Die Schönheit der Brüche - Predigt zu Hebr 4,14-16 von Felix Stütz
4,14-16

Meine Tasse
Ich habe eine Lieblingstasse. Ihr Rand ist optimal abgerundet und sie hat die perfekte Dicke. Die Tasse sieht schon ein bisschen gebraucht aus, aber genau das mag ich. Teilweise nehme ich sie mit auf Reisen und packe sie sorgsam ein. Ich liebe den schwarzen Henkel und wie sie in der Hand liegt. Der Kaffee schmeckt einfach am besten aus ihr. Aber letztens ist sie mir runtergefallen. Gott sei Dank ist sie nicht in tausend Teile zersplittert. Man kann sie wieder kleben. Aber kaputt ist sie nun erstmal.
Erinnerst du dich an die letzte Tasse, die dir runtergefallen ist? Zack, Klirrr und die Scherben liegen am Boden. Am schlimmsten finde ich das Gefühl, wenn die Tasse gerade den Händen entglitten ist und man sie aber nicht mehr eingefangen bekommt und die Scherben schon vorausahnt. 

Die Begegnung im Café
Letztens berichtete mir eine Freundin im Café, dass sie eine schlechte Zeit hatte. Es ging ihr nicht gut. Sie fühlte sich kraftlos, erschöpft, ausgelaugt und deprimiert. Sie verspürte keinen Antrieb. Es war etwas Schlimmes passiert und so allein, kam sie da nicht raus. Es waren harte Wochen. Sie kam schwer aus dem Bett und konnte abends kaum einschlafen. Die Gedanken kreisten nur so im Kopf. Sie flogen im Schädel umher, wie ein Kettenkarussell, das sich dreht. Alles drehte sich, drückte nach außen. Sie kam nicht zur Ruhe, aber kam auch nicht vorwärts. Rasender Stillstand. Komplettes Durcheinander.

Kaputtes Zeug
Manchmal zerbricht etwas. Eine Tasse. Manchmal aber auch etwas in uns oder an uns. Das Leben wird gelebt und hin und wieder gibt es die Momente, in denen man schon spürt, irgendetwas geht gleich zu Bruch und ungleich später kracht es. Zum menschlichen Leben gehört so viel dazu – und leider auch die Schwäche, mit der zumindest ich immer wieder hadere. 

Meine Freundin im Café
Nun aber saß meine Freundin inmitten des Cafés mit ihrem Flat White in der Hand und sagte, mittlerweile ginge es ihr wieder besser. Sie saß mir gegenüber und konnte sogar wieder lachen. Die Mundwinkel zogen sich nicht mehr so nach unten und der Blick war tatsächlich nicht mehr getrübt. Ja, sie konnte sich aufraffen, sich mit mir im Café zu verabreden. Da saß sie mir nun gegenüber, sprach von dem Auslöser ihrer schlimmen Zeit und den Folgen. Sie sprach auch irgendwann von Gott und Jesus. Er hat ihr geholfen, hat ihr Kraft gegeben. So schlimm war es gar nicht, resümiert sie.

„Wisch-und-Weg-Mentalität“
Etwas verdattert bin ich aus dieser Begegnung gegangen. „So schlimm war es gar nicht...“ Wirklich? Diese Aussage, dieses Fazit nach so einer Horrorzeit hing mir dann noch einige Zeit nach. „So schlimm war es gar nicht...“ Der Bericht von ihr legte eigentlich anderes nahe. Es war schrecklich, miserabel. Ich war traurig, als ich hörte, wie es ihr vor wenigen Wochen noch ging. Natürlich freue ich mich, dass Gott ihr durch diese Zeit geholfen hat. Aber diese „Einmal-Wisch-und-Weg-Mentalität“ ließ mich etwas stocken.

Jesus, der schwache Mann von Nazareth
Es gibt Schwachheit. Es gibt Leid. Es gibt Brüche in unserem Leben. Es gibt Dinge, die kann man nur schwer schönreden. Und ich selbst hadere damit umzugehen. Schwachheit? Wer braucht das? Warum bin ich schwach? Es ist und bleibt auch eine Realität, die in den biblischen Schriften vorkommt. Jesus, der versucht worden ist. Jesus, dieser Mann von Nazareth, der ebenfalls mit Schwäche zu tun hatte. Auf dem Weg nach Golgatha plagten ihn vermutlich Brandblasen und Schnupfen, schlaflose Nächte und nervende Jünger, verdorbenes Essen und Mücken am See Genezareth. In Wirklichkeit erlitt dieser Jesus dieselbe Welt wie wir. Am Ende wurde er sogar noch von den eigenen Freunden verraten und verlassen. Es ist wie die Tasse, der man beim Runterfallen und Zerbrechen zusieht. Klirrende Scherben am Boden. Ungefähr so sieht es auch bei Jesus am Ende seiner Heldenreise aus.
Die biblischen Texte beschönigen oder verklären nichts. Sie stellen dar, was zum christlichen Glauben gehört und womit dieser Glaube zu tun hat – und das ist auch die Schwachheit, das sind die Brüche und Risse des menschlichen Lebens. Die biblischen Texte erkennen unsere Lebensrealität an. Und sie rechnen mit Gottes Wirklichkeit, sie stellen unsere Lebensrealität geradezu in ein neues Licht. Zugleich ist der Stoff, aus dem sie gemacht sind, dieses Leben mit allen Härten und Widrigkeiten, Freuden, dem Glück und dem Leid.

Meine zerbrochene Tasse
Meine zerbrochene Tasse kann ich wiederverwenden. Der Bruch war ja nicht groß und ich konnte sie kleben. Ähnliches macht man bis heute in Japan. Kintsugi heißt dort eine spezielle Repariermethode. Dabei wird Lack mit Gold- oder Silberpulver vermischt und für die Reparatur genutzt. Die Keramiktassen können dann wieder für die Teezeremonie verwendet werden und erhalten eine einmalige Optik. Statt die Schäden zu verdecken oder zu verstecken, werden sie hervorgehoben. Kintsugi wurde von japanischen Teemeistern begründet, die im 16. Jahrhundert die Einfachheit hervorheben wollten. Dabei haben sie ganz eigene ästhetische Prinzipien entwickelt. Es ging ihnen nicht um Prunk und Protz. Als Gegenbewegung dazu, wollten sie vielmehr die Dinge lange nutzen. Außerdem steht die Fehlerhaftigkeit des Lebens im Vordergrund, das symbolisch an den Tassen mit den vergoldeten Rissen sichtbar wird. In Kintsugi geht es nicht allein um Nachhaltigkeit. Im Vordergrund steht ein ganz eigener Umgang mit dem Leben, welches so viele Facetten hat und zwischen Höhen und Tiefen, Hoffnung und Melancholie, Schwachheit, Trotzkraft, Stärke und Mut changiert. Für die Teemeister sind die Brüche kein Makel, sie sind aber auch nichts, wessen man sich nun rühmen oder besonders stolz sein muss. Sie sind eine Gelegenheit, Goldpulver mit Lack zu vermischen und eine Tasse herzustellen, die es so nur einmal gibt.

Kintsugi als Rettung
Kintsugi ist vielleicht meine Rettung. Denn nach wie vor ist es mir ein ungelöstes Rätsel, wie ein angemessener Umgang mit der Situation meiner Freundin aussieht. Mir erschien es, als hätte sie im Nachhinein jeglichen Bruch weggeredet. Und ich musste auch feststellen, dass ich Schwachheit ebenfalls kaum aushalte. Ich will stark sein, mutig, heldenhaft, besonnen, standhaft. Mein Leben habe ich doch im Griff. Aber allzu oft bin ich zerbrechlich, niedergeschlagen, kaputt oder gar zerbrochen. Dann sehe ich die Einzelteile meiner selbst vor mir liegen. Was ich dann hier heute im Hebräerbrief lese, hilft mir. Es hilft mir, diese Lebensrealität anzuerkennen. Statt einer „Wisch-und-Weg-Mentalität“ begegne ich dort Worten, die mir Trost spenden. Jesus war einfach auch Mensch. War auch schwach und zerbrechlich, wie ich.
Mein Glaube an diesen Jesus als Gottessohn hat einen Anker im Himmel und bewährt sich auf Erden. Mein Glaube ist der Lack, der mit Goldpulver vermischt ist und die zerbrochenen Teile als solche belässt und zu einem Ganzen zusammenfügt. Ich zerbreche immer wieder, aber dieser Glaube gibt mir die Hoffnung, dass ich irgendwann heil werde. Dieses fremde Wort ‚Heil‘ trägt die Theologie mit sich und meint damit, dass irgendwann alle goldverklebten Tassen in einem Schrank stehen, aus dem sie nicht mehr fallen und zu Bruch gehen.

Jetzt aber
Jetzt aber lebe ich noch inmitten einer Welt, in der gerade so vieles zu Bruch geht. Doch mein Glaube fordert mich auf, fordert mich heraus, auch hier angesichts all dieser Brüche die Wirkung des mit Goldpulver vermischten Lacks anzuerkennen. Deshalb stelle ich mir die Frage, wo sich Himmel und Erde heute berühren? Wo ist dieser Thron der Gnade, von dem im Bibeltext die Rede ist? Meine Antwort: Hier. Himmel und Erde berühren sich heute und hier. In diesem Gottesdienst. Wir versammeln uns vor dem Thron der Gnade. Im Gottesdienst vergewissern wir uns, dass Jesus der Gottessohn, der schwache Mann von Nazareth, der Hohepriester ist und für uns einsteht. Dieser zerbrochene Mann am Kreuz ist heil geworden und er ist unser Heil geworden. Die Fastenzeit ist die Möglichkeit, in diese Wirklichkeit einzutreten. Es liegen sieben Wochen vor uns, in der wir den Weg des schwachen Jesus mitgehen können. Es liegen zugleich sieben Wochen vor uns, in der wir die Hoffnung erproben können, dass Brüche verklebt werden. Es gibt eine ganz eigene Schönheit dieser Tassen. An ihnen wird sichtbar, dass wir Gott nicht los sind.
Darum lasst uns freimütig hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden und so Hilfe erfahren zur rechten Zeit.
Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Felix Stütz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt wurde vor dem Hintergrund ausgearbeitet, dass dort eine Stadtgemeinde versammelt ist. Die Gemeinde setzt sich mitunter aus Familie, teils Studierenden und Azubis zusammen. Es sind dort Menschen versammelt, die Umbruchsituationen und Brüche im Leben kennen. 
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt? 
Als ich von Kintsugi erfuhr, war ich sehr dankbar. Ich kannte diese Methode eigentlich, aber eine Freundin wies mich in Vorbereitung auf die Predigt nochmal darauf hin. Mir half dies, den Umgang mit Brüchen, Schwachheit und dergleichen konstruktiv aufzugreifen. Außerdem gefallen mir diese Tassen wirklich gut.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Glauben hat es mit einem Jesus zu tun, der Schwachheit kennt. 

Perikope
09.03.2025
4,14-16