren und wieder aufstehen
Will der größte Optimist sein, wenn's tagelang nur regnet
Will Stunden verschwenden und nicht so viel planen
Mich in Träumen verlieren und von vorne anfangen
Ich will nie mehr Pessimist sein, wenn wir uns mal begegnen
Wenn ich so an all das denk‘
Will ich, dass es jetzt beginnt
Auf das, was da noch kommt
Auf jedes Stolpern, jedes Scheitern
Es bringt uns alles ein Stück weiter zu uns
Auf das, was da noch kommt
Auf das, was da noch kommt
Auf Euphorie und alles Leichte
Hoff‘, das wird lange noch so bleiben für uns
Auf das, was da noch kommt
(nach 1:19 min. ausblenden)
Auf das, was da noch kommt
Was da noch kommt. Wenn man heute Jüngerinnen und Jünger fragt, wird von Problemen die Rede sein. Dort, wo sie in Presbyterien Verantwortung für die Kirche übernommen haben, steht eine lange Liste auf der Tagesordnung. Schutzkonzept, Arbeitssicherheit, KiTa. Besonders schwierig: Die Verbindung von Steinen und Menschen. Gemeinden werden heute kleiner. Anders als am Anfang, von dem die Apostelgeschichte noch berichten wird. Wie man kleiner wird? Dazu kein Hinweis in der Bibel. Ich habe nachgeschaut. Vom Größerwerden wird erzählt und von den Herausforderungen, die das mit sich bringt. Wir haben andere Baustellen.
Manche Gebäude werden heute oder spätestens übermorgen nicht mehr gebraucht oder müssen des Klimas wegen umgebaut werden. Wie geht man mit Immobilien um? In der Apostelgeschichten wird von Gemeinden erzählt, aber sie besitzen keine eigenen Häuser. Die Kirche hat am Anfang keine Kirchen. Und den Denkmalschutz gibt es auch noch nicht. Erstaunlich, worüber die Bibel alles schweigt.
Und doch liegt sie vor uns auf dem Altar. Wir blicken zurück in eine fremde Welt. Wir erinnern uns an Jesus und sind zugleich selbständig unterwegs. Jesus wird uns nicht sagen, was wir tun und lassen müssen. Aber Jesus vertraut darauf, dass wir gemeinsam zu Entscheidungen kommen. Wege finden, heute seine Zeuginnen und Zeugen zu sein. Durch das, was wir sagen, und das, was wir tun. Wir schauen auf die Bibel und blicken uns zugleich an.
Was da noch kommt. Gemeinschaft erleben, auf vielfältige Weise und mit Menschen, die verschieden sind. Wie vor sechs Wochen beim Osterfrühstück hier in der Friedenskirche. Mehrere Generationen zusammen am Tisch. Menschen kommen miteinander ins Gespräch, feiern das Fest das Lebens. Was da noch kommt? Ein Gottesdienst zum Stadtradeln auf dem Marktplatz. Ein zweites Tauffest, hoffentlich in diesem Jahr unter freiem Himmel am Auesee. Eine Reise nach Rom. Kirche Kunterbunt, Orgeldinner, Kinderkirche. Was da noch kommt. Die Liste ist lang. Ich freue mich darauf.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Kirche im Krisenmodus. Bewährte Strukturen (im Rheinland vorzugsweise: presbyterial-synodal) scheinen nicht mehr zu passen. Wahlen zum Presbyterium fallen mangels Kandidat:innen aus. Den Verantwortlichen vor Ort wird immer mehr abverlangt: Schutzkonzept, Arbeitssicherheit, Gebäudeanalyse, energetische Sanierung … Die Verantwortung wächst, während die Gemeinden kleiner werden. Jesus („Ich bin dann mal weg“) mutet seinen Leuten eine Menge zu.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Himmelfahrt und Führerschein: Eine tolle Skizze von Thomas Hirsch-Hüffel hat mich sofort angesprochen. Ich habe seinen Text als Anfang für eine Predigt zu Himmelfahrt verwahrt und war darauf neugierig, was aus der Geschichte von der Witwe, die den Führerschein macht, werden wird.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die beiden Engel stellen den Jüngern eine Frage: „Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel?“ Die Blickrichtung beschäftigt mich. Wohin schauen? Was tun? Das korrespondiert miteinander: Nach oben schauen und auf Jesu Rückkehr warten oder einander anschauen und die Zeit nutzen, die bis dahin bleibt. Ich verstehe die Frage als Aufforderung an die Jünger:innen, die Blickrichtung zu wechseln und selbständig unterwegs sein, in Jesu Namen zwar, aber auf eigenen Füßen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich mich zuerst mit dem letzten Vers des Predigttextes beschäftigt habe. Wie wäre es, von V 11 an ‚rückwärts‘ zu predigen und den Bogen zu Jesu Reden über Gottes in V. 3 zu schlagen? Ich habe es ausprobiert, zumal der Text als ganzer in der Lesung seinen Raum hat.
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07.07.2024 - 6. Sonntag nach Trinitatis
09.05.2024 - Christi Himmelfahrt
Ein Traum von Kirche: Gutes Leben für alle - Predigt zu Apostelgeschichte 2,41-47 von Olaf Waßmuth
Liebe Gemeinde,
der Urlaub regt die Phantasie an.* Meine jedenfalls. Da lässt man ein wenig die Gedanken baumeln: Wie könnte das Leben aussehen, wenn ich nicht mehr ständig zur Arbeit müsste? Wenn ich 24 Stunden zur freien Verfügung hätte, jeden Tag? Wenn ich täglich diesen wunderbaren Blick auf den See (/das Meer) oder auf die Berge hätte? Wenn – statt gelegentlich mal – meistens oder immer die Sonne schiene? Wäre das nicht herrlich?
Vielleicht gehören Sie auch zu denen, die im Urlaub spinnige Ideen bekommen übers Auswandern oder wenigstens darüber, einen Camper oder eine Ferienwohnung zu kaufen. (Vielleicht gehören Sie sogar zu denen, die genau das längst getan haben und heute deshalb hier sind...)
Die Urlaub regt zur Phantasie an – über das gute Leben. Zum Träumen von einer Welt, in der es anders zugeht als in der, die wir täglich erleben. Von der Zeitung und Tagesschau berichten.
Der Traum vom guten Leben, von einer anderen Welt – er begegnet uns an diesem sommerlichen Sonntag im Predigttext.
Die Zeilen, die ich Ihnen gleich vorlese, stammen aus der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Sie erzählen von den Anfängen der Kirche, von dem, was nach Pfingsten geschah, damals in Jerusalem, als Gottes Geist über die Jünger Jesu kam. Der Jünger Petrus spricht vom Geist erfüllt zu der Menge – und daraus entsteht eine unglaubliche Bewegung. (Apostelgeschichte 2,41-47:)
41Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.
42Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. 43Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. 44Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.
45Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. 46Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen 47und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr fügte aber täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.
Liebe Gemeinde,
über diesen Abschnitt aus der Apostelgeschichte kann man staunen: Wie wunderbar ist das! Massenweise treten Menschen in die Kirche ein ( – nicht aus…). Weil die Botschaft überzeugt. Aber auch – und vielleicht besonders –, weil das Miteinander überzeugt: Weil in der ersten Gemeinde keiner am Rand steht. Weil dort keiner zu wenig hat. Alles wird geteilt, die Gottes-Weisheit, Freude und Leid und sogar der materielle Besitz. Eine Gemeinschaft, die zusammenhält und zugleich nach außen wirkt. Kirche als Alternativmodell, als Stück heile Welt.
Über diesen biblischen Abschnitt kann man aber auch die Stirn runzeln. Sollte das wirklich so gewesen sein? Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Und kennt man nicht die diversen Experimente in der Weltgeschichte, in denen ein solches Zusammenleben grausam misslungen ist? Man denke nur an liberté, fraternité und égalité in der Französischen Revolution, die in die Brutalität umkippte. Oder an den real existierenden Sozialismus, der in repressiven Diktaturen endete.
Kann denn Kirche perfekter sein als die Welt? Hier ließen sich, Gott sei es geklagt, auch ganz schnell Gegenbeispiele finden.
Und trotzdem ist das ein richtungsweisender Text.
Für mich hat er den Charakter einer Vision. So ähnlich wie die Wunder Jesu in den Evangelien beschreibt er eine neue Wirklichkeit, die sich nicht machen lässt, sondern Gegenstand der Hoffnung ist. Das Reich Gottes ist nahe gekommen, sagt Jesus, und wirkt Zeichen dafür, was das bedeutet: Krankheit, Ausgrenzung und Tod enden.
Das Reich Gottes ist nahe gekommen – diese Botschaft wird von den Jüngerinnen und Jüngern nach Ostern weitergetragen. Und dabei verwirklichen sie zeichenhaft, was damit gemeint ist: ein Miteinander, bei dem keiner zu kurz kommt; Gerechtigkeit und Respekt für alle. Das Zusammenleben der ersten Gemeinde ist ein Wunder.
Immer wieder hat es in der Kirchengeschichte Phasen gegeben, in denen Menschen von diesem Anfang auf die ein oder andere Weise inspiriert wurden, es einfach zu probieren: anders zu leben als die anderen. Anders mit Besitz umzugehen; Gemeinschaft intensiver und verbindlicher zu verwirklichen. In Klöstern. Oder auch in Familienkommunitäten. Für ein ganzes Leben. Und manchmal nur auf Zeit. Solche Gemeinschaften sind für mich Leuchttürme, die die Kirche braucht. Es sind Zeichen und Wunder, die Gottes Geist wirkt.
Wir alle, die meisten von uns zumindest, sind Teil einer zutiefst verbürgerlichten Kirche. Wir leben eigene, private Leben. Und wir können und wollen daran wahrscheinlich auch so schnell nichts ändern. Dafür gibt es tausend praktische Gründe.
Und doch stellt diese Geschichte vom Anfang der Kirche immer wieder unsere Phantasien von einem guten Leben in Frage.
Wenn ich vom guten Leben träume, dann denke ich meistens an mich selbst. Und nur an mich selbst. Ich denke darüber nach, wie ICH es noch ein Stück bequemer, entspannter, wärmer und sonniger haben könnte. Ich denke nach über weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Freiheit und Ruhe. Es sind Träume vom Typ „Schlaraffenland“.
Damit bin ich nicht allein. Wenn unsere Gesellschaft sich in die Zukunft träumt, dann geht es fast immer um neue Techniken – für unsere Energiesicherheit, für Mobilität, für Wohlstand und Wachstum, weniger Krankheit, ein höheres Alter. Es werden gigantische Summen investiert, um Innovationen zu entwickeln, die für die Einzelnen ein längeres und bequemeres Leben ermöglichen. Und das ist ja auch richtig so.
Aber ist das schon „das gute Leben“?
Aus biblischer Sicht hat das gute Leben etwas mit dem gelungenen Miteinander von Menschen zu tun. Damit, wie sie kommunizieren. Wie sie sich respektieren und achten. Wie sie aufeinander hören. Wie sie teilen, was jeder braucht. Gutes Leben heißt immer auch Gerechtigkeit und Fairness. Das Reich Gottes ist kein Schlaraffenland.
Warum kommt das in meinen Phantasien vom guten Leben so wenig vor? Warum wird für diese Dimension von Zukunft eigentlich so wenig Geld ausgegeben, so wenig geforscht? Warum träumen so viele Menschen von selbstfahrenden Autos, von smarten Häusern und künstlicher Intelligenz? Warum träumen sie so selten von flachen Hierarchien, geringen Einkommensunterschieden, funktionierenden Netzwerken, vom Ende der Armut und der Ausgrenzung von Menschen?
Aus biblischer Sicht ist das das Zeichen einer fundamentalen Geistlosigkeit. Denn seit Pfingsten stiftet der Geist Gottes Menschen dazu an, ihr Miteinander zu erneuern. Dort erfinderisch und innovativ zu sein. Wo Gottes Geist wirkt, gibt es gutes Leben nur als gutes Leben für alle.
Zur Erinnerung daran brauche ich die Gemeinschaft der Kirche.
Nicht die Kirche als perfekte Gesellschaft. Die gibt es, wie man nüchtern zugeben muss, ebenso wenig wie die anderen perfekten Gesellschaften, die Menschen zu errichten versucht haben.
Nein, ich brauche die Kirche als Ort für ein exemplarisches, zeichenhaftes Miteinander. Als Raum, in dem man anders miteinander umgeht als sonst. Wo man andere aushält, die anders sind als man selbst. Wo man immer wieder teilt, was man hat, an Besitz und an Gaben. Wo man hört auf die alten Geschichten und Träume, auf die Worte der Apostel und Propheten. Wo man miteinander feiert und im Namen Jesu das Brot teilt. Wo die Beziehung zu Gott Gestalt gewinnt im Gebet.
Es sind diese elementaren Dinge, die die Kirche zur Kirche machen. Ohne die christlicher Glaube gar nicht vorstellbar ist.
Für Kritik an der real existierenden Kirche gibt es viele Gründe. Wer wüsste das besser als jemand, der schon ziemlich lange dort arbeitet. Diese Kirche hat Strukturen und Institutionen ausgebildet, auf die man verzichten kann und irgendwann vermutlich verzichten muss. Aber auf die Kirche als Gemeinschaft, in der das gute Leben gemeinsam erprobt wird, können wir nicht verzichten.
Die vielen klugen und freundlichen Menschen, die mir als Pfarrer erklären, dass sie für ihr Christsein die Kirche nicht brauchen, frage ich darum oft, wie sie damit umgehen, dass christlicher Glaube keine individuelle Weltanschauung ist. Sondern eine Vision von einem guten Leben für alle, von einem veränderten Miteinander. Wo kommt das in Deinem Glauben vor? (Und wenn Du Glaube als eine Art persönliche Lebenseinstellung definierst – wo kommt es vor, dass unsere Haltungen und Werte sich vor allem im Gegenüber zu anderen Menschen bilden – und nicht im stillen Kämmerlein?).
In einem Gottesdienst wie diesem wird das, was christliche Gemeinschaft ausmacht, zeichenhaft verwirklicht: das Miteinander von Menschen verschiedener Herkunft, das Hören auf die Botschaft der Bibel, das Brotbrechen und Feiern im Abendmahl, das Gebet in ganz verschiedenen Tonlagen und – wenigstens ansatzweise, in der Kollekte – auch das Teilen von Besitz.
Darum ist jeder Gottesdienst ein kleiner Anfang, ein Echo von diesem großen Anfang zu Pfingsten in Jerusalem, und vielleicht auch: ein kleines Wunder, das an dem großen Wunder der Kirche Anteil hat.
Mit diesem Gottesdienst wird der Traum von einem guten Leben für alle ein Teil Ihres Urlaubs – oder, falls Sie nicht im Urlaub sind, einfach ein Teil dieser neuen Woche. Nehmen Sie diesen Traum mit. Lassen Sie sich davon inspirieren, weiter zu denken: Was heißt gutes Leben für Sie? Und wo kommen die anderen Menschen vor, mit denen Sie Ihr Leben, Ihr Gemeinwesen und am Ende diesen Planeten teilen? Wie wird Ihr Traum vom guten Leben ein Traum vom guten Leben für alle?
Ich wünsche Ihnen einen traumhaften Urlaub/eine traumhafte Woche – und dass Sie das beständige Flüstern des Heiligen Geistes darin hören können!
Amen.
* Die vorliegende Predigt wird im Rahmen der deutschsprachigen Urlaubsseelsorge in einem Ferienort am Gardasee gehalten.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die vorliegende Predigt halte ich nicht „zu Hause“, sondern im Rahmen der deutschsprachigen Urlaubsseelsorge in einem Ferienort am Gardasee. Ich kenne die Gemeinde noch nicht (zumal sie ständig wechselt!), weiß aber, dass es dort Kurzzeit-Urlauber:innen und Teilresidente gibt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
„Gutes Leben“ ist für mich das Stichwort, das die Urlaubssituation und das Anliegen des christlichen Glaubens verbindet. Das Leitwort sprang mir aus dem Predigttext durchaus entgegen – ich habe ihn darum nicht auf das Thema Abendmahl zugespitzt, das im Zentrum des Propriums steht. (Leider ist aus technischen Gründen an diesem Sonntag auch kein Abendmahl möglich).
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Frage, ob es so gewesen ist – ob der urchristliche Liebeskommunismus also historisch war – ist mir unwichtiger geworden. Im Text ist von den vielen Zeichen und Wundern der Apostel die Rede. Ich verstehe die radikale Gemeinschaft der ersten Christ:innen als ein (zeitlich beschränktes) Wunder, das wie die Wunder Jesu zeichenhaft auf Gottes Reich hinweist.
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23.07.23 - 7. So. n. Trinitatis
Zu-mutung hat was mit Mut zu tun - Predigt zu Apg 9,1-20 von Barbara Bockentin
(Der Predigttext wird vorher als Epistel gelesen.)
Da machte sich einer auf den Weg.
Zielsicher.
Selbstsicher.
Mit innerer Landkarte sozusagen.
Unterwegs anhalten und nachfragen, wie es denn weitergeht – nicht nötig. Ihn trieb sein Feuereifer an.
Den Segen der Oberen hatte er.
Er war nicht allein. Rechnete er doch mit reichlicher menschlicher Beute. So viele würde er aufstöbern können. Allein würde er es keinesfalls schaffen, sie mit sich zu nehmen.
Endlich – das Ziel vor seinen Augen.
Eine große Stadt.
Voller Leben.
Mit Schwierigkeiten rechnete er nicht. Im Gegenteil: seine Zuversicht wuchs.
Was sollte ihn noch hindern? Sein Plan würde aufgehen. Sorgen waren unangebracht.
Plötzlich von einem Moment zum anderen war alles anders. Es traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das hatte er sich nicht einmal im Traum vorstellen können.
Erst dachte er, dass da bloß eine Stimme wäre. Sie hörte er ganz deutlich.
Doch da war mehr: Unvorstellbar. Ungeheuerlich.
Er sah eine Gestalt. Er sah den, der tot war. Nicht erst seit gestern. Tot. Ein Irrtum war ausgeschlossen.
Schweiß brach aus allen seinen Poren aus. Was war das? Keine Halluzination. Dazu war er zu deutlich erkennbar. Wenn er die Hand ausstrecken würde, könnte er ihn berühren.
Die Worte, beinahe liebevoll. Ohne Drohung. Eher werbend. Er ließ ihn seinen Weg fortsetzen. Hieß ihn warten. Auf was? Das erfuhr er nicht.
Dann war es vorbei.
Er schwankte.
Rappelte sich mühsam auf.
Fühlte sich hilflos.
Alles verschwamm ihm vor Augen.
Mehr noch. Er konnte wirklich nichts mehr sehen.
Eben noch zielsicher.
Selbstbewusst.
Mit dem Gefühl, alles im Griff zu haben.
Nun auf Hilfe angewiesen.
Im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln tappend.
Die Orientierung verloren.
Welch eine Zumutung!
Drei Tage lang dauerte dieser Zustand.
Drei Tage im Dunkel gelassen. Nicht zu wissen, was kommen würde. Wie es weitergehen könnte.
Hoffnungslos – so fühlte er sich. Alles vorherige war ihm aus den Händen geglitten.
Kaum auszuhalten!
Doch er tat, was ihm gesagt worden war.
In derselben Stadt an anderer Stelle erneut diese Stimme. Sie sprach zu einem anderen.
Einem Ängstlichen.
Zu Recht! Der gehört hatte, dass sein Leben und das der anderen bedroht war.
Er wehrte sich. Wollte nicht.
Welch eine Zumutung!
Doch er ließ sich schicken.
Zu dem, den er nicht kannte. Nur vom Hörensagen.
Nichts Gutes. nur Böses.
Nannte man das Gehorsam? Oder Leichtsinn!
Er wusste nicht, was auf ihn zukam.
Wie der andere reagieren würde.
Er verstand es nicht.
Die Absicht dessen, zu dem er geschickt wurde, zählte nicht. So, als ob es sie nie gegeben hätte.
Wie konnte das angehen?
Er sollte helfen. Heilen.
Er ging einfach.
Ohne Plan.
Gehorchte.
Vertraute.
Tat, wozu er geschickt wurde.
So trafen die beiden Männer zusammen.
Zufällig?
Auserwählt.
Unterschiedliche Erfahrungen. Erwartungen. Einstellungen. Lebenspläne.
Für beide tat sich der Himmel auf.
Das Dunkel verschwand.
Diese Begegnung machte sie zu Geschwistern.
Zusammengebracht von dem, der zu den Toten gegangen war. Von dem, der nach drei Tagen auferstanden war. Der zu ihnen beiden gesprochen hatte.
Sie erkannten einander.
Vom Geist beseelt.
Von Christus berührt.
Die Taufe, der Wunsch dazu zu gehören – logisch. Konsequent.
Keine Fragen mehr. Kein Warten. Keine Zweifel.
Jetzt hatte der eine ganz andere Pläne.
Ein neues Ziel.
Selbstsicher.
Mit Feuereifer würde er es verfolgen. Als einer von denen, die er verfolgen wollte.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Sonntagvormittag: etwa 30 Gottesdienstbesucher:innen, die meisten werden diese Geschichte kennen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat bei der Vorbereitung weniger die Bekehrung des Saulus interessiert. Spannender fand ich das Aufeinandertreffen von Paulus und Jesus, Jesus und Hannanias und von Hannanias und Paulus. Dabei stellte sich die Zumutung, die in diesen Begegnungen steckt, als das heraus, was mich angetriggert hat.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich beschäftigt, welchen Mut sowohl Paulus als auch Hannanias brauchten, um sich auf die ungewollte neue Situation einzulassen. Aber auch, dass die Begegnung mit Jesus für beide den entscheidenden Impuls brachte.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mich hat bei der Schlussredaktion die Frage, die mich schon die ganze Zeit umgetrieben hat, beschäftigt, wieviel Erklärung dieser Text braucht. Ob die Predigt so verständlich ist. Die Entscheidung zu dieser kurzen Predigt bleibt bestehen.
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04.09.2022 - 12. Sonntag nach Trinitatis
Glaube vor dem Tribunal der Philosophen - Predigt zu Apostelgeschichte 17, 22-34 von Rudolf Rengstorf
Liebe Leserin, lieber Leser!
Eine weite Reise wird uns heute zugemutet - eine Reise in das alte römische Weltreich, in dem der Apostel Paulus unermüdlich unterwegs war, um das Evangelium unter die Leute zu bringen. Drei Städte hatten auf seinen Missionsreisen eine ganz besondere Bedeutung. Einmal natürlich Jerusalem - der Mittelpunkt des Volkes Israel, Ort des Leidens und Sterbens wie der Auferstehung Jesu und der Ausgangspunkt der christlichen Kirche. Deshalb kommt Paulus immer wieder nach Jerusalem zurück, um die Verbindung zu Israel und zur Mutterkirche nicht abreißen zu lassen. Und als Ziel seiner Reisen hatte Paulus natürlich Rom im Auge - die Hauptstadt der damaligen Welt. Dort im Zentrum der Macht wollte er dafür einstehen, dass Jesus Christus zum Weltgericht kommen und er allein über das Wohl und Wehe der Menschheit entscheiden wird. Und ziemlich auf der Mitte zwischenm dem Anfang und dem Ziel seiner Reisen liegt die dritte wichtige Stadt - nämlich Athen.
Athen war so etwas wie der geistige Mittelpunkt des römischen Weltreiches. Die Stadt der großen Philosophen Sokrates und Plato und Aristoteles. Das waren damals schon große Denker der Vergangenheit, aber noch ganz lebendig in den philosophischen Schulen, die Studenten aus aller Welt anzogen. Gleichzeitig war Athen auch so etwas wie eine Hochburg der Religionen. Nicht nur der griechischen Religion, die selber ja schon eine Fülle von Göttern hatte, Neben ihnen gab es damals eine Menge von religiösen Kulten, die sich mit Sicherheit auch im Stadtbild bemerkbar machten. Und so war die Stadt voll von Tempeln, , Götterbildern und Altären.Ja, man scheint es geradezu darauf angelegt zu haben, möglichst alle bekannten Gottheiten der damaligen Welt in der Stadt darzustellen. Um sicher zu sein, dass dabei kein Gott übersehen war, hatte man auch einen Altar mit der Aufschrift „Dem unbekannten Gott“ errichtet. Und merkwürdigerweise vertrug sich in dieser durchaus überschaubaren Stadt: das aufgeklärte Geistesleben mit Akademien, Professoren und Studenten mit dem religiösen Betrieb von Prozessionen, Beschwörungen, Orakelsprüchen, Tieropfern. In dieser Hinsicht war Athen gar nicht so furchtbar weit weg von uns. Denn das kennen wir ja auch: das schiedlich-friedliche Nebeneinander von wissenschaftlicher Rationalität auf der einen Seite und der Anziehungskraft von Esoterik, Okkultismus und Verschwörungstheorien auf der anderen: der Hang nach dem Verborgenen, Geheimnisvollen, Dunklen, nach all dem, was sich klarer geistiger Durchdringung und wissenschaftlicher Analyse entzieht.
Auf diese Atmosphäre traf Paulus in Athen. Als er beim Streifzug durch die Stadt sah, was da alles verehrt und angebetet wurde, ergrimmte er. Nichts hielt ihn im geheimnisvollen Dunkel der Tempel und Kapellen. Ihn zog es samstags in die Synagoge und am Alltag auf den Marktplatz, wo er das Evangelium von Jesus Christus verkündigte. Natürlich hörten ihn auch Anhänger der verschiedenen philosophischen Schulrichtungen, Die einen taten ihn ab als Schwätzer, andere meinten, der Mann käme mit etwas Neuem. Und da – wie Lukas erzählt – alle Athener bekannt waren für ihre Neugier, nahmen sie ihn mit auf den Areopag, das politische Zentrum der Stadt. „Sei so gut“, sagten sie zu ihm, „und erzähl uns, was du an Neuem in die Stadt bringst.“ Und so kam Paulus zu der Ehre im erlauchten Kreis der Philosophen die folgende Rede halten zu können:
Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch,was ihr unwissend verehrt.
Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind. Auch lässt er sich nicht von Menschenhänden dienen wie einer, der etwas nötig hätte, da er doch selber jedermann Leben und Odem und alles gibt. Und er hat aus einem Menschen das ganze Menschengeschlecht gemacht, damit sie auf dem ganzen Erdboden wohnen, und er hat festgesetzt, wie lange sie bestehen und in welchen Grenzen sie wohnen sollen, damit sie Gott suchen sollen, ob sie ihn wohl fühlen und finden könnten; und fürwahr, er ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts. Da wir nun göttlichen Geschlechtes sind, sollen wir nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.
Na, das muss die Philosophen überrascht haben, die Paulus eben noch für einen Schwätzer gehalten hatten. Diese Predigt vertrug sich gut mit dem, was die Philosophen über die Religion dachten. Dass es unsinnig ist, sich ein Bild von Gott machen und ihn darstellen zu wollen. Denn Gott transzendiert. überschreitet alles Denken und Begreifen. Mit dem ganzen religiösen Betrieb der Stadt konnten die Philosophen genauso wenig anfangen wie Paulus. Aber der eine Altar mit der Aufschrift: Dem unbekannten Gott, der Altar, mit dem die Religiösen sich dagegen absichern wollten, möglicherweise einen Gott nicht berücksichtigt
zu haben, mit diesem einen Altar hatten sie unbeabsichtigt dem Gott der religionskritischen Philosophen einen Platz eingeräumt. Und das hatte ausgerechnet dieser fremde Prediger entdeckt! Den Blick dafür hatte Paulus aus dem Judentum, in dem er aufgewchsen war, mitgebracht. Der Gott Israels hatte sich stets jedem menschlichen Zugriff entzogen. Einen Tempel hatte er nur bauen lassen, damit die Juden einen Platz hatten, an dem sie Gott in großer Gemeinschaft anrufen konnten. Der Raum, der sonst im Tempel als das Allerheiligste galt und in dem das Bild des Gottes, der dort verehrt wurde, stand, im Tempel des Gottes Israels war dieser Raum leer, Die Kritik der Religion, die von den Philosophen betrieben wird, haben die Juden sozusagen im Blut. Und das ist ein Erbe, das wir Christen im Umgang mit Religion sorgsam bewahren wollten. Bei aller gebotenen Toleranz gegenüber anderen Religionen und religiösen Praktiken in unseren Kirchen darf es keinen Zweifel daran geben, dass es dem Menschen nicht gegeben ist, Gott aus dessen Hand wir kommen, in unsere Hand zu nehmen und dingfest zu machen. Und wir haben keinen Grund, religionskritischen Philosophen aus dem Wege zu gehen. Mit Juden und Muslimen haben wir vieles gemeinsam mit ihnen.
Freilich ist das nicht alles, was Paulus zu sagen hatte. Was ihn auf seine Weltreisen triib, ist, dass er sich gesandt weiß von dem, an dem das Wohl und Wehe der Menschheit hängt. Und davon redete er jetzt:
Zwar hat Gott über die Zeit der Unwissenheit hinweggesehen; nun aber gebietet er den Menschen, dass alle an allen Enden Buße tun. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten will mit Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, und hat jedermann den Glauben angeboten, indem er ihn von den Toten auferweckt hat.
Also: Dass wir über Gott letztlich nichts sagen können, unser Leben lang in Skepsis oder auf der Suche nach ihm bleiben müssen, dabei hat Gott es nicht bewenden lassen. Er hat einen Menschen dazu bestimmt, uns Gott so nahezubringen, dass wir unser Leben in Verantwortung vor ihm führen können. Das gilt nicht nur für die Lebenszeit dieses Menschen, sondern für alle Zeit, weil Gott ihn von den Toten hat auferstehen lassen und alle von seinem Leben mitbekommen. Den Namen Jesu Christi lässt Paulus hier unerwähnt. Offenbar hat er auf die Neugier seiner Höhrer setzt und damit gerechnet, dass sie nachfragen würden und er ausführlich von Jesus erzählen könnte. Doch weit gefehlt:
Als sie von der Auferstehung der Toten hörten, so b erichtet Lukas weiter, begannen die einen zu spotten, die andern aber sagten: Wir wollen dich darüber ein andermal hören.
Kommt uns das nicht bekannt vor? So allgemein lässt sich ganz gut über Religion reden. Und zumindest unter klugen Leuten macht man sich damit nicht lächerlich. Doch wenns darum geht, dass wir unseren Glauben an diesem einen Menschen festmachen und wir in ihm auch heute den Platzhalter Gottes sehen, dann setzen wir uns leicht der Lächerlichkeit aus, zumindest stellt sich Distanz ein. Ich jedenfalls kenne das nur zu gut: Da öffne ich mein Herz, versuche, deutlich zu machen, worum es mir im Innersten geht: um diesen Menschen Jesus, der mir in seinem einprägsamen Reden und beispielhaften Tun Gott so nahe bring t, dass sich dabei eigentlich alle Fragen von selbst erledigen. Und dann merke ich, wie Gesprächspartner oder auch Predigthörerinnen und –hörer auf Distanz gehen. Das ist zutiefst enttäuschend. Doch dann tröstet es mich, dass es Jesus und seinen Aposteln nicht anders gegangen ist. Und dennoch haben Menschen sich ja auf den Glauben eingelassen. Denn, das war bei mir ja nicht anders, das Herz braucht seine Zeit, braucht Abstand Einsicht, bevor es sich festzumachen vermag.
Davon ist am Ende etwas zu spüren.
Er ging von ihnen fort. Einige Männer schlossen sich ihm an und wurden gläubig. Unter ihnen war auch Dionysius, einer aus dem Rat, und eine Frau mit Namen Damaris und andere mit ihnen.
„Er ging von Ihnen fort“. In diesen Worten steckt: „aufrecht, erhobenen Hauptes“. Weil er ihn, den er gerade verkündigt hatte, an seiner Seite wusste. Er ist die Kraft, die Paulus hielt. Das müssen die paar Männer, unter ihnen Dionysios, der spätere Bischof der Gemeinde, und eine Frau namens Damaris, gespürt haben. Sie schlossen sich ihm an, bekamen etwas mit nicht nur von seiner Lehre, sondern auch von seinem Leben und kamen zum Glauben. Und dass dieser Text für den Sonntag Jubilate ausgesucht wurde, hat wohl seinen Grund zum einen darin, dass christlicher Glaube den Dialog mit den Klugen dieser Welt nicht zu scheuen braucht. Zum andern aber auch und wohl vor allem darin, dass der Glaube an Jesus Christuser auch unter Spott und Skepsis Früchte trägt. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir steht vor Aaugen, dass meine Predigt von Menschen gelesen wird, die ich nicht ken-ne, die offenbar Interesse an einer Predigt für diesen Sonntag haben.. Einige von ihnen sind möglicherweise KollegInnen, dioe Anregungen für ihre Predigt am Sonntag suchen. Ich hoffe, dass ich ihnen mit dieser Predigt dienen kann, weise allerdings daraufhin, dass Veränderungen fürs Hören vorgenommen werden müssen, vor allem durch Kürzen der der längeren Sätze.0
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Nähe des Gottes Iaraels, von dem kein Bild zu machen ist, und philosophischer Religionskritik.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das religiöse Diskurse wie auch PredigtenEleicht auf Distanz stoßen, gerade wenns um den Kern des christlichen Glaubens geht.Mich darauf einzustellen, dass Glaube Ab-stand, einsicht, Zeit braucht, um sich in den Herzen zu verankern.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Coaching hat mir geholfen, gerad diesen Punk t am Ende deutlich herauszuarbeiten.