Wurzel des Glaubens - Predigt zu Apg 16,9-15 von Bert Hitzegrad
Liebe Gemeinde!
Jan liebt es in dem Familienalbum mit den vielen Fotos zu blättern. Letztes Jahr zur Einschulung hat ihm seine Großmutter das Album zusammengestellt, „damit Du weißt, wer zu Deiner Familie gehört und woher sie kommt. ...Großvater lächelte: „Damit Du weißt, von wem Deine blonden Haare sind.“ Die hatte nämlich auch schon der Ur-Urgroßvater von Jan, also der Großvater von Jans Vater. Sein Name war Hermann und er ist noch vor dem letzten Jahrhundert geboren. Sein Bild findet Jan besonders spannend. Es zeigt Hermann als kleinen Jungen – ungefähr so alt wie Jan. Er trägt einen Anzug so wie ihn die Soldaten tragen, die zur See fahren. Zu diesem Matrosenanzug gehört eine weiße Hose und ein blaues Jackett, dazu eine Mütze wie ein Kapitän. Und schließlich hält Hermann ein kleines Spielzeugschiff in der Hand. Jan wundert sich immer wieder: „So geht doch heute kein Kind mehr zur Schule.“ Großvater erklärt, dass das damals so Mode war – „So wie Du heute Dein Spider-Man T-Shirt trägst.“ „Nee, Opa! Am liebsten trage ich das mit dem Einhorn! Ist denn früher alles anders gewesen?“
„Nicht alles, aber vieles. Schau hier, da siehst Du ein Bild von einem Bauernhof. Das ist der von meinem Großvater, dem Sohn von Großvater Hermann, Hans-Hermann. Dieser Hans-Hermann war verheiratet mit Tante Antchen. Das Leben damals auf dem Hof war nicht einfach, alles musste per Hand gemacht werden, einen Trecker gab es noch nicht, aber sie hatten zwei Pferde. Aber sie waren glücklich. Und: Sie hatten einen starken Glauben.“ „Du meinst, Opa, sie vertrauten, dass Gott bei ihnen ist?“ „Ja, so habe ich es bei ihnen gelernt.
Wenn wir als Kinder bei Opa Hans-Hermann und Oma Antchen zu Besuch waren, dann haben wir immer vor dem Einschlafen gebetet: „Ich bin klein …,“„Kenne ich, kenne ich!“ ruft Jan dazwischen. „Das beten Papa und ich auch jeden Abend!“ „So?“ entgegnet jetzt Opa. „Das hat er dann wohl von mir bzw. Opa Hans-Hermann, denn beim Beten mit ihm wurde mir immer ganz warm ums Herz!“ „Aber jetzt schau mal hier, Opa: Ein Bild aus der Kirche. Ihr sagt immer, die Puppe, die Mama und Papa da halten, das bin ich!?
Aber ich kann mich an nichts erinnern! Wie gut, dass es wenigstens ein Foto gibt!“ „Und es gibt ganz viele aus Deiner Familie, Jan, die dabei waren und gehört haben, dass Gott zu Dir sagt: 'Jan, ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen, Du gehörst zu mir!'“ „Ist das wahr, Opa?“ „Was? Dass Deine ganze Familie mit dabei war und sich mitgefreut hat? „Nein! Dass Gott das zu mir gesagt hat?“„Ja, das ist wahr, so wahr wie die Tatsache, dass Du dieselben blonden Haare hast wie dein Ur-Urgroßvater Hermann, der einen Matrosenanzug trug.“
Blättern im Fotoalbum der Familie. Geschichten hören aus vergangenen Zeiten. Menschen begegnen, die meinen Lebensweg beeinflusst haben. Jan liebt es, davon zu hören. Im heutigen Predigttext begegnen wir der Geschichte des christlichen Glaubens in Europa. Leider gibt es davon keine Fotos, die wir in ein Album kleben könnten, weder Schwarz-weiß noch Farbe. Und doch malt uns der Predigttext bunte Bilder von den Anfängen.
Wir gehen zurück und blättern im Album der Erinnerungen. Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in der Apostelgeschichte im 16. Kapitel:
9 Und Paulus sah eine Erscheinung bei Nacht: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! 10 Als er aber die Erscheinung gesehen hatte, da suchten wir sogleich nach Mazedonien zu reisen, gewiss, dass uns Gott dahin berufen hatte, ihnen das Evangelium zu predigen.
11 Da fuhren wir von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake, am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von da nach Philippi, das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedonien, eine römische Kolonie. Wir blieben aber einige Tage in dieser Stadt. 13 Am Sabbattag gingen wir hinaus vor die Stadt an den Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte, und wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die dort zusammenkamen. 14 Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; der tat der Herr das Herz auf, sodass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet wurde. 15 Als sie aber mit ihrem Hause getauft war, bat sie uns und sprach: Wenn ihr anerkennt, dass ich an den Herrn glaube, so kommt in mein Haus und bleibt da. Und sie nötigte uns.
Gott segne dieses sein Wort an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden.
Der christliche Glaube kommt nach Europa! Die Anfänge der christlichen Kirchen auf diesem Kontinent liegen in Griechenland, dort, wo ohnehin unsere kulturelle Wiege steht. Der Schreiber der Apostelgeschichte schlägt die ersten Seiten im Familienalbum auf. Das erste Bild: Eine Hafenstadt am Mittelmeer in der heutigen Türkei. Das blaue Meer, bunte Fischerboote, Netze, die mit der Hand an Bord gezogen werden. Man hat fast das Gefühl, es riecht nach Meer – nach Salz, nach Fisch. Die Sonne scheint kräftig dort, wo viele heute Urlaub machen. Doch Paulus ist nicht zum Ausruhen am Meer …Mit den warmen Winden erreicht ihn der Ruf aus Griechenland: „Komm herüber und hilf uns!“ Ein Traum, die Stimme Gottes, sein innerer Antrieb als „Missionar der Heiden“ den neuen Glauben zu verbreiten? Paulus brannte seit seiner Bekehrung vom Saulus zum Paulus für diesen Glauben. Er hatte die große Freiheit in seinem Leben erfahren, die Jesus Christus durch seinen Weg ans Kreuz schenkte. Er spürt aber auch immer wieder den Segen Gottes, der ihn einhüllte wie in einen Mantel, wenn er Schutz und Hilfe brauchte. Die Botschaft sollte nicht im Geheimen bleiben.
„Gehet hin in alle Welt!“ mit diesem Auftrag hatte der Auferstandene seine Jünger zurückgelassen. Paulus macht damit Ernst.
Ein weiteres Bild – wie aus dem Bilderbuch: der Wind füllt die Segel, das Fährschiff gleitet sanft dahin, Paulus und sein Gefährte Silas betrachten den Horizont. Wie wird die neue Welt sie empfangen? Neapolis, die heutige Hafen- und Handelsstadt Kavala in Griechenland ist ihr Ziel. Es ist nur eine kleine Seereise durch das ägäische Meer. Nachts wird auf einer Insel pausiert, weil es in der Dunkelheit zu gefährlich ist.
Für viele ist diese Route zu einem Weg der Hoffnung geworden und endet doch tragisch. Geflüchtet aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien vertrauen sie sich Schlepperbanden an und ihren völlig überladenen Booten. Die Route der Hoffnung wird zur Endstation. Und wer die „Festung Europa“ erreicht, ist noch längst nicht in Sicherheit. Das christliche Europa scheint immer wieder zu vergessen, dass der christliche Glaube Menschen zusammenführt und nicht trennt, dass die Gottesliebe ohne die Nächstenliebe kalt und fade ist.
In den letzten Wochen sind viele Menschen auf die Straße gegangen, um ein Zeichen zu setzen gegen Fremdenhass und die Verweigerung, Geflüchtete in ihrer Not aufzunehmen. Der heutige Wahlsonntag wird zeigen, ob das Erbe der christlichen Werte auch in der Gegenwart trägt. Nicht nur der Startpunkt des christlichen Europa liegt in Griechenland, auch die Wiege der Demokratie, allerdings gut 500 Jahre bevor Paulus und Silas europäischen Boden betraten. Ich finde, beides passt gut zusammen. Und wir tun gut daran, wenn wir uns bei unserer Entscheidung für die eine oder andere Partei, an dem orientieren, was damals aus Palästina nach Europa herüberkam: der Glaube an die Menschenfreundlichkeit Gottes und an seinen Auftrag, diese Welt zu bebauen und zu bewahren.
Diese gute Botschaft wollten auch die Missionare bringen, die im Laufe der Jahrhunderte der Kirchengeschichte sich oft auf weitere Reisen als Paulus und sein Gefährte Silas begaben. Doch auf den Reisen in unbekannte Welten und zu fremden Völkern hatten sie allzu oft neben Bibel und Gesangbuch Leiden, Unterdrückung und Ausbeutung dabei – gesandt, um zu herrschen, nicht zu dienen… Deshalb muss jede Botschaft, jeder Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit kritisch hinterfragt und geprüft werden: Dient es den Menschen? Strahlt Gottes Liebe auf? Liegt darauf der wärmende Segen, den Gott verheißen hat….?
Paulus lässt sich rufen, er drängt sich nicht auf. Er ist auf der Seite der Mühseligen und Beladenen – er sucht sie und er findet sie.
Jetzt bräuchten wir ein Gruppenfoto mit allen. Es müsste ein Farbfoto sein, die Farbe der Kaiser, Könige und Kardinäle müsste darauf kräftig leuchten: Purpur. Dazu die Frauen, die draußen vor der Stadt den kostbaren Farbstoff aus der Purpurschnecke gewinnen – ein schmutziges, ein ekliges Geschäft. Die Armen schuften sich ab, damit es den Reichen noch besser geht. Eine Frau auf dem Bild sticht hervor: Selbstbewusst steht sie in der Mitte. Sie scheint den Sprung aus der Sklaverei geschafft zu haben. Nun wird sie die erste Christin auf europäischem Boden: Lydia.
Paulus und Silas suchen Menschen, die empfänglich sind für den neuen Glauben. Doch sie gehen nicht auf die Marktplätze, wie später in Athen, wo der christliche Glauben in Konkurrenz zu Philosophien und Religionen seiner Zeit steht. Sie gehen dorthin, wo sie wissen, dass Menschen in den Wurzeln des jüdischen Glaubens verankert sind: Die kleine jüdische Gemeinde, die sich am Sabbat draußen vor den Stadttoren am Fluss trifft. Vielleicht haben sie schon lange auf solche befreienden Worte gewartet: Dass es keinen Unterschied zwischen Reichen und Armen, Sklaven oder Freien, Mann oder Frau, Jude oder Grieche … gibt. Gottes Zuwendung in Jesus Christus gilt allen, seine Liebe braucht kein Purpur, seine Zuwendung zu den Menschen macht nicht Halt an den Grenzen der Kontinente. Und so entsteht die erste christliche Gemeinschaft auf europäischem Boden, vielleicht ist die Beschreibung als „Kirche“ zu weit gegriffen, aber hier liegen die Anfänge. Die Purpurhändlerin Lydia lässt sich taufen mit ihrem ganzen Hause. Die erste Kirche ist eine Frauenkirche – wie auch heute noch an der Basis. Die erste Kirche tauft offenbar auch die Kleinsten im Hause, also die, die weder „Ja“ sagen können noch ein Bekenntnis aufsagen – auch sie gehören dazu.
Und so gäbe es sicherlich ein fröhliches Foto mit der „gottesfürchtigen Lydia“ und allen, die sich taufen ließen. Ein Foto von einem Meilenstein in der Kirchengeschichte und dem großen Glück der Getauften, weil Gott spricht: „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen – du bist mein!“ Seitdem verbindet sich der Name Lydia mit den Anfängen des christlichen Glaubens in Europa.
Und Ihre eigene Glaubensgeschichte – womit verbindet die sich? Welche Bilder tauchen da auf? Wer war für Sie Anstoß oder Vorbild im Glauben? Wer hat Ihnen ein Leben voller Hoffnung und Zuversicht vorgelebt? Von wem müsste ein Foto in meinem Familienalbum aufgenommen werden?
War es auch der Großvater, der tiefe Spuren des Glaubens hinterlassen hat. Ein frommer Mann. Zum Essen wurde gebetet – selbstverständlich. Und auch abends im Bett. „Ich bin klein …“
Das tat gut, das nahm die Angst in der Dunkelheit und der Einsamkeit der Nacht. Und wie ist es bei Ihnen – beten Sie mit Ihren Kindern oder Enkeln?
Ja, die ältere Genration erinnert sich noch gern und zugleich mit Schrecken an die Pastoren alter Schule, die mit aller Strenge und Disziplin die Gesangbuchlieder und den Katechismus abfragten. „Damals mussten wir noch richtig lernen!“ – heißt es. Und wirklich: Manche Schatzkiste ist da fürs Leben gepackt worden, mit guten Gebeten, tröstenden Psalmen und mit Liedern, die länger halten als die Charts der 70er und 80er Jahre. Aber es gab auch manche innere Verletzung und eine Abkehr von der Kirche – so bald wie möglich…
In meinem Konfirmandenunterricht wurde tatsächlich noch viel auswendig gelernt – die wichtigsten Lieder oder auch die Erklärung Luthers zum Glaubensbekenntnis oder zum Vater Unser. Da mir das Lernen leicht fiel, war es für mich kein Problem, aber was war mit den vielen anderen? Zum Glück hat mein Konfirmator damals aber auch schon neue Impulse im Unterricht gesetzt. Und wir sind auf einer Konfirmandenfreizeit gewesen – da haben wir den Pastor von einer ganz anderen Seite erlebt. Später, in der Jugendgruppe, gab es sogar ein freundschaftliches Verhältnis und ich sagte mir damals: So möchte ich später auch Jugendliche begleiten.
Wenn Sie zurückgehen zu den Wurzeln Ihres Glaubens, welchen Menschen begegnen Sie da, welche Erfahrungen gab es, was war hilfreich, was stand der guten Botschaft im Wege?
Ich möchte Sie einladen, einen Augenblick bei etwas Musik darüber nachzudenken und zurückzugehen an den Ort, wo die ersten Erfahrungen waren, Bilder von Menschen und Ereignissen, die für sie prägend waren.
(Musik)
Der Anfang der Kirche in Europa, die Geschichte unseres ganz persönlichen Glaubens. Es tut gut, sich an die Wurzeln erinnern zu lassen. Es macht dankbar zu erinnern, wer mich auf dem Weg des Glaubens begleitet hat. Es macht aber auch Mut, diesen Glauben weiterzugeben und wo nötig auch kritisch zu hinterfragen.
Der kleine Jan nimmt immer wieder sein Fotoalbum zur Hand mit den Bildern von Menschen, die lange vor ihm lebten, aber auch mit den Bildern schon aus seinem kurzen Leben. „Damit Du weißt, wer zu Deiner Familie gehört und woher sie kommt!“ hatte die Großmutter gesagt, als sie ihm das Album zum Schulanfang schenkte. Jan hörte immer wieder: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens.“ Doch er spürte, dass er geborgen ist und getragen wird, denn die Erinnerungen schenken ihm Hoffnung und Zuversicht. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Sonntag Sexagesimae stellt das Wort Gottes in den Mittelpunkt. Paulus lässt sich nach Griechenland rufen. Seine Worte lassen Lydia zum christlichen Glauben konvertieren. Die Epistel spricht von dem Wort als zweischneidiges Schwert. Das Evangelium von der vierfachen Ackerfrucht zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf Gottes Wort. Mit einer durchschnittlichen Gemeinde mit älteren Menschen und einer große Gruppe Konfirmand*innen möchte ich in die Zeit von Paulus und Silas eintauchen. Für alle gilt die Frage: Wer hat mich ganz persönlich in meinem Glauben begleitet?
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die schönen Bilder, die von Urlaub, Erholung, Entspannung sprechen, haben mich beflügelt noch weiter diesen Bildern nachzugehen. Wie Fotos stehen sie vor mir und lassen mich den Hauch von Mittelmeer, Sonne und Wärme spüren. Ich lade dazu ein, mit Lydia über die Anfänge des christlichen Glaubens nachzudenken, damals die Anfänge des christlichen Glaubens in Europa, danach viele, viele Male ganz persönlicher Ansprachen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich habe wieder neu die Entdeckungen gemacht, dass der liebende Gott mich begleitet durch Höhen und Tiefen. Und seine Zusage gilt: Siehe ich bin bei euch, bis an das Ende der Welt (Mt 28). Dabei ist es wichtig, dass wir uns immer wieder an Stationen erinnern, wo die Liebe Gottes in unserem Leben aufleuchtet. Das macht Mut, die Wege unseres menschlichen Lebens zu wagen, auch wenn manche Wegstrecke dunkel ist und unklar.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Zunächst eine wohltuende und wohlwollende Rückmeldung und eine Analyse, die dem Prediger und der Predigt mit ihrem Anliegen völlig gerecht wurde. Der Eingangsteil ist durch die Bearbeitung entschärft worden. Der Wahlsonntag am 23.02.2025. findet nun doch einen kurzen Hinweis. DANKE!
Link zur Online-Bibel
23.02.2025 - Sexagesimä
Geht es zu weit? Es geht weiter! - Predigt zu Apg 8,26-40 von Dörte Gebhard
Gnade sei mit euch und Frieden von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in der Apostelgeschichte des Lukas im 8. Kapitel. Dafür müssen wir heute weit gehen, an die Strasse zwischen Jerusalem und Gaza.
26 Philippus ... erhielt vom Engel des Herrn den Auftrag: »Steh auf! Geh nach Süden zu der Straße, die von Jerusalem nach Gaza führt und menschenleer ist.«
27 Philippus stand auf und ging zur Straße. Dort war ein Mann aus Äthiopien unterwegs. Er war ein kastrierter Mann und ein hoher Beamter am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien. Er verwaltete ihr Vermögen und war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten.
28 Jetzt war er auf der Rückreise. Er saß in seinem Wagen und las im Buch des Propheten Jesaja.
29 Der Heilige Geist sagte zu Philippus: »Geh hin und bleib in der Nähe des Wagens!«
30 Philippus lief hin und hörte, wie der Mann laut im Buch des Propheten Jesaja las. Philippus fragte: »Verstehst du eigentlich, was du da liest?«
31 Der Eunuch sagte: »Wie soll ich es verstehen, wenn mir niemand hilft?«
Und er bat Philippus: »Steig ein und setz dich zu mir!«
32 An der Stelle, die er gerade las, stand: »Wie ein Schaf wurde er zur Schlachtbank geführt. Wie ein Lamm stumm bleibt, wenn es geschoren wird, sagte er kein einziges Wort.
33 Er wurde zutiefst erniedrigt, doch das Urteil gegen ihn wurde aufgehoben.
Wer wird seine Nachkommen zählen können? Denn sein Leben wurde von der Erde weg zum Himmel emporgehoben.«
34 Der Eunuch fragte Philippus: »Bitte sag mir, von wem spricht der Prophet hier – von sich selbst oder von einem anderen?«
35 Da ergriff Philippus die Gelegenheit: Ausgehend von dem Wort aus Jesaja, verkündete er ihm die Gute Nachricht von Jesus.
36 Als sie auf der Straße weiterfuhren, kamen sie an einer Wasserstelle vorbei.
Der Eunuch sagte: »Dort ist eine Wasserstelle. Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?« 37 [...]
38 Er befahl, den Wagen anzuhalten. Beide, Philippus und der Eunuch, stiegen ins Wasser, und Philippus taufte ihn.
39 Als sie aus dem Wasser herausstiegen, wurde Philippus vom Geist des Herrn fortgenommen. Der Eunuch sah ihn nicht mehr. Aber er setzte seinen Weg voller Freude fort.
40 Philippus fand sich in Aschdod wieder. Von dort zog er weiter bis nach Cäsarea. Unterwegs verkündete er in allen Städten die Gute Nachricht. (vgl. Basisbibel)
Immer hören die Geschichten im schönsten Moment auf! Schon als Kind hat mich bei den meisten Büchern und manchen Filmen brennend interessiert, wie es denn nun weitergeht! Jetzt, wo es erst richtig anfängt ... mit der Taufe.
Mit Fragen, so erzählt man sich, habe ich die Erwachsenen gelöchert. Ich wollte wissen, was danach geschah! Wenn ich dann wenig einleuchtende Antworten bekam, hatte ich plötzlich die „geheime“ Superkraft aller Kinder, sehr ausdauernd und immer wieder „Waaarum?“ zu fragen. Alsbald bekam ich ein Gespür dafür, wie schnell Erwachsenen etwas zu weit geht. Und nur, weil ich wissen wollte, wie es überhaupt weitergeht ...
In dieser Taufgeschichte geht einiges zu weit! Und es ging weiter, sonst wüssten wir nichts davon. Es ging weiter – an zwei völlig verschiedenen Orten.
Denn irgendwann einmal kommt dieser Kämmerer von seiner weiten Reise wieder nach Hause an den Hof seiner Königin, weit im Süden, am Nil.
Philippus dagegen trifft sich in Cäsarea, an der Mittelmeerküste, mit Paulus, der unterwegs nach Jerusalem ist (vgl. Apg 21, 8). Beide, der Schatzmeister und Philippus, der Täufling und der Täufer, werden jeweils ihre Version dieser speziellen Taufe erzählt haben. Aus ihrer Perspektive, auf ihre Art.
Am besten hören wir nacheinander beide Geschichten:
I Wie der Schatzmeister seiner Königin rapportieren muss
II Wie Philippus sich den Nachfragen des Paulus stellt
Zuerst:
I Wie der Schatzmeister seiner Königin rapportieren muss
Der Schatzmeister hatte nach seiner Taufe noch mehr als 2500 km vor sich. Seine Route ging südwärts, immer dem Nil nach, bis in den heutigen Sudan, an den Hof seiner Königin namens Amanitore.
Er war viele Monate unterwegs gewesen auf seiner Reise nach Jerusalem. Trotz seines Wagens war es eine gefährliche Fahrt. Nun kam er nach vielen Wochen erschöpft heim, musste aber sicher sofort vor seiner Königin erscheinen.
Amanitore war aufgebracht: „Wo waren Sie so lange? Was haben Sie dort getrieben? – Ich weiss, dass Sie sich für den Gott der Juden interessieren! Das haben Sie gesagt, aber Sie haben nicht gesagt, wie weit es ist! Nie hätte ich das erlaubt! Nie! Viel zu weit!“
So musste der müde Kämmerer wohl sehr viel erklären und alles vor ihren Augen ausmalen, denn Fotos hatte er keine machen können. So teilte er ihr auch fast nur unglaubliche Dinge mit, z.B. dass in Jerusalem keine Königin regierte und dort statt einem Matriarchat die Männer das alleinige Sagen hatten. Er bekannte der Königin: „Reisen bildet. Stellen Sie sich vor, die Welt ist viel grösser als Ihr grosses, nubisches Reich!“
Oh, jetzt musste er aufpassen, was er sagte! Amanitore ging es schnell einmal zu weit ...
Die Königin konnte es sich nicht vorstellen: „Sie waren der einzige Schwarze weit und breit unter Menschen mit durchwegs hellerer Haut?! Mit fast weisser Haut? Ihre Fantasie spielt Ihnen Streiche! Ich kenne nur Schwarze. Sie waren bei 40 Grad im Schatten unterwegs, die Hitze kann einem Menschen schon einen Stich versetzen!“
Er berichtete ruhig weiter: „Das prächtige und jahrtausendealte Jerusalem ist von den Römern besetzt und ein römischer Statthalter beherrscht alles und alle. Aber die römischen Herrscher dulden den Tempelkult der Juden vorläufig. Nur ich, als Eunuch, also als kastrierter Mann, hatte keinen Zugang zum Tempel. Das liegt an den Heiligen Schriften der Juden. Hören Sie, was in der Thora steht, im 5. Buch Mose, Kapitel 23, 2: Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des Herrn kommen.“
Die Herrscherin überging das und fragte lieber, ob er ihr etwas Schönes mitgebracht habe?! Als sie von der Schriftrolle erfuhr, war sie schwer enttäuscht: „Die soll besonders wertvoll sein?“ Er hatte ein Vermögen dafür bezahlt! Handgeschrieben, 66 Kapitel lang. Sie meinte: „Beeindruckend, durchaus – aber so teuer?“
Die Königin fragte, ob das nun diese Thora sei, die „Bücher der Weisung“ (vgl. Martin Buber) für die Juden? Wo eben solche merkwürdigen Regeln aufgeschrieben sind, dass ein Eunuch, dass sexuelle Minderheiten überhaupt, nicht zugelassen sind?!
Da erzählte der Kämmerer: „Das Buch des Propheten Jesaja ist mein liebstes. Darum habe ich es gekauft, trotz des hohen Preises. Nicht die Thora.
Dieses Prophetenbuch wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ergänzt und fortgesetzt von Schülern des Jesaja. In den jüngsten Kapiteln, fast am Schluss, heisst es – anders als in der Thora –, dass Kastraten eben doch Gnade und ewige Anerkennung finden bei Gott.“
Und er las seiner Königin aus Jesaja 56, 3-5 vor:
3 Der Fremde, der sich dem Herrn angeschlossen hat, soll nicht sagen müssen: Der Herr schließt mich aus seinem Volk aus! Der Kastrierte, der keine Kinder zeugen kann, soll nicht sagen müssen: Ich bin ja nur ein verdorrter Baum.
4 Denn so spricht der Herr: Es gibt Kastrierte, die meinen Sabbat immer einhalten. Sie haben sich entschieden, meinen Willen zu tun, und halten sich treu an meine Gebote.
5 Ihnen setze ich innerhalb der Tempelmauern ein Denkmal mit ihrem Namen. Das ist mehr wert als Söhne und Töchter. So sorge ich dafür, dass ihr Name für immer bleibt und niemals vergessen wird. (Basisbibel)
„Also haben Sie doch in den Tempel gedurft?“ – „Nein, leider nicht. Aber auf der Heimfahrt, da habe ich mich ganz in die Schrift des Propheten vertieft, ohne sehr viel zu begreifen. Plötzlich tauchte einer auf, der mir restlos alles erklären konnte, was ich nicht verstand – und noch viel mehr. Bei Jesaja wird von einem Gerechten geschrieben, der leiden muss, obwohl er keinerlei Schuld auf sich geladen hat. Dieser Philippus, wie er sich nannte, erzählte mir von Jesus Christus. Der hatte als Gerechter gelitten und war gekreuzigt worden, hatte aber den Tod überwunden, ist auferstanden und lebt.“
Das alles ging der Königin jetzt viel zu schnell und viel zu weit! Dieser Philippus sei absolut ärmlich gekleidet gewesen und hätte mager ausgesehen ... „Ein Dahergelaufener war gebildet und fähig, diese Schriften auszulegen? Einer ohne Wagen, ohne Diener, einer, der barfuss durch den Staub lief? Der glaubte, Jesus Christus sei nicht einfach gestorben, sondern wie ein Lamm geschlachtet worden – und lebt nun ewig nach dem Tod?“
«Ja, genau! Das glaube ich – und ich bin fröhlich unterwegs, seit ich getauft bin! Kurzentschlossen habe ich mich taufen lassen, als Wasser am Wegesrand zu finden war.»
Die Königin hatte aufmerksam zugehört und fasste es noch einmal zusammen: «In den legendären Tempel in Jerusalem haben Sie nicht gedurft, aber in einem Tümpel im Irgendwo haben Sie sich taufen lassen?! Es geschah im Namen eines Gottes, dessen Liebe sogar stärker ist als der Tod, der Menschen annimmt über alle Grenzen hinweg? Weder die Sexualität noch die Hautfarbe, weder die Herkunft noch die finanziellen Verhältnisse sind entscheidend? Alle Menschen hat Gott geschaffen, alle sollen von ihm hören und zu ihm gehören? Das hat Jesus Christus verkündet und gelebt?»
«Ja! Amen! So ist es!» Ob es der Königin zu weit ging? Wir wissen es nicht, aber trotz aller Verfolgung leben bis heute Christinnen und Christen dort, wo einst die Königin Amanitore, ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen, regierten.
Orgelzwischenspiel für den Ortswechsel
II Wie Philippus sich den Nachfragen des Paulus stellt
Schauen wir aber jetzt, wohin es Philippus verschlagen hatte nach dieser Taufe. In der Apostelgeschichte heisst es: Philippus aber fand sich in Aschdod wieder und zog umher und predigte in allen Städten das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam. Und ein paar Kapitel später wird von Paulus berichtet, dass er für ein paar Tage bei ihm wohnt und Pause macht auf seiner letzten Reise nach Jerusalem (Apg 21, 8).
Den Apostel Paulus bewundert Philippus einerseits, weil der schon predigte, als er selbst noch Christen verfolgte. Er schätzt ihn, weil er wie er nicht nur Juden, sondern auch Heiden für das Christentum gewonnen hatte.
Aber andererseits: Diese Taufgeschichte mit dem Kämmerer ging Paulus doch erstmal zu weit! Ein Schwarzer aus einer vollkommen anderen, unbekannten Kultur! Die Philosophie der heidnischen Griechen kannte man. Aber mit dem? Konnten sie sich denn überhaupt richtig verständigen? Höchstens auf Griechisch, auf keinen Fall in ihrer Muttersprache.
Philippus kam ins Schwitzen, obwohl vom Meer her doch eigentlich immer ein frisches Lüftchen blies ... Er musste sich wahrscheinlich rechtfertigen, vor allem, dass er ihn so überstürzt getauft hatte. Paulus, der grosse Apostel, stellte sich das alles anders vor. Er hatte seine Methode: Man kommt an einen neuen Ort und besucht zunächst die Synagoge. Erst, wenn man da nicht angehört oder sogar rausgeworfen wird, wendet man sich an die Heiden. Man gründet, wenn möglich, eine kleine Gemeinde, ehe man weiterzieht. Und wenn es in der Gemeinde Fragen oder Schwierigkeiten gibt, schreibt man ausführliche Briefe, schickt Mitarbeiter. Sonst ist es doch nicht nachhaltig mit der Ausbreitung des Glaubens!
Aber dieser Kämmerer? Wie hiess der denn? Philippus war es peinlich, das hatte er vor lauter Aufregung total vergessen! Und eine Adresse, wie Paulus sich das vorstellte, hatte er auch nicht. Und selbst wenn er nun geschrieben hätte «An den Christen am Königshof der Amanitore», wer hätte den Brief dorthin gebracht? Ausserhalb des Römischen Reiches gab es nicht solche Strassen, wie sie Paulus auf seinen Reisen gewohnt war!
Der Geist Gottes hatte Philippus an die Strasse nach Gaza geschickt, selbst wäre er niemals auf diese Idee gekommen. Er fand das eigentlich zu weit. Zu weit weg von Jerusalem. Zu einsam, viel zu gefährlich. Wo der Mann herkam, hätte er nicht zu sagen gewusst. Irgendwo im Süden. Weit weg. – Sie haben schliesslich über die Jesajastelle gesprochen und seien vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, natürlich ging es dann um den Glauben an Jesus Christus, nicht um Geographie!
Oh, jetzt musste er aufpassen, was er sagte! Denn Paulus war auch nur ein Mensch, dem natürlich bald einmal auffallen musste, dass dieser Kämmerer jetzt nur Jesaja kannte und nachlesen konnte. Philippus fand, er sollte auch mal einen Brief schreiben!
Aber es ging noch weiter!
Das heikelste Thema für Philippus war der Reichtum dieses Kämmerers. Den hatte er unbedachterweise gleich zuerst geschildert! Der Wagen, die Kleider, ... Und er konnte sich sogar eine Schriftrolle leisten! Paulus hätte dafür niemals das Geld zusammenbekommen. Ob Philippus diesen märchenhaft reichen Kämmerer wenigstens um eine anständige Kollekte gebeten habe ...?! Paulus erinnerte Philippus daran, dass er immerhin seit Jahren Kollekte für Jerusalem sammelte.
Aber als Philippus ängstlich darüber nachdachte, was Paulus ihm wohl noch vorhalten würde, fasste Paulus nochmal zusammen: Nachdem er nicht in den Tempel konnte, hatte Philippus ihn in einem Tümpel im Irgendwo auf seine Bitte hin getauft. Es geschah im Namen des Gottes, dessen Liebe sogar stärker ist als der Tod, der keinen Menschen hindert, der nach ihm sucht und fragt. Weder die Sexualität noch die Hautfarbe, weder die Herkunft noch die finanziellen Verhältnisse sind entscheidend. Alle Menschen hat Gott geschaffen, alle sollen von ihm hören und zu ihm gehören. Das hat Jesus Christus verkündet und gelebt, dafür ist Christus gestorben, fügt Paulus noch an.
Und Philippus ergänzt: Und er ist von den Toten auferstanden. Er hatte gern diesmal das letzte Wort.
Liebe Gemeinde,
im schönsten Moment hört diese Predigt auf!
Jetzt, wo wir soweit sind, dass die Männer sich einig sind.
Wie die Geschichte weitergeht? Das erleben wir mitten unter uns, in der grossen Gemeinschaft derer, die getauft sind und derer, die auf dem Weg zur Taufe sind.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Im Gottesdienst werden zwei Kinder eingesegnet, die Familie kommt mit ca. 60 Personen und vielen Kindern; für kleinere gibt es eine Hüeti, grössere gehen in den Kindertreff. Die Gemeinde ist sehr interessiert, es gibt viele Hauskreise und zwei Bibelgesprächskreise; die Predigt wird von einigen gern schriftlich nachgelesen. Im Anschluss an den Gottesdienst gibt es zum Start in die Sommerferien ein Grillfest, bei dem alle zusammen feiern (ca. 120 Personen).
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich hatte die Gelegenheit, den Predigttext in einer Bibelarbeit am Gemeindewochenende in Adelboden zum Thema „Lebendiges Wasser“ gemeinsam zu studieren, die Vorbereitung darauf und die Fragen der Teilnehmenden waren beflügelnd. Dass und wie queere Menschen in der Bibel vorkommen, bewegte die Teilnehmenden an dieser Bibelarbeit. Sie waren überrascht und vertieften sich in den Unterschied von Thora und Jesajabuch.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Vertieft habe ich mich anlässlich der Stichworte Kandake und Eunuch und viel über die teilweise matriarchale Kultur im heutigen Sudan gelesen. Z.B. folgende Quelle: https://www.theomag.de/126/am703.html . Befasst habe ich mich auch mit aktuellen, touristischen Reise(un)möglichkeiten, falls jemand nachfragt. Theologisch ist mir die Offenheit gegenüber allen queeren Menschen wichtig, die in Teilen unserer Kirchgemeinde noch einen weiten Weg vor sich hat – sehr vielen geht sie im Moment noch zu weit.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt verdankt der Bearbeitung mehr direkte Rede und damit mehr direkte Identifikationsmöglichkeiten mit dem Kämmerer, der Königin, dem Diakon, auch mit dem Apostel Paulus. Es wird möglich, sich in die sehr unterschiedlichen Akteure hineinzuversetzen und hoffentlich fast gleichzeitiges Verständnis auch für diejenigen zu entwickeln, die sehr verschiedener Ansichten sind.
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Himmelfahrt und Führerschein - Predigt zu Apg 1,3-11 von Christoph Kock
Frau Ludewig macht den Führerschein
[Dieser Einstieg stammt von Thomas Hirsch-Hüffel, Die Zukunft des Gottesdienstes beginnt jetzt. Ein Handbuch für die Praxis, Göttingen 2021, digitaler Anhang S. 78.]
Frau Ludewig ließ ihren Mann die Überweisungen für die Bank schreiben. Sie ließ ihn den Wagen steuern bei den Fahrten von Hamburg-Barmbek nach Grömitz zu ihrem kleinen Wohnwagen. Sie schaute mit ihm Lindenstraße, auch wenn sie lieber im Garten im Hof gesessen hätte. Dafür schnitt er am Wochenende das Gemüse und brachte eine Flasche Sekt mit, damit sie beide ein bisschen feiern konnten.
Manchmal träumte sie davon, ein Flugzeug selbst zu steuern. Immer wieder startete sie erfolgreich im Traum, aber nach ein paar Kilometern landete sie im Vorgarten ihrer Eltern. Da großes Theater: Die Hecke kaputt! Wie kannst du nur … Immer wieder diese Szene nachts. Einmal hat sie Paul morgens davon erzählt. Er hat gegrunzt und gesagt: Na, du willst ja hoch hinaus. Mach doch erstmal Führerschein, ich zahl’s auch. Hat sie nicht. Warum auch, er fuhr gern und sie fuhr mit.
Vor zwei Jahren hat sie ihren Mann nach 34 Jahren Ehe hergeben müssen.
Erst ging gar nichts mehr. Die beiden Söhne kamen oft, weil sie kaum essen wollte. Der Pastor sagte: Tragen Sie doch eine Weile schwarz. So machte sie es. Und es tat ihr gut, ihre Trauer zeigen zu können. Die Söhne schrieben die fälligen Überweisungen und bestellten ihr ein Taxi.
Eines Tages wachte sie auf, hörte die Vögel schimpfen, sah die leere und saubere Hälfte des Ehebettes an und schüttelte den Kopf. Sie ging an den Schrank, warf seine Anzüge in einen Karton, zerlegte das Bett und wartete beim Kaffee auf die Ladenöffnung. Eine Woche später stand ihr neues, schmaleres Bett im Zimmer.
Dann ging sie auf die Bank und ließ sich zeigen, wie man Überweisungen ausfüllt. Sie ließ sich vom älteren der Söhne auf einem alten Flugplatz zeigen, wie man ein Auto steuert. Meldete sich beim Führerschein an, fiel einmal durch und bestand beim zweiten Mal. Nun fährt sie – nach Kopenhagen. Weil sie das Licht so schön findet da oben.
Die Jünger sind dran
Wir sehen Jesus stehen mit seinen Jüngern ohne Führerschein. Sie sind ihm nachgefolgt. Dorthin gegangen, wohin er gegangen ist. Sie haben ihn die Richtung vorgeben lassen. Sie haben gemacht, was er gesagt hat. So einfach ist das gewesen. So viel haben sie mit ihm erlebt, Zeichen und Wunder. Manchmal verborgen in überraschenden Begegnungen: Mit Leuten haben sie am Tisch gesessen, mit denen sie wahrscheinlich sonst kaum ein Wort gewechselt hätten. Als Jesus tot ist, sitzen sie herum und können nicht eine einzige Überweisung ausfüllen.
Eines Tages sehen sie, wie Jesus in den Himmel aufsteigt. Sie sehen ihm hinterher, hängen ihren Gedanken nach. Zwei Engel sprechen sie an:
»Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen – genauso wie ihr ihn habt in den Himmel gehen sehen.« (Act 1,11)
Und jetzt? Was sollen sie jetzt tun? Warten, bis Jesus wiederkommt. Ihnen wieder sagt, wo es lang geht. Ihnen wieder sagt, was zu tun ist. Da können sie lange warten. Die Jünger sehen sich ratlos an und schon haben sie die Blickrichtung geändert.
Und dann denken sie: Was Jesus konnte, das können wir auch. Kommt, wir ziehen los und feiern das Licht, das wir aus seiner Nähe kennen. Wir sammeln Menschen und erzählen von ihm, feiern Taufe und Abendmahl, suchen nach dem, was verbindet.
Die Jünger werden selbständig unterwegs sein, eigene Entscheidungen treffen. Klar, sie werden Fehler machen. Aber das ist nicht entscheidend. Das Leben geht weiter und das Evangelium zieht weite Kreise. Darauf kommt es an. Ohne es zu merken, machen die Jünger den Führerschein. Zu Pfingsten wird das gebührend gefeiert.
Geschenkte Kraft
Zugegeben, Gott hat ihnen dabei geholfen. Oder Jesus selbst. Das ist kaum voneinander zu unterscheiden. Das haben die Jünger später gemerkt. Worte sind ihnen in Erinnerung geblieben. Jesu Worte. Ihre Fragen und seine Antworten. Wann sich Gottes Reich durchsetzen wird? Jesus hat ihnen kein Datum genannt. Bis es soweit ist, bekommen sie alle Hände voll zu tun: „Aber wenn der Heilige Geist auf euch herabkommt, werdet ihr Kraft empfangen. Dann werdet ihr meine Zeugen sein – in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde.“ (Apg 1,8)
Gottes Geist, ihre Kraft. Kraft fürs Reden und für weite Wege. Fürs Begegnen, Lernen, Reisen. Ein Geschenk mit Ansage: „Johannes hat mit Wasser getauft. Aber ihr werdet in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft werden.“ (Apg 1,5)
Immer deutlicher tritt zu Tage, wie Jesus sie auf den Abschied vorbereitet hat. Was sie mit ihm erlebt haben, was er ihnen erklärt hat, was er angekündigt hat. Alles zielt darauf, dass sie selbständig unterwegs sind, in seinem Namen zwar, aber auf ihren eigenen Füßen. Mit ihrem Denken und Handeln. Gottes Reich, Sehnsucht und Motivation gleichermaßen. So anders und doch mittendrin. Was manche sehnsüchtig erwarten, hat schon längst angefangen. Jesus war davon durchdrungen, hat davon gesprochen, bis zuletzt (Apg 1,3).
Dann wird den Jüngern klar: Das war erst der Anfang. Jetzt sind sie gefragt. Sie schauen sich an und freuen sich auf das, was da noch kommt.
Musikalisches Intermezzo: Max Giesinger und Lotte, 2018
Es geht grad erst los, ich will so viel noch sehen
Will gegen die Wand fahren und wieder aufstehen
Will der größte Optimist sein, wenn's tagelang nur regnet
Will Stunden verschwenden und nicht so viel planen
Mich in Träumen verlieren und von vorne anfangen
Ich will nie mehr Pessimist sein, wenn wir uns mal begegnen
Wenn ich so an all das denk‘
Will ich, dass es jetzt beginnt
Auf das, was da noch kommt
Auf jedes Stolpern, jedes Scheitern
Es bringt uns alles ein Stück weiter zu uns
Auf das, was da noch kommt
Auf das, was da noch kommt
Auf Euphorie und alles Leichte
Hoff‘, das wird lange noch so bleiben für uns
Auf das, was da noch kommt
(nach 1:19 min. ausblenden)
Auf das, was da noch kommt
Was da noch kommt. Wenn man heute Jüngerinnen und Jünger fragt, wird von Problemen die Rede sein. Dort, wo sie in Presbyterien Verantwortung für die Kirche übernommen haben, steht eine lange Liste auf der Tagesordnung. Schutzkonzept, Arbeitssicherheit, KiTa. Besonders schwierig: Die Verbindung von Steinen und Menschen. Gemeinden werden heute kleiner. Anders als am Anfang, von dem die Apostelgeschichte noch berichten wird. Wie man kleiner wird? Dazu kein Hinweis in der Bibel. Ich habe nachgeschaut. Vom Größerwerden wird erzählt und von den Herausforderungen, die das mit sich bringt. Wir haben andere Baustellen.
Manche Gebäude werden heute oder spätestens übermorgen nicht mehr gebraucht oder müssen des Klimas wegen umgebaut werden. Wie geht man mit Immobilien um? In der Apostelgeschichten wird von Gemeinden erzählt, aber sie besitzen keine eigenen Häuser. Die Kirche hat am Anfang keine Kirchen. Und den Denkmalschutz gibt es auch noch nicht. Erstaunlich, worüber die Bibel alles schweigt.
Und doch liegt sie vor uns auf dem Altar. Wir blicken zurück in eine fremde Welt. Wir erinnern uns an Jesus und sind zugleich selbständig unterwegs. Jesus wird uns nicht sagen, was wir tun und lassen müssen. Aber Jesus vertraut darauf, dass wir gemeinsam zu Entscheidungen kommen. Wege finden, heute seine Zeuginnen und Zeugen zu sein. Durch das, was wir sagen, und das, was wir tun. Wir schauen auf die Bibel und blicken uns zugleich an.
Was da noch kommt. Gemeinschaft erleben, auf vielfältige Weise und mit Menschen, die verschieden sind. Wie vor sechs Wochen beim Osterfrühstück hier in der Friedenskirche. Mehrere Generationen zusammen am Tisch. Menschen kommen miteinander ins Gespräch, feiern das Fest das Lebens. Was da noch kommt? Ein Gottesdienst zum Stadtradeln auf dem Marktplatz. Ein zweites Tauffest, hoffentlich in diesem Jahr unter freiem Himmel am Auesee. Eine Reise nach Rom. Kirche Kunterbunt, Orgeldinner, Kinderkirche. Was da noch kommt. Die Liste ist lang. Ich freue mich darauf.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Kirche im Krisenmodus. Bewährte Strukturen (im Rheinland vorzugsweise: presbyterial-synodal) scheinen nicht mehr zu passen. Wahlen zum Presbyterium fallen mangels Kandidat:innen aus. Den Verantwortlichen vor Ort wird immer mehr abverlangt: Schutzkonzept, Arbeitssicherheit, Gebäudeanalyse, energetische Sanierung … Die Verantwortung wächst, während die Gemeinden kleiner werden. Jesus („Ich bin dann mal weg“) mutet seinen Leuten eine Menge zu.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Himmelfahrt und Führerschein: Eine tolle Skizze von Thomas Hirsch-Hüffel hat mich sofort angesprochen. Ich habe seinen Text als Anfang für eine Predigt zu Himmelfahrt verwahrt und war darauf neugierig, was aus der Geschichte von der Witwe, die den Führerschein macht, werden wird.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die beiden Engel stellen den Jüngern eine Frage: „Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel?“ Die Blickrichtung beschäftigt mich. Wohin schauen? Was tun? Das korrespondiert miteinander: Nach oben schauen und auf Jesu Rückkehr warten oder einander anschauen und die Zeit nutzen, die bis dahin bleibt. Ich verstehe die Frage als Aufforderung an die Jünger:innen, die Blickrichtung zu wechseln und selbständig unterwegs sein, in Jesu Namen zwar, aber auf eigenen Füßen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Irgendwann ist mir klar geworden, dass ich mich zuerst mit dem letzten Vers des Predigttextes beschäftigt habe. Wie wäre es, von V 11 an ‚rückwärts‘ zu predigen und den Bogen zu Jesu Reden über Gottes in V. 3 zu schlagen? Ich habe es ausprobiert, zumal der Text als ganzer in der Lesung seinen Raum hat.
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07.07.2024 - 6. Sonntag nach Trinitatis
09.05.2024 - Christi Himmelfahrt
Ein Traum von Kirche: Gutes Leben für alle - Predigt zu Apostelgeschichte 2,41-47 von Olaf Waßmuth
Liebe Gemeinde,
der Urlaub regt die Phantasie an.* Meine jedenfalls. Da lässt man ein wenig die Gedanken baumeln: Wie könnte das Leben aussehen, wenn ich nicht mehr ständig zur Arbeit müsste? Wenn ich 24 Stunden zur freien Verfügung hätte, jeden Tag? Wenn ich täglich diesen wunderbaren Blick auf den See (/das Meer) oder auf die Berge hätte? Wenn – statt gelegentlich mal – meistens oder immer die Sonne schiene? Wäre das nicht herrlich?
Vielleicht gehören Sie auch zu denen, die im Urlaub spinnige Ideen bekommen übers Auswandern oder wenigstens darüber, einen Camper oder eine Ferienwohnung zu kaufen. (Vielleicht gehören Sie sogar zu denen, die genau das längst getan haben und heute deshalb hier sind...)
Die Urlaub regt zur Phantasie an – über das gute Leben. Zum Träumen von einer Welt, in der es anders zugeht als in der, die wir täglich erleben. Von der Zeitung und Tagesschau berichten.
Der Traum vom guten Leben, von einer anderen Welt – er begegnet uns an diesem sommerlichen Sonntag im Predigttext.
Die Zeilen, die ich Ihnen gleich vorlese, stammen aus der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Sie erzählen von den Anfängen der Kirche, von dem, was nach Pfingsten geschah, damals in Jerusalem, als Gottes Geist über die Jünger Jesu kam. Der Jünger Petrus spricht vom Geist erfüllt zu der Menge – und daraus entsteht eine unglaubliche Bewegung. (Apostelgeschichte 2,41-47:)
41Die nun sein Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen.
42Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. 43Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. 44Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam.
45Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. 46Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen 47und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk.
Der Herr fügte aber täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden.
Liebe Gemeinde,
über diesen Abschnitt aus der Apostelgeschichte kann man staunen: Wie wunderbar ist das! Massenweise treten Menschen in die Kirche ein ( – nicht aus…). Weil die Botschaft überzeugt. Aber auch – und vielleicht besonders –, weil das Miteinander überzeugt: Weil in der ersten Gemeinde keiner am Rand steht. Weil dort keiner zu wenig hat. Alles wird geteilt, die Gottes-Weisheit, Freude und Leid und sogar der materielle Besitz. Eine Gemeinschaft, die zusammenhält und zugleich nach außen wirkt. Kirche als Alternativmodell, als Stück heile Welt.
Über diesen biblischen Abschnitt kann man aber auch die Stirn runzeln. Sollte das wirklich so gewesen sein? Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Und kennt man nicht die diversen Experimente in der Weltgeschichte, in denen ein solches Zusammenleben grausam misslungen ist? Man denke nur an liberté, fraternité und égalité in der Französischen Revolution, die in die Brutalität umkippte. Oder an den real existierenden Sozialismus, der in repressiven Diktaturen endete.
Kann denn Kirche perfekter sein als die Welt? Hier ließen sich, Gott sei es geklagt, auch ganz schnell Gegenbeispiele finden.
Und trotzdem ist das ein richtungsweisender Text.
Für mich hat er den Charakter einer Vision. So ähnlich wie die Wunder Jesu in den Evangelien beschreibt er eine neue Wirklichkeit, die sich nicht machen lässt, sondern Gegenstand der Hoffnung ist. Das Reich Gottes ist nahe gekommen, sagt Jesus, und wirkt Zeichen dafür, was das bedeutet: Krankheit, Ausgrenzung und Tod enden.
Das Reich Gottes ist nahe gekommen – diese Botschaft wird von den Jüngerinnen und Jüngern nach Ostern weitergetragen. Und dabei verwirklichen sie zeichenhaft, was damit gemeint ist: ein Miteinander, bei dem keiner zu kurz kommt; Gerechtigkeit und Respekt für alle. Das Zusammenleben der ersten Gemeinde ist ein Wunder.
Immer wieder hat es in der Kirchengeschichte Phasen gegeben, in denen Menschen von diesem Anfang auf die ein oder andere Weise inspiriert wurden, es einfach zu probieren: anders zu leben als die anderen. Anders mit Besitz umzugehen; Gemeinschaft intensiver und verbindlicher zu verwirklichen. In Klöstern. Oder auch in Familienkommunitäten. Für ein ganzes Leben. Und manchmal nur auf Zeit. Solche Gemeinschaften sind für mich Leuchttürme, die die Kirche braucht. Es sind Zeichen und Wunder, die Gottes Geist wirkt.
Wir alle, die meisten von uns zumindest, sind Teil einer zutiefst verbürgerlichten Kirche. Wir leben eigene, private Leben. Und wir können und wollen daran wahrscheinlich auch so schnell nichts ändern. Dafür gibt es tausend praktische Gründe.
Und doch stellt diese Geschichte vom Anfang der Kirche immer wieder unsere Phantasien von einem guten Leben in Frage.
Wenn ich vom guten Leben träume, dann denke ich meistens an mich selbst. Und nur an mich selbst. Ich denke darüber nach, wie ICH es noch ein Stück bequemer, entspannter, wärmer und sonniger haben könnte. Ich denke nach über weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Freiheit und Ruhe. Es sind Träume vom Typ „Schlaraffenland“.
Damit bin ich nicht allein. Wenn unsere Gesellschaft sich in die Zukunft träumt, dann geht es fast immer um neue Techniken – für unsere Energiesicherheit, für Mobilität, für Wohlstand und Wachstum, weniger Krankheit, ein höheres Alter. Es werden gigantische Summen investiert, um Innovationen zu entwickeln, die für die Einzelnen ein längeres und bequemeres Leben ermöglichen. Und das ist ja auch richtig so.
Aber ist das schon „das gute Leben“?
Aus biblischer Sicht hat das gute Leben etwas mit dem gelungenen Miteinander von Menschen zu tun. Damit, wie sie kommunizieren. Wie sie sich respektieren und achten. Wie sie aufeinander hören. Wie sie teilen, was jeder braucht. Gutes Leben heißt immer auch Gerechtigkeit und Fairness. Das Reich Gottes ist kein Schlaraffenland.
Warum kommt das in meinen Phantasien vom guten Leben so wenig vor? Warum wird für diese Dimension von Zukunft eigentlich so wenig Geld ausgegeben, so wenig geforscht? Warum träumen so viele Menschen von selbstfahrenden Autos, von smarten Häusern und künstlicher Intelligenz? Warum träumen sie so selten von flachen Hierarchien, geringen Einkommensunterschieden, funktionierenden Netzwerken, vom Ende der Armut und der Ausgrenzung von Menschen?
Aus biblischer Sicht ist das das Zeichen einer fundamentalen Geistlosigkeit. Denn seit Pfingsten stiftet der Geist Gottes Menschen dazu an, ihr Miteinander zu erneuern. Dort erfinderisch und innovativ zu sein. Wo Gottes Geist wirkt, gibt es gutes Leben nur als gutes Leben für alle.
Zur Erinnerung daran brauche ich die Gemeinschaft der Kirche.
Nicht die Kirche als perfekte Gesellschaft. Die gibt es, wie man nüchtern zugeben muss, ebenso wenig wie die anderen perfekten Gesellschaften, die Menschen zu errichten versucht haben.
Nein, ich brauche die Kirche als Ort für ein exemplarisches, zeichenhaftes Miteinander. Als Raum, in dem man anders miteinander umgeht als sonst. Wo man andere aushält, die anders sind als man selbst. Wo man immer wieder teilt, was man hat, an Besitz und an Gaben. Wo man hört auf die alten Geschichten und Träume, auf die Worte der Apostel und Propheten. Wo man miteinander feiert und im Namen Jesu das Brot teilt. Wo die Beziehung zu Gott Gestalt gewinnt im Gebet.
Es sind diese elementaren Dinge, die die Kirche zur Kirche machen. Ohne die christlicher Glaube gar nicht vorstellbar ist.
Für Kritik an der real existierenden Kirche gibt es viele Gründe. Wer wüsste das besser als jemand, der schon ziemlich lange dort arbeitet. Diese Kirche hat Strukturen und Institutionen ausgebildet, auf die man verzichten kann und irgendwann vermutlich verzichten muss. Aber auf die Kirche als Gemeinschaft, in der das gute Leben gemeinsam erprobt wird, können wir nicht verzichten.
Die vielen klugen und freundlichen Menschen, die mir als Pfarrer erklären, dass sie für ihr Christsein die Kirche nicht brauchen, frage ich darum oft, wie sie damit umgehen, dass christlicher Glaube keine individuelle Weltanschauung ist. Sondern eine Vision von einem guten Leben für alle, von einem veränderten Miteinander. Wo kommt das in Deinem Glauben vor? (Und wenn Du Glaube als eine Art persönliche Lebenseinstellung definierst – wo kommt es vor, dass unsere Haltungen und Werte sich vor allem im Gegenüber zu anderen Menschen bilden – und nicht im stillen Kämmerlein?).
In einem Gottesdienst wie diesem wird das, was christliche Gemeinschaft ausmacht, zeichenhaft verwirklicht: das Miteinander von Menschen verschiedener Herkunft, das Hören auf die Botschaft der Bibel, das Brotbrechen und Feiern im Abendmahl, das Gebet in ganz verschiedenen Tonlagen und – wenigstens ansatzweise, in der Kollekte – auch das Teilen von Besitz.
Darum ist jeder Gottesdienst ein kleiner Anfang, ein Echo von diesem großen Anfang zu Pfingsten in Jerusalem, und vielleicht auch: ein kleines Wunder, das an dem großen Wunder der Kirche Anteil hat.
Mit diesem Gottesdienst wird der Traum von einem guten Leben für alle ein Teil Ihres Urlaubs – oder, falls Sie nicht im Urlaub sind, einfach ein Teil dieser neuen Woche. Nehmen Sie diesen Traum mit. Lassen Sie sich davon inspirieren, weiter zu denken: Was heißt gutes Leben für Sie? Und wo kommen die anderen Menschen vor, mit denen Sie Ihr Leben, Ihr Gemeinwesen und am Ende diesen Planeten teilen? Wie wird Ihr Traum vom guten Leben ein Traum vom guten Leben für alle?
Ich wünsche Ihnen einen traumhaften Urlaub/eine traumhafte Woche – und dass Sie das beständige Flüstern des Heiligen Geistes darin hören können!
Amen.
* Die vorliegende Predigt wird im Rahmen der deutschsprachigen Urlaubsseelsorge in einem Ferienort am Gardasee gehalten.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die vorliegende Predigt halte ich nicht „zu Hause“, sondern im Rahmen der deutschsprachigen Urlaubsseelsorge in einem Ferienort am Gardasee. Ich kenne die Gemeinde noch nicht (zumal sie ständig wechselt!), weiß aber, dass es dort Kurzzeit-Urlauber:innen und Teilresidente gibt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
„Gutes Leben“ ist für mich das Stichwort, das die Urlaubssituation und das Anliegen des christlichen Glaubens verbindet. Das Leitwort sprang mir aus dem Predigttext durchaus entgegen – ich habe ihn darum nicht auf das Thema Abendmahl zugespitzt, das im Zentrum des Propriums steht. (Leider ist aus technischen Gründen an diesem Sonntag auch kein Abendmahl möglich).
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Frage, ob es so gewesen ist – ob der urchristliche Liebeskommunismus also historisch war – ist mir unwichtiger geworden. Im Text ist von den vielen Zeichen und Wundern der Apostel die Rede. Ich verstehe die radikale Gemeinschaft der ersten Christ:innen als ein (zeitlich beschränktes) Wunder, das wie die Wunder Jesu zeichenhaft auf Gottes Reich hinweist.
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23.07.23 - 7. So. n. Trinitatis
Zu-mutung hat was mit Mut zu tun - Predigt zu Apg 9,1-20 von Barbara Bockentin
(Der Predigttext wird vorher als Epistel gelesen.)
Da machte sich einer auf den Weg.
Zielsicher.
Selbstsicher.
Mit innerer Landkarte sozusagen.
Unterwegs anhalten und nachfragen, wie es denn weitergeht – nicht nötig. Ihn trieb sein Feuereifer an.
Den Segen der Oberen hatte er.
Er war nicht allein. Rechnete er doch mit reichlicher menschlicher Beute. So viele würde er aufstöbern können. Allein würde er es keinesfalls schaffen, sie mit sich zu nehmen.
Endlich – das Ziel vor seinen Augen.
Eine große Stadt.
Voller Leben.
Mit Schwierigkeiten rechnete er nicht. Im Gegenteil: seine Zuversicht wuchs.
Was sollte ihn noch hindern? Sein Plan würde aufgehen. Sorgen waren unangebracht.
Plötzlich von einem Moment zum anderen war alles anders. Es traf ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Das hatte er sich nicht einmal im Traum vorstellen können.
Erst dachte er, dass da bloß eine Stimme wäre. Sie hörte er ganz deutlich.
Doch da war mehr: Unvorstellbar. Ungeheuerlich.
Er sah eine Gestalt. Er sah den, der tot war. Nicht erst seit gestern. Tot. Ein Irrtum war ausgeschlossen.
Schweiß brach aus allen seinen Poren aus. Was war das? Keine Halluzination. Dazu war er zu deutlich erkennbar. Wenn er die Hand ausstrecken würde, könnte er ihn berühren.
Die Worte, beinahe liebevoll. Ohne Drohung. Eher werbend. Er ließ ihn seinen Weg fortsetzen. Hieß ihn warten. Auf was? Das erfuhr er nicht.
Dann war es vorbei.
Er schwankte.
Rappelte sich mühsam auf.
Fühlte sich hilflos.
Alles verschwamm ihm vor Augen.
Mehr noch. Er konnte wirklich nichts mehr sehen.
Eben noch zielsicher.
Selbstbewusst.
Mit dem Gefühl, alles im Griff zu haben.
Nun auf Hilfe angewiesen.
Im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln tappend.
Die Orientierung verloren.
Welch eine Zumutung!
Drei Tage lang dauerte dieser Zustand.
Drei Tage im Dunkel gelassen. Nicht zu wissen, was kommen würde. Wie es weitergehen könnte.
Hoffnungslos – so fühlte er sich. Alles vorherige war ihm aus den Händen geglitten.
Kaum auszuhalten!
Doch er tat, was ihm gesagt worden war.
In derselben Stadt an anderer Stelle erneut diese Stimme. Sie sprach zu einem anderen.
Einem Ängstlichen.
Zu Recht! Der gehört hatte, dass sein Leben und das der anderen bedroht war.
Er wehrte sich. Wollte nicht.
Welch eine Zumutung!
Doch er ließ sich schicken.
Zu dem, den er nicht kannte. Nur vom Hörensagen.
Nichts Gutes. nur Böses.
Nannte man das Gehorsam? Oder Leichtsinn!
Er wusste nicht, was auf ihn zukam.
Wie der andere reagieren würde.
Er verstand es nicht.
Die Absicht dessen, zu dem er geschickt wurde, zählte nicht. So, als ob es sie nie gegeben hätte.
Wie konnte das angehen?
Er sollte helfen. Heilen.
Er ging einfach.
Ohne Plan.
Gehorchte.
Vertraute.
Tat, wozu er geschickt wurde.
So trafen die beiden Männer zusammen.
Zufällig?
Auserwählt.
Unterschiedliche Erfahrungen. Erwartungen. Einstellungen. Lebenspläne.
Für beide tat sich der Himmel auf.
Das Dunkel verschwand.
Diese Begegnung machte sie zu Geschwistern.
Zusammengebracht von dem, der zu den Toten gegangen war. Von dem, der nach drei Tagen auferstanden war. Der zu ihnen beiden gesprochen hatte.
Sie erkannten einander.
Vom Geist beseelt.
Von Christus berührt.
Die Taufe, der Wunsch dazu zu gehören – logisch. Konsequent.
Keine Fragen mehr. Kein Warten. Keine Zweifel.
Jetzt hatte der eine ganz andere Pläne.
Ein neues Ziel.
Selbstsicher.
Mit Feuereifer würde er es verfolgen. Als einer von denen, die er verfolgen wollte.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Sonntagvormittag: etwa 30 Gottesdienstbesucher:innen, die meisten werden diese Geschichte kennen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mich hat bei der Vorbereitung weniger die Bekehrung des Saulus interessiert. Spannender fand ich das Aufeinandertreffen von Paulus und Jesus, Jesus und Hannanias und von Hannanias und Paulus. Dabei stellte sich die Zumutung, die in diesen Begegnungen steckt, als das heraus, was mich angetriggert hat.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Mich beschäftigt, welchen Mut sowohl Paulus als auch Hannanias brauchten, um sich auf die ungewollte neue Situation einzulassen. Aber auch, dass die Begegnung mit Jesus für beide den entscheidenden Impuls brachte.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mich hat bei der Schlussredaktion die Frage, die mich schon die ganze Zeit umgetrieben hat, beschäftigt, wieviel Erklärung dieser Text braucht. Ob die Predigt so verständlich ist. Die Entscheidung zu dieser kurzen Predigt bleibt bestehen.