(Lesung der Perikope geht Predigt voraus)
I. Was hier wie eine wahnwitzige Vision auf unsere Wirklichkeit trifft, gibt an einem Sonntagmorgen spektakulär zu staunen. Eine im Predigtalltag vollkommen unbekannte Szene, es sei denn der Tag des Märtyrers Stephanus wird tatsächlich einmal begangen. Wer jedoch der Weihnachtsgemeinde am zweiten Feiertag nicht die Stimmung verderben will – ausgerechnet mit einer Steinigung – lässt diese apokalyptische Szene des Sehers Johannes besser an Werktagen mit konkreten Nachrichten korrespondieren. Immerhin: mit Johannes kommt in dieser Szene endlich ein echter Insulaner zu Wort. Davon gibt es nicht viele in der Bibel! Küstenkinder? Ja, eine ganze Menge. Ziemlich viele Hafenkenner sogar wie Paulus. Dazu reichlich Leute aus Cäsarea, Korinth, Ephesus, Sarepta, Sidon und so weiter. Rund um’s Mittelmeer eben. Aber Inselkinder bleiben echte Ausnahmeerscheinungen. Nur ein Apostel stammt von der Insel Zypern, Josef Barnabas. Und noch einige Namenlose. Und nochmal immerhin: Ihre Gastlichkeit wird erwähnt. Und für sie gilt: ihre Gemeindearbeit wird erfolgreich genannt (Apg 4,36; 11,20f; 21,16).
Auch von Johannes wissen wir recht wenig. Beschrieben wird schlicht, dass er predigt, für Gottes Wort eintritt, Jesus bezeugt. Offenbar Grund genug, ihn auf die griechische Insel Patmos zu verbannen – nahe vor der Küste der heutigen Türkei (Offb 1,9).
Verbannung – das klingt nach Alcatraz. Tatsächlich sind Inseln oft als Gefängnisse genutzt worden, wo oft nicht nur Verbrecher, wo gerade Verfolgte isoliert wurden: Nelson Mandela auf Robben Island. Mikis Theodorakis auf der Insel Makronisos. Auf Deer Island, vor Boston gelegen, waren es im 17. Jh. viele einheimische "Indianer"*. Auf der Haifischinsel vor Namibia noch im 20. Jhdt. Menschen aus den Völkern der Herero und Nama. Sie wurden dort von deutscher Kolonialmacht grausam gequält ...
Patmos steht also nicht für einen schönen Inselsommer. Eher für die heutige Situation so mancher Inseln in der Ägäis und im Mittelmeer. Wer da gestrandet ist, fühlt sich einerseits tatsächlich verbannt. Wer da gelandet ist, ist andererseits für’s Erste gerettet. Doch dann? Und nun? Zum Ausharren verdammt. Von solch einem begrenzten Ort gibt es kein Wegkommen, kaum Bewegungsfreiheit, schon gar keine lockere Mobilität.
Bereits erste Andeutungen, erst recht spätere Klagen von ihm gegen Rom zeigen: Johannes weiß, was Verfolgung bedeutet. In Bedrängnis, so heißt es zu Beginn. Aber ebenso: Standhaftbleiben! So setzt dieses biblische Buch am Ende noch Zeichen. Es zeigt: Christenmenschen gehören an die Seite derer, die leiden und flüchten. Auf keinen Fall dürfen sie gemeinsame Sache mit rassistischen Ausgrenzern machen. Solidarisch hat es Johannes von der Insel aus den Menschen in sieben Gemeinden am Festland zugerufen: Ich bin mit euch zusammen ... Ich habe mit euch Anteil … (1,9)
Das alles sind durchaus wichtige Vorzeichen zum Verstehen dessen, was dann kommt. Damit wir nicht allzu schnell die Nase rümpfen, erst recht nicht spotten über das, was dem folgt: Visionen, Bilder, Worte – die uns alle fremd vorkommen, unverständlich, dramatisch. Aber sie kommen eben aus den Erfahrungen von Angst und Bedrängnis. Und sie setzen ihre fast verzweifelte, letzte Hoffnung auf Gott. Uns dagegen – die wir uns aussuchen können, auf einer bequemen Insel zu leben oder dort ein paar Ferientage zu buchen – uns rückt das Leiden von Menschen anderswo leicht in weite Ferne. Wo bei uns alles so sortiert zugeht, erscheinen Johannes‘ Worte und Visionen bald überdreht. Wir meinen, es sei doch bloß Begeisterung, die da mit ihm durchgehe ...
II. Nun also –
nach der Anfangsvision von der Menschengestalt als Lichtgestalt (Off 1,12-20),
nach den sieben Gemeindebriefen von der Insel ans Festland (Off 2 und 3),
nach den himmlischen Einblicken durch eine offene Tür (Off 4),
nach dem Blick auf das Buch mit den sieben Siegeln (Off 5),
nachdem sechs so geöffnet werden (Off 6), dass einem Sehen und Hören fast wieder vergehen – nun also Visionen (Off 7), die sich noch auf das sechste Siegel beziehen.
Zuerst werden da Menschen versiegelt, also geschützt, die dem Volk Israel angehören. Ihre Zahl (12 mal 12 mal 1000) verstehe ich so: vielmals viele, wenn nicht sogar alle. Selbst vor Naturgewalten werden sie geschützt. Windstille kehrt ein, Meeresflut ruht. Während derer entsteht kein Schaden, weder zu Lande noch zu Wasser (Off 7,1-8).
Sodann kommen da Menschen aus allen Völkern zusammen, ohne Zahl, in der ganzen Vielfalt ihrer Herkünfte und Gemeinschaften, Sprachfamilien und Prägungen (7,9a). Vor Gott kommen sie an – vor dem Thron, also mit Zugang zum Allerheiligsten – mit Herzensnähe zum Lamm, also zu Jesus. Weiß gekleidet – reinlich wie in Windeln gewickelte Kinder – abgewaschen wie in Leinen geborgene Tote – unbeschrieben wie weißes Papier – hell wie vom Licht beschienen. Mit Palmzweigen in ihren Händen – mit Hoffnungsfarben geschmückt – mit Friedenszeichen gewappnet – mit Luftzügen erfrischt (7,9b). Auch diese Menschen aus aller Welt und von den Enden der Erde lassen ihre Stimmen lautwerden, suchen Heil bei Gott (7,10). Und werden von Engeln bestätigt und bekräftigt: Amen, so soll es sein. Lob und Dank sei Gott (7,11-12).
Wer sind die? Und woher? Wer so fragt, weiß die Antwort im Grunde selbst (7,13-14). Ahnt auf Anhieb, dass da weder Namen, Berufe noch geographische Daten gefragt sind. Diese Menschen kommen aus einer großen Bedrängnis. Also aus einem Herkunftsraum namens θλίψεως, hier letztmals in der Bibel genannt, sonst wiedergegeben mit Trübsal oder Angst, mit tribulation (engl.), verdrukking (nl.) oder völ lieden un nood (plattdt.).
Bedrängnis – dieses Wort bündelt die breite biblische Leidenserfahrung von Menschen begrifflich. Nur eine Auswahl solch bedrängender Augenblicke sei hier aufgeführt:
- Schon Josef und seine Brüder bekommen diesen Inbegriff von Not schmerzhaft zu spüren. Wechselseitig liegen dabei Tun und Erleiden nah beieinander. Die Geschwister bekennen da, wie ihr Anrichten von Angst gegenüber einem Einzelnen für sie selber Folgen hat: Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns (Gen 42,21). Eine Erinnerung an beide Bedrängnisse – ausdrücklich sowohl des Einzelnen wie des gesamten Volkes – wird die Rede des Stephanus wörtlich aufnehmen (Apg 7,10-11).
- Verse in Psalm 22 – von Israel wie von Jesus gebetet – empfinden Distanz und Druck, rufen Gott herbei und an die Seite solcher bedrängten Menschen: Sei nicht ferne von mir, denn Angst ist nahe (Ps 22,12).
- Der Prophet Jeremia rückt das Ergehen einer ganzen Gemeinschaft sehr nahe an die persönlichen Qualen einer werdenden Mutter während der Geburt. Beide Male wählt er Motive der Selbstaufgabe und der Resignation, in der Menschen sich hängen lassen: … unsre Arme sind uns niedergesunken; es ist uns angst und weh geworden wie einer Gebärenden. (Jer 6,24). Auch einem König werden die Hände niedersinken; ihm wird so angst und bange werden wie einer Frau in Kindsnöten (Jer 50,43; vgl. Joh 16,21+33).
- Ähnlich wie der Seher Johannes kennen vor allem das Matthäus- und das Markusevangelium apokalyptische Anzeichen. Bei ihnen allen geht es um Bedrängnis oder Verfolgung um des Wortes willen (Mt 13,21| Mk 4,17), um nie zuvor und niemals noch erlebte Not (Mt 24,21 | Mk 13,19). Erfahrungen, die eine Welt ins Wanken bringen, welche die Sonne verfinstern, den Mond verlöschen und die Sterne vom Himmel fallen lassen (Mt 24,29 | Mk 13,24).
- Menschen in den neutestamentlichen Gemeinden geraten unter Druck, Bedrohung, Drangsal. Das spiegelt sich in der Apostelgeschichte und in vielen Briefen. Aufgrund ihrer Not ergreifen Menschen die Flucht und streuen sich über alle Lande aus (Apg 11,19 u.a.). Ihre Bedrängnis wird zwar als Teil menschlicher Existenz gesehen, jedoch eingeordnet als begrenztes und überwindbares Durchgangsstadium (Apg 14,22; 20,22f; 2. Kor 4,17).
- Gegenmittel zur Bedrängnis ist vor allem in den paulinischen Briefen die Geduld, die Hoffnung macht (Röm 5,3; 12,12; 2. Thess 1,4). Als tragende und überwindende Kraft wird zudem gegenseitiges Annehmen und Trösten empfohlen (2. Kor 1,4; 1.Thess 3,7; Phil 4,14), das sogar Freude freisetzen kann (2. Kor 7,4; 8,2). Der Seher Johannes betont sympathisch empathisch, die Bedrängnis anderer Menschen gut zu kennen (Off 1,9; 2,9f).
Die endlich versiegelten, also geschützten, geretteten, angelandeten, angekommenen Menschen haben die große Bedrängnis hinter sich. Zuflucht wird im Haus Gottes sein, Schutz unter Zeltplanen (7,15). Eine wunderbare Vision, die alle Wüstenerfahrung und alles Ausgeliefertsein, alle Entbehrung und Austrocknung für endlich beendet erklärt.
Sie werden nie wieder unter Hunger oder Durst leiden. Weder die Sonne noch glühende Hitze werden sie quälen (7,16). Spürbar, tröstlich und erfrischend begonnen hat das Behütetsein, das an die Fülle von Psalm 23 erinnert und diese doch mit einer Paradoxie herrlich auf den Kopf stellt: Denn das Lamm wird ihr Hirte sein. Es wird sie zu Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt (7,17). Da ist Aufatmen, Erquicken und Fallenlassen, Eintauchen in Geborgensein, Trinken aus dem voll Eingeschenkten.
Denn du bist bei mir (Ps 23,4). Da klingt bereits auf, was den Schlussakkord dessen bildet, was der Seher Johannes sieht, und was Kennzeichen eines neuen Himmels und einer neuen Erde ist: Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen (Off 21,4).
III. Wer sind die? Eine Frage, die bereits Esau seinem Bruder Jakob stellt (Gen 33,5), versöhnlich, angesichts von dessen Kindern, also seinen neuen Neffen und Nichten. Eine Frage, die ausgerechnet Vater Jakob an Sohn Josef richtet (Gen 48,8), als er seine Enkelkinder mehr ahnen als sehen kann, bevor er diese nächste Generation segnet. Eine Frage, die in neue Weite führt. So zentral: Wer ist denn mein Nächster? (Lk 10,29) Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? (Mt 12,48) So entwaffnend gefragt von Jesus: Wer ist unter euch …? (Mt 7,9; Joh 8,7 u.a.). So verwundert gefragt von Menschen im Boot, was Jesu Handeln im Sturm bedeutet: Wer ist der …? (Mk 4,41). So hoffnungsvoll gefragt von allen in der Stadt, die mit Palmzweigen in der Hand den Friedensstifter erwarten: Wer ist der …? (Mt 21,10).
Wer sind die? Du weißt es! So fremd uns die Menschen aus aller Welt scheinen, so fern sich die Szenen abspielen, so nahe rücken sie uns auf ihrer Flucht, in ihrer Gefährdung. Es ist zugleich ein Kontrast und eine Konsequenz, bei dieser Vision eines Insulaners an Menschen zu denken, die noch auf dem Weg zu den rettenden Ufern Europas, zu den Rettungsinseln im Mittelmeer und zu den Rettungsschiffen von United4Rescue sind.
Nach Jahren der Bedrängnis, Monaten der Entbehrung, Wochen der Trübsal, Tagen des Austrocknens und der Resignation. Die Nachrichten führen mir vor Augen, mit welcher Angst wie Josef sie uns als Geschwister anflehen. Wie sie sich in ihren Holzkähnen und Schlauchbooten von der Welt und von Gott verlassen fühlen müssen. Wie sie vor lauter Erschöpfung und Kraftlosigkeit nur noch der Resignation und Selbstaufgabe nahe sind. Wie alles, was ihre alte Welt ausmachte – auch das, was ihnen Wege in eine neue Welt versprach – nun Kopf steht, im Wind verweht und von Wellen verschlungen wird. Erst wenn sie ankommen, wenn sie mit ins Boot genommen und an Land willkommen sind, zeigt sich, dass Geduld, Hoffnung und Trost alle Bedrängnis verdrängen können. Wenn sie Zuflucht an Bord, unter Deck und bald auch unter Dächern finden. Wenn Rettungsdecken sie zwar selten weiß, aber oft goldfarben kleiden, vor Sonne schützen und gegen Kälte wärmen. Wenn sie allmählich, ganz allmählich zu spüren bekommen, dass es da Menschen aus allen Nationen, Stämmen und Völkern, Menschen aller Sprachen gibt, die helfen, Hunger und Durst zu stillen. Die für Frischwassertanks sorgen und für eine Portion Geborgenheit. Deren menschlichen Hände Gott anleitet, um Tränen abzuwischen von ihren Augen.
- * Die Anführungszeichen wurden redaktionell hinzugefügt.