Gott im Glauben vertrauen und das Leben gewinnen! - Predigt zu Hebr 10,32-39 von Winfried Klotz
Hebräer 10,32-39 aus der Gute Nachricht Bibel
32Erinnert euch doch an die Zeiten, als ihr gerade mit dem göttlichen Licht erleuchtet worden wart und dann sogleich einen harten, leidvollen Kampf durchstehen musstet! 33Die einen wurden öffentlich beleidigt und misshandelt, die andern standen denen treu zur Seite, die dies ertragen mussten. 34Ihr habt mit den Gefangenen gelitten, und wenn euch euer Eigentum weggenommen wurde, habt ihr das mit Freude ertragen; denn ihr wusstet, dass ihr einen viel besseren Besitz habt, der euch nicht genommen werden kann. 35Werft nur jetzt eure Zuversicht nicht weg, die doch so reich belohnt werden soll! 36Ihr braucht Kraft zum Durchhalten, damit ihr weiterhin tut, was Gott von euch will, und so auch bekommt, was er versprochen hat. 37Es heißt ja in den Heiligen Schriften: »Noch eine kurze, ganz kurze Zeit, dann kommt der, den Gott angekündigt hat. Er wird sich nicht verspäten. 38Wer mir im Glauben vertraut und das Rechte tut, wird durch sein Vertrauen am Leben bleiben. Wer aber mutlos aufgibt, mit dem will ich nichts zu tun haben.« 39Wir gehören doch nicht zu den Menschen, die den Mut verlieren und deshalb zugrunde gehen! Vielmehr gehören wir zu denen, die Gott im Glauben vertrauen und das Leben gewinnen.
„Gott im Glauben vertrauen und das Leben gewinnen“, das ist eine passende Überschrift über diesen Abschnitt aus dem Hebräerbrief. Darum geht es dem Verfasser, wenn er erinnernd und ermahnend der Gemeinde schreibt.
Schwere Zeiten liegen hinter ihnen, aber ihre jetzige Lage ist noch schlimmer als damals, als sie beleidigt und misshandelt wurden, als man ihnen Hab und Gut nahm. Damals haben sie die Bedrängnis angenommen und gemeinsam getragen; damals ist ihr Vertrauen zu Jesus trotz Verfolgung gewachsen. Das Licht, das ihnen im Glauben geschenkt worden war, wurde in der Verfolgung nicht dunkler.
So war das damals; jetzt aber, Jahre später, sind viele der ersten Generation schon verstorben. Jetzt sind Zweifel aufgestanden, haben die Spötter vielleicht recht, die die Hoffnung auf das Kommen Jesu verlästern? Jetzt gehen manche ihre eigenen Wege, kommen nicht mehr zu den Versammlungen der Gemeinde, jetzt liegt eine sonderbare, schwer zu erklärende Lähmung auf der Gemeinde. Stirbt die Gemeinde?
Geht es uns heute nicht ähnlich? Nicht nur, dass die säkularen Medien nach meinem Eindruck mit Befriedigung das Schwinden von Kirche und Gemeinden besingen, müssen wir nicht selbst zugeben, wie instabil die Gemeinden sind? Ich erlebe als Ruhestandspfarrer, dass da und dort nur wenige zum Gottesdienst kommen; ich höre von Gottesdiensten, die ausfallen müssen, weil niemand aus der örtlichen Gemeinde mitfeiert. Ich lese in der Zeitung von hohen Austrittszahlen. Inzwischen gibt es in Deutschland mehr Menschen, die nicht kirchlich gebunden sind als Mitglieder. „Wie stabil ist die Kirche?“, so stand über großen Untersuchungen zum Zustand der Kirchen. Nach meiner Erinnerung hielt man sie für insgesamt noch stabil. Ja, die Kirche als Institution wird zuverlässig verwaltet, wenn auch sehr bürokratisch, aber das ist ein Zug unserer zur Perfektion strebenden Zeit. Aber wie ist der Glaubensstand der Gemeindeglieder? Darf man das überhaupt fragen? Als ich ins Pfarramt kam war es unüblich, oder schärfer, verpönt danach zu fragen. Erfolgreiches Theologiestudium, erfolgreiche praktische Ausbildung, Bereitschaft, die Verpflichtung bei der Ordination einzugehen, das genügte. Dass ein Propst je mit mir über meinen Glauben gesprochen hätte, ich erinnere mich nicht!
Was ist los mit Kirche und Gemeinden? Sind wir an einem toten Punkt angelangt- oder vielleicht schon drüber hinaus? Ein toter Punkt ist nicht ohne Hoffnung; ein Darüber-Hinaus schon. Ein Darüber-Hinaus bedeutet: ich verlasse die Gemeinde beim nächsten Anlass! Was da Sache ist, brauche ich nicht, interessiert mich nicht, finde ich ärgerlich und aus der Zeit gefallen. Die zentrifugalen Kräfte sind weit stärker als die Bindung. Stellt sich die Frage: Bindung an was? Hier sehe ich eine große Unklarheit: welche Möglichkeit zur Bindung bieten wir?
Es existiert immer noch das Traditionsmodell, zusammengefasst unter dem Stichwort „Volkskirche“. Getauft, konfirmiert, kirchlich getraut und irgendwann beerdigt, begleitet an den Übergängen. Wir wissen, das funktioniert immer weniger; wenige Taufen, wenige Konfirmanden, wenige kirchliche Trauungen. „Traditionsabbruch!“ Sich auf dieses volkskirchliche Modell zu verlassen war schon immer eine Sünde gegen das Evangelium! Denn das Evangelium ruft zum Glauben an Jesus den Christus. Gott im Glauben an Jesus vertrauen und das Leben gewinnen, das ist Kernpunkt. Das ist Basis und Aufgabe! Das Vertrauen auf Gott, weil er im Kommen Jesu uns seine große Güte gezeigt hat, uns die Verbindung zu IHM schenkt, das ist unsere Kraft; das zu bezeugen ist unsere Aufgabe. Wir leben den Glauben, wir legen Zeugnis davon ab, dass Jesus heute in unserem Leben Kraft der Versöhnung mit Gott und den Menschen, Grund der Hoffnung, Halt im Leben und Sterben ist.
In unserem biblischen Wort wird die Gemeinde an ihre Anfänge erinnert, an die Zeit, als durch den Glauben Gottes Licht in ihr Leben kam. Auf was schauen wir zurück, wenn wir nach dem Glauben fragen? Auf traditionelle christliche Erziehung, die 10 Gebote und das Gebot der Nächstenliebe oder auf eine Vertrauensbeziehung zu Gott durch Jesus, die uns Freiheit zum Leben gegeben hat und in Krisen Mut und Geduld! Wenn unser Predigtwort sagt: „Werft nur jetzt eure Zuversicht nicht weg, die doch so reich belohnt werden soll!“, verweist es nicht auf christliche Traditionen, sondern erinnert daran, dass allen, die auf Jesus vertrauen, ein freier, zuversichtlicher Zugang zu Gott geschenkt ist. Ganz im Sinne von Hebr. 4,16, wo es heißt: „Lasst uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit.“ Das ist doch die Dynamik des Glaubens, dass wir täglich vertrauend beten können und wissen, ER hört mein Gebet; dass in uns ein Lob Gottes ersteht, manchmal trotz äußerer Bedrängnis, dass wir uns in seine guten Hände loslassen und damit Sorge und Angst überwinden. Werft eure Zuversicht nicht weg!, mahnt der Hebräerbrief und meint damit nicht etwas Statisches, sondern einen Vorgang; nämlich die Möglichkeit jedes Menschen, dem durch Jesus Bürgerrecht im Himmel geschenkt wurde, frei und offen und voller Zuversicht seine / ihre Anliegen vor Gott auszusprechen. Du hast Zugang zu Gott, also nutzte ihn! Darin erweist sich christlicher Glaube als Vertrauensbeziehung zu Gott, dass Du tust, was dir durch Jesus Christus ermöglicht wurde. So kommst du zur Gewissheit, so empfängst du einen ersten Lohn. Unser Vers redet vom Lohn; der erste Teil des Lohns ist der Geist Jesu, den du empfängst, indem du frei und mutig vor Gott aussprichst, was dir auf der Seele liegt. Hier wird dir Kraft zum Durchhalten geschenkt, Kraft, den Willen Gottes zu tun und im Vertrauen zu wachsen. So lernst du warten auf Gott, aber auch, wie überraschend Gottes Antwort oft ist. Manchmal meinen wir, Gott käme zu spät; wir legen einen Zeitplan fest und sind enttäuscht, ärgerlich, verbittert, wenn Gott ihn nicht einhält. Wir vertrauen Gottes Liebe nicht. Aber so nahe Gott uns in Jesus ist, so unbegreiflich bleibt er auch. Es bleibt uns nur, auf Jesus zu schauen und ihm zu vertrauen. So gehen wir voran, wenn auch seufzend und klagend. „Wir gehören doch nicht zu den Menschen, die den Mut verlieren und deshalb zugrunde gehen! Vielmehr gehören wir zu denen, die Gott im Glauben vertrauen und das Leben gewinnen.“ So der letzte Vers unseres Predigtwortes. Ist Christsein wirklich (manchmal) so ein schwerer Weg? Welchen „Vorteil“ bringt es dann zu glauben, wenn wir trotzdem so kämpfen müssen? Und uns dazu noch manchen „irdischen Leckerbissen“ entgehen lassen müssen, weil er nicht zu Jesus passt? Sind wir nicht dumm, wenn wir in der Spur Jesu auf unrechten Gewinn - siehe „cum-ex-Geschäfte“, auf erotische Abenteuer bei ehelicher Langeweile, auf den Verbrauch irdischer Güter wegen des Klimawandels verzichten? Unser Horizont ist ein anderer: Was Gott uns in dieser Zeit gibt, nehmen wir dankbar an und wissen, das Leben, das er uns durch Jesus schenkt, ist größer; es endet nicht, wenn wir am Ende sind! Deshalb: „Wir gehören doch nicht zu den Menschen, die den Mut verlieren und deshalb zugrunde gehen! Vielmehr gehören wir zu denen, die Gott im Glauben vertrauen und das Leben gewinnen.“ Amen.
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Gehorsam lernen - Predigt zu Hebr 5,7-9 von Rainer Stuhlmann
Gottes Sohn hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott die Ehre gab. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, gelernt – er hat Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden. (Hebräer 5,7-9)
„Gehorsam“. Zu diesem Thema hielt der Abt eines Benediktinerklosters einen Vortrag. Als Repräsentant der Evangelischen Kirche am Ort hatte auch ich eine Einladung erhalten. Ich gestehe, dass ich mich ziemlich lustlos auf den Weg gemacht habe. „Gehorsam“? Was für ein abgedrehtes Thema!
Nach bald 50 Jahren im demokratischen Rechtsstaat erschien mir das Prinzip „Befehl und Gehorsam“ eher wie ein Relikt aus fernen Zeiten. Wir schätzen uns glücklich, dass unter uns die Regeln autoritärer Erziehung ebenso wenig Gültigkeit haben wie die eines Obrigkeitsstaates. Selbst beim Militär ist an die Stelle von Gehorsam das Konzept der „Inneren Führung“ getreten. Schon auf dem Weg zu diesem Vortrag formulierte ich in Gedanken für mich ein evangelisches Gegenprogramm mit den Stichworten: Freiheit – Widerspruch – Widerstand.
Unerwartet zog mich aber die anschauliche Erzählung des Abtes in Bann. Zu den Erfahrungen sowohl des jungen Novizen als auch des gereiften Mönches gehörten durchaus Widerspruch und Widerworte. Gehorsam, das war für den Klosterbruder eine immer wieder neue Geburt aus Rebellion und Widerstand. Gehorsam musste er immer wieder neu lernen.
Noch spannender aber wurde sein Vortrag, als er von seinem Gehorsam als Abt erzählte. Ich habe noch seine provokativen Sätze im Ohr: „Der Gehorsam als Abt ist für mich sechzehn Mal schwerer als der Gehorsam als Mönch.“ Sechzehn Mal schwerer? „Die Mönche“, so sagte er, „gehorchen einem Abt. Aber als Abt habe ich in meinem Kloster sechzehn Mönchen zu gehorchen.“
Ich war mehr als verblüfft. Gehorsam nicht gegenüber einer Obrigkeit, nicht gegenüber Papst und Ordensoberen war die ihm gestellte Aufgabe, sondern der Gehorsam gegenüber den Menschen, denen er vorstand, die er zu leiten hatte. In der Regel des Heiligen Benedikt heißt es: „Die Mönche sollen sich in gegenseitigem Gehorsam überbieten.“ Keine Hierarchie. Keine Befehle. Sechzehn Männer sollen einander gehorchen? Ich stelle mir vor, wie schwer es für den Abt ist, sechzehn verschiedenen Persönlichkeiten zu gehorchen.
Sechzehn Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse, verschiedene Wünsche. Wem sollte er gehorchen? Wem nicht? Er musste lernen, was wirklich nötig ist, was einzelne wirklich brauchen. Er musste vorgebrachte Forderungen dechiffrieren. Was dient der Gemeinschaft? Was muss geschehen, dass niemand zu kurz kommt? Da gibt es wechselseitige Widerworte, Widersprüche, Widerstände. Wer hier leiten will, muss gehorchen und widersprechen, nachgeben und widerstehen.
Das also ist der Gehorsam, den Menschen brauchen, um zu leiten, ohne zu herrschen. Unversehens fühlte ich mich ganz persönlich angesprochen in meinen damaligen Leitungsaufgaben. Ich muss also lernen, denen zu gehorchen, denen ich was zu sagen habe.
Gottes Sohn hat „Gehorsam gelernt“, heißt es im Hebräerbrief. Das ist eine einmalige Aussage in der Bibel. Aber sie spricht aus, was zigmal erzählt wird. Ähnlich formuliert Paulus im Philipperbrief: Der Messias Jesus, „entäußerte sich selbst und nahm Sklavengestalt an… Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Philipper 2, 6-8). Der Herr wird Sklave und lernt gehorchen. „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene“ heißt es im Evangelium (Mk 10,45). Wenn Jesus die Sklavenschürze anlegt und seinen Jüngern die Füße wäscht (Joh 13), dann wird überdeutlich: Der Gehorsam Jesu ist nicht ein Gehorsam nach oben, sondern ein Gehorsam nach unten. Es ist der Gehorsam des Herrn gegenüber denen, denen er vorsteht, die er zu führen und zu leiten hat.
Der Gehorsam Jesu ist also nicht der „Kadavergehorsam“, wie Paul Gerhardt ihn als Kind seiner Zeit in seinem berüchtigten Passionslied vom „Lämmlein“, das da „geht und trägt“ geschichtswirksam beschrieben hat (EG 83,3). Wenn er Jesus als serviles willenloses „Lämmlein“ sagen lässt: "Ja, Vater, ja von Herzensgrund, leg auf, ich will dir's tragen, mein Wollen hängt an deinem Mund, mein Wirken ist dein Sagen“.
Es ist genau umgekehrt: Der Herr lernt gehorchen. So wie im Benediktinerkloster: der Vorgesetze gehorcht seinen Untergebenen. Das ist die verkehrte Welt der Herrschaft Gottes. Nach den Regeln dieser verkehrten Welt handelt Jesus. Und davon erzählt er in Gleichnissen: Im Reich Gottes ist es so: Wenn der Sklave müde von der Feldarbeit nach Hause kommt, bindet der Herr sich die Schürze um und bedient seinen Sklaven am bereits für ihn gedeckten Tisch (Lk 17,7-9; 12,37b). Und damit gibt er den Seinen „ein Beispiel“.
Es ist nicht nur ein Beispiel, das Jesus uns gibt. Es ist nicht nur der Mensch Jesus, der große Weisheitslehrer, an dessen Verhalten wir uns ein Beispiel nehmen sollen. Es ist der Sohn Gottes, der lernt. Und wenn Jesus es ist, der für Gott redet und handelt auf Erden, dann steht der Sohn Gottes, Jesus, für einen - Gott, der lernt.
Das war schon in der Antike eine Provokation. Die Regeln der Metaphysik werden durch solches Denken und Reden von Gott zerbrochen. Diese Herausforderung spürt auch die wachsende Zahl der Menschen, deren Glaube auf das „Höhere Wesen“ beschränkt ist, den „Allmächtigen“, den „Himmivatter“.
Ich lasse mich gerne durch dieses Denken und Reden von Gott herausfordern. Ich finde es im Alten und Neuen Testament. Und ohne diese paradoxe Theologie wäre ich längst Atheist.
Wie Jesus, der Repräsentant Gottes, Gehorsam lernt! Wie Jesus z. B. lernt, einer Frau, einer Fremden, einer Andersgläubigen zu gehorchen, deren Wunsch nach Heilung ihrer Tochter er zunächst hartnäckig und hartherzig abgeschlagen hatte. Mir hilft diese Geschichte, meine Erfahrungen mit unerhörten Gebeten zu verarbeiten. Ich füge mich nicht einfach. Ich rechne damit, dass der lebendige Gott, für den Jesus geredet und gehandelt hat, ein lebendiger, ein beweglicher Gott ist.
Mir helfen die Geschichten, die von Gottes Reue erzählen. Wie Gott sich erweichen ließ, das Unheil abzuwenden. Wie Gott sich selbst korrigiert. Wie Gott sich selbst überholt. Solche kühnen Geschichten sind Hoffnungsgeschichten. Medizin gegen die Resignation und Verzweiflung.
Denn viel zu oft machen auch wir die Erfahrung, dass wir „Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den bringen, der aus dem Tod erretten“ kann. Lautes Schreien und Tränen, beides gehört nur gelegentlich zu unseren Gebeten. Und das ist schon schlimm genug. An vielen Orten unserer Erde gehören lautes Schreien und Tränen zur täglichen Erfahrung. Unerhörte Gebete, die Menschen genauso wenig verschmerzen wie Jesus in Gethsemane und am Kreuz.
„Und er ist erhört worden“ fügt der Unbekannte, der den Hebräerbrief geschrieben hat, frech hinzu. Es ist die Frechheit des Osterglaubens. Denn Ostern unterscheidet den einen Sohn Gottes von allen anderen Söhnen und Töchtern Gottes. Für uns ist der Triumph über alles Böse nur Zukunftsmusik. Nur eine Hoffnung. Aber weil der eine seinen Triumph über Tod und Teufel nicht für sich behält, ist unsere Hoffnung begründet.
Der Eine, der auf uns horcht und darum uns und dem, was wir wirklich brauchen, gehorcht, wird so zum „Urheber aller Seligkeit“. Auch in unseren Niederlagen gibt er uns teil an seinem Sieg.
Gehorsam will gelernt sein. Gehorchen ist eine Lernaufgabe. Für Jesus und für uns. Die Kunst des Gehorchens gelingt desto besser, je mehr Erfahrungen wir machen. Der Gehorsam des Abtes ist die jahrelange Frucht des Lernens als Novize, als Mönch und als Abt.
Zum Lernen gehört der Rollenwechsel. Nicht nur im Kloster. In der Weisheit der Märchen kommt häufig der Wechsel der Rollen vor. Eine Königin verkleidet sich als Bettlerin. Vom Palast in die ärmlichen Hütten. Lange Zeit lebt sie unerkannt in den Beschränkungen und Behinderungen eines Bettellebens. Sie lernt am gewählten Leiden. Das Schicksal der Bettler:innen formuliert Befehle an die Königin. Ohne dass die Bettler:innen zu ihr sprechen, hört sie ihre Befehle, denen sie als mächtige Königin gehorchen kann und muss, wenn sie eine gute Königin sein will. Und sie wird eine gute und kluge Königin. Sie kehrt zurück auf ihren Thron und nutzt ihre Macht, Verhältnisse zu ändern. Am Ende ist kein Mensch in ihrem Reich mehr gezwungen, seinen Lebensunterhalt durch Betteln zu finden.
Gehorchen beginnt mit horchen. Horchen lernen ist das erste. Hören. Zuhören. Gesammelte Aufmerksamkeit schenken. Schauen. Hinschauen. Genau hinschauen. Die eigenen Sinne schärfen. Dass ihnen nichts entgeht. Blinder Gehorsam ist hier nicht gefordert. Blinder Gehorsam ist pervers. Gehorsam mit geschärften Sinnen. Das ist zu lernen.
Lernen durch Rollenwechsel, das gibt’s nicht nur im Märchen. In einer TV-Dokumentation werden wir Zeugen, wie der Chef eines Riesenunternehmens unerkannt in einer seiner Filialen sich um einen kleinen Job bewirbt und ihn mit Mühe bekommt. Und mit Mühe wird er den Anforderungen dieses Jobs gerecht. Er spürt schmerzhaft seine Grenzen. Die Grenzen seiner Fähigkeiten und die Grenzen seiner Arbeitsbedingungen. Wichtige Lernerfahrungen.
Nach vielen Monaten kehrt er zurück in seine Chefetage. Er hat gelernt. Er hat Gehorsam gelernt. Auch ohne dass die Arbeitnehmer:innen dem Arbeitgeber Befehle gegeben hätten, er hat auf sie horchen gelernt. Er hat ihnen gehorchen gelernt. Mit geschärften Sinnen hat er sein Unternehmen aus einem neuen Blickwinkel kennen gelernt. Plötzlich änderte sich in allen Filialen so viel zum Guten. Viele wussten nicht, wie ihnen geschah. Am Ende haben alle gewonnen.
Das ist kein Märchen. Das ist unsere Realität. Punktuell kann unsere Realität besser werden. Wenn wir beginnen zu horchen auf die, denen wir zu sagen haben, die wir zu leiten und zu führen haben. Wenn Eltern ihren Kindern gehorchen, Erzieher:innen, Lehrer:innen ihren Schüler:innen, Pflegende ihren Pflegebedürftigen, die Chefin ihren Angestellten, der General seinen Offizieren, der Präsident seinem Volk. Was für eine Aussicht! Die Aussicht auf die Herrschaft Gottes auf Erden. Amen
Anmerkung des Verfassers: Die Predigt fußt auf der Göttinger Predigtmediation für den 26.3.23.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Menschen, die Schwierigkeiten haben mit traditionellen theologischen Aussagen, wie „Wir sollen uns Jesus zum Vorbild nehmen, der Gott bis in den Tod hinein gehorsam war“.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Dass der Text (mal wieder) traditionelle Theologie und kirchliche Praxis auf den Kopf stellt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Horchen auf die, die ich zu leiten habe, und so lernen, ihnen zu gehorchen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Überlegung, aus dem Abt eine Äbtissin, aus dem König eine Königin und/oder aus dem Chef eine Chefin zu machen.
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24.09.23 - 16. So. n. Trinitatis
Gottes Wort ist lebendig - Predigt zu Hebr 4,12-13 von Markus Nietzke
Gottes Wort ist lebendig, stellt zwar Ansprüche und ist trotzdem wirksam und voller Trost.
12 Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. 13 Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.
I Dialog
Die Tür knallt hinter ihm zu. Zornig geht er raus. Raus nach dem Streit. Sie hatte gesagt: „Das sind doch alles nur Worte, nichts als Worte. Wird sich wirklich irgendetwas an deinem Verhalten ändern?“ Eigentlich nur ein kleiner Anlass; aber wieder mal eskalierte das Gespräch – ein Wort hatte das andere nach sich gezogen. Sie waren laut geworden. Beide. Scharfe Worte, die verletzen sollten und es auch taten. Deswegen musste er raus, an die frische Luft. Die dicke Luft hinter sich lassen.
II Worte, nichts als Worte
Es ist so eine Sache mit den Worten – und den daraus folgenden Taten. Zum „Unwort des Jahres 2021“ wurde der Begriff „Pushback“ erklärt. Mit dem Begriff „Pushback“ wird das Zurückdrängen von Flüchtenden an den Grenzen Europas beschönigt, so die Jury. Sie besteht aus Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern der Uni Marburg. Das Problem sei, dass mit dem Ausdruck Gewaltanwendungen oder der Tod als Folgeerscheinung, die mit diesem Zurückdrängen von Frauen und Männern an den Küsten Europas verbunden sein könnten, verschwiegen und verschleiert werden. Nicht nur beim Streit in der Partnerschaft, auch auf größerer Bühne der Gesellschaft entfalten Worte ein unglaubliche Wirkung. Ich denke, mit Gottes Wort ist es auch so: Es will Wirkung in unserem Leben entfalten. Eine Veränderung, wenn nötig. Etwas Positives auslösen.
Wir kommen im Leben schwer ohne Worte zurecht – wir brauchen sie, um uns verständlich zu machen. Als Liebesbezeugung. Als Zuspruch. Als Trost. Aber auch in der Debatte. Bei Auseinandersetzungen. Gegebenenfalls im Streit. Wir sind unentrinnbar auf Worte angewiesen, soll das Zusammenleben in der Partnerschaft, Familie, Gesellschaft und Kirche gelingen oder neu geregelt werden.
III Das Lebendige Wort
„Das Wort Gottes ist lebendig…“, heißt es im Hebräerbrief. „Lebendig“ ist die entscheidende Vokabel, die zum Wort Gottes unabdingbar gehört. Ausgemalt wird dieses „Lebendigsein“ mit Interpretationen: Das Wort Gottes ist anspruchsvoll. Das Wort Gottes ist wirksam. Das Wort Gottes – manchmal nur ein einziger Bibelvers – ist scharf, wie ein Schwert. Dieser eine Satz aus der Bibel durchdringt auf einmal alles. Er kreidet Sachverhalte an. Nichts bleibt in dieser Begegnung mit Gottes Wort verborgen. Beklemmend ist das! Nichts gibt es, das nicht durchs Wort Gottes aufgedeckt wird. Ob es uns passt oder nicht, wir sind – jedenfalls als Christen und Juden – in unserer Frömmigkeit unentrinnbar auf das Wort Gottes angewiesen. Aber das „lebendige“ Wort entfaltet auch positiv seine Wirkung. Viel öfter, als man meint. Ein Bibelwort, voller Trost und Zuversicht – es trägt durch eine Krise, ein Leben lang. Selbst angesichts von Tod und Sterben. Das tut Gottes Wort auch. Zum Glück!
IV Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte
„Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“. Im Bibelwort begegnet uns das Bild vom „zweischneidigen Schwert“. Wie ein scharfes Schwert ist das Wort Gottes. Gut ausgewählt ist die Bildwelt vom Schwert. Es bringt eine Wahrheit treffend zur Sprache. Die Wahrheit, dass Gottes Wort unsere Sinne und Vorstellungswelt prägt und uns eine Unterscheidungskunst aufzeigt.
- Maria und Josef verhielten sich mit dem neugeborenen Jesuskind entsprechend dem, was das Wort Gottes für jüdische Gläubige nach einer Geburt vorsah (Lukas 2,22-35): Das Kind einem Priester im Tempel vorzuzeigen und eine Opfergabe zu bringen. An der Tempelpforte, die „die Schöne“ heißt, kommt es zur Begegnung mit Simeon, einem alten Mann. Ihm ist es vergönnt, noch zu Lebzeiten Jesus als Kind zu erleben. Mit Jesus auf den Armen preist er Gott für diese Wunder und stimmt ein Loblied an. Dann sagt er rätselhafte Worte, vom Zeichen, das in, mit und durch Jesus gesetzt wird und dem widersprochen wird. Zu Maria sagt er: Auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen – damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden. Jahre später erschließt sich Maria dieses Wort des greisen Simeon unter dem Kreuz. Die Frauen, die Jesus nachgefolgt waren – zu denen Maria gehörte – „sahen das alles“ (Lukas 23,49). Wo Worte über den grausamen Tod Jesu am Kreuz von Golgatha fehlten, war die Seele zutiefst berührt.
- Das Wort Gottes hat ganz unmittelbar mit deiner und meiner Sprache zu tun. An Gottes Wort lernen wir die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge; aus dem Evangelium erfahren wir, was notwendig ist. ‚Was unser einziger Trost im Leben und Sterben ist: dass wir mit Leib und Seele, im Leben und Sterben… [dem] getreuen Heiland Jesus Christus gehören‘. Gottes Wort macht klar, was wirklich Sache ist. Jede und jeder versteht, was gemeint ist. Das Evangelium ist die gute Nachricht und frohe Botschaft in einer Welt voller „Fake News“.
- In der Hand eines Kämpfers, eines Kurfürsten und einer Königin hat ein Schwert einen vielfältigen Sinn:
a) Kämpfer müssen nicht zwingend in einen Krieg ziehen, wohl aber sich und andere zu verteidigen wissen. So ist es mit dem Wort Gottes als Schwert. Gott selbst garantiert mit seinem lebendigen Wort die Verteidigung und den Schutz gegen Angriffe des Bösen. Das Wort Gottes dient zur Verteidigung gegen das, was uns den Glauben wegnehmen will. Ich erinnere mich, wie eine Frau im Krankenhaus mich bei einem Besuch bat, ein paar „starke Bibelworte“, wie sie es nannte, in ein Büchlein aufzuschreiben, damit sie sie vor Augen hätte, wenn die Schmerzen durch die Krebserkrankung zu viel zu werden drohten. Ein solches Wort kommt mir in den Sinn: Psalm 38,22-23: „Verlass mich nicht, HERR, mein Gott, sei nicht ferne von mir! Eile, mir beizustehen, HERR, meine Hilfe!“ Merke: Ein Bibelwort kennen, auswendig wissen ist ein wertvoller Schatz für schwierige Zeiten.
b) Wenn einem Kurfürsten meinetwegen im 15. Jahrhundert ein Schwert verliehen wurde, dann als Zeichen der Würde und Ehre, um als Landesherr für den Frieden, den Wohlstand und die Ordnung in seinem Kurfürstentum zu sorgen. Dass er dieses durchsetzen muss, auch gegen Widerstände, daran erinnert das Schwert auch. Aber der eigentliche Auftrag ist: Zu bewahren, zu schützen, zu ordnen, dafür zu sorgen, dass die Bewohner in Frieden leben können. Das Wort Gottes dient dazu, unser Leben zu bewahren, zu schützen und zu befrieden.
c) Mit einem Schwert wird einem Knappen der Ritterschlag verliehen. Das tut bekanntlich nicht weh, sondern ist eine Auszeichnung ganz besonderer Art. Der Ritterschlag ist ein feierlicher Initiationsritus, mit dem ein Mann von einer Königin oder einem anderen Adeligen in den Ritterstand erhoben wurde. Ausgezeichnet, in den Kreis der Ritter aufgenommen, die ihrer Majestät zu Diensten waren, am Hof und ja, auch nötigenfalls in einer Schlacht. Aber es geht hier um genau diesen Moment, wo der Knappe mit der Schwertspitze berührt wird. Ganz sanft, ganz leicht, auf die Schulter wird die scharfe Spitze des Schwertes gelegt und ab diesem Moment gilt nun der Knappe als allseits anerkannter Ritter. Du und ich werden durch diese ganz zarte, sanfte Berührung mit dem Wort Gottes zu Ritterinnen und Rittern geschlagen, geadelt und in den Adelsstand erhoben und könnten hinfort ganz christlich als „Sir“ und „Madam“ angesprochen werden. Gewürdigt durch diese besondere und ganz und gar intensive Berührung durch Gottes Wort. Anerkannt als ebenbürtig, mündig gemacht. Noch mal: Durch die Berührung mit Gottes Wort mündig gemacht. Da verändert sich durch diese sanfte Berührung mit Gottes Wort unser Leben und unser Wortschatz: dass wir unseren Worten, von Gottes Wort angerührt, wieder etwas zutrauen können.
V Der Worte sind genug gewechselt…
„Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehen“ heißt es in Goethes „Faust“. In der Begegnung mit Gottes Wort lässt sich manches klären – aus dem Reden wächst neues, nach vorne hin offenes Tun heran. Aus Glauben und im Glauben. Heute, Morgen und alle Tage.
Vorhin da knallte er die Tür hinter sich zu. Zornig war er rausgegangen. Raus nach dem Streit. Sie hatte gesagt: „Das sind doch alles nur Worte, nichts als Worte. Wird sich wirklich irgendetwas an deinem Verhalten ändern?“ Scharfe Worte waren das, aber klärend; der Sache nach. Er sah es ein. In der frischen Luft hatte sich sein Zorn abgekühlt. Er hatte beim Spazierengehen Zeit gefunden, nachzudenken. Sie hatte ja recht. Sein Verhalten ihr gegenüber war nun wirklich nicht in Ordnung. Der Wortwechsel war notwendig. Klärend. Er kehrt zurück nach Haus. Er wird ihr vorschlagen, sich über den strittigen Punkt gemeinsam beraten zu lassen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich gehe von einem recht gut besuchten Gottesdienst aus, den ein paar jüngere Menschen, einige Menschen zwischen 40 und 65 und Ältere gemeinsam feiern. Einige werden den Gottesdienst digital während des Wochenendes anschauen oder die Predigt als Podcast hören. „Wie relevant ist Gottes Wort für mich?“, könnte eine Ausgangsfrage sein, die die Zuhörenden und Lesenden gelegentlich beschäftigt. Ich will mit der Gemeinde entdecken, welchen Anspruch Gottes Wort an uns stellt. Wie Worte wirken (als Trost, z.B.), erläutere ich in Beispielen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Bildwelt des Schwertes hat mich fasziniert: Aber nicht nur als Kriegs- oder Kampschwert, sondern auch als „Ritterschlag“ o.ä. Dem wollte ich nachgehen und dieses für die Predigt fruchtbar machen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Wort „lebendig“ gehört untrennbar zum Wort Gottes, weil Gott selbst lebendig ist. In der Lebendigkeit liegt die Wirksamkeit des Wortes Gottes – in der Regel lässt sich das im Glauben an einzelnen Bibelversen entdecken. Eingeprägte Bibelworte als Merkverse helfen in Zeiten der Not und Krankheit einen Zuspruch gegen das Vorfindliche zu entdecken.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Das Predigt-Coaching hat mich angespornt, nicht im Allgemeinen zu bleiben, was „Gottes Wort“ heißt, sondern mit konkreten Beispielen aufzuzeigen, was ich damit meine. Ihre Hinweise, wie sie meine Predigt gelesen hat und welche Gefühle sie dabei hatte, zeigte mir eine mögliche Hör-Perspektive der Gottesdienstbesuchenden auf. Das war hilfreich. Ich habe daraufhin drei Abschnitte komplett neu bearbeitet – mit Gewinn für die Predigt.
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Vor dem Zelt - Predigt zu Hebräer 11, 1-2 (8-12. 39-40); 12, 1-3 von Kathrin Oxen
„Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen.
Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, an einen Ort zu ziehen, den er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben empfing auch Sara, die unfruchtbar war, Kraft, Nachkommen hervorzubringen trotz ihres Alters; denn sie hielt den für treu, der es verheißen hatte.
Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist,
und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.“
Nun brauchte er erst einmal ein bisschen frische Luft. Die ganze Nacht hatte er an ihrem Lager gesessen, ihre Hand gehalten und war bei ihr gewesen. Und in den frühen Morgenstunden war er dann ganz allein. Der Weg war zu Ende, den sie beide miteinander gegangen waren. Noch einmal sah er auf ihr stilles Gesicht, so klar und ruhig, wie sie da lag im Dämmer des Zeltes.
Und als er sie ansah, war es, als liefe ihr ganzes Leben noch einmal an ihm vorbei. Sara, die Frau, die sich mit ihm auf den Weg gemacht hatte, damals. Sie beide hatten das große Versprechen gehört, das Gott ihnen gab. Land und Kinder. Dieses Versprechen berührte sie genau dort, wo ihre Wünsche saßen. Denn sie lebten ja in Zelten, immer schon, immer unterwegs. Und sie waren, anders als all die anderen, immer nur zu zweit. Land und Kinder, was für ein Versprechen. Wie ein Glanz legte es sich auf Saras Gesicht und die Jahre ohne Hoffnung waren nicht mehr zu sehen darin.
Aber er erinnerte sich jetzt auch ihr Gesicht, damals, als ihm die Zeit zu lang wurde und er nicht mehr warten mochte, bis sich einstellte, was Gott ihnen versprochen hatte. Als er die jüngere Frau nahm und mit ihr ein Kind zeugte. Sara hatte ihm dazu geraten. Und doch hatte sie das Gesicht abgewandt, als er ihr von der Schwangerschaft berichtete. Ihr Gesicht, voller Schmerz und Scham über ihr Lebensschicksal. Eine unfruchtbare Frau.
Aber Gottes Möglichkeiten waren größer als alles, was sie beide sich vorstellen konnten. Genau erinnerte er sich an Saras Gesicht, so alt und müde von all den Jahren des Wartens und nun erschöpft von der Geburt. Er sah ihr faltiges Gesicht vor sich und daneben die zarte Wange ihres neugeborenen Sohnes. Hier in diesem Zelt war das gewesen, dort, wo sie jetzt lag.
Saras Gesicht über die Jahre und Jahrzehnte, ein Spiegel dessen, was ihm und was ihr widerfahren war. Nun war sie gestorben. Ein gemeinsamer Weg und ein Ende. Als er aus dem Zelt trat, sah er nach oben, wie immer, wenn er aus dem Dämmer und der Enge des Zeltes nach draußen kam. Die Kühle des frühen Morgens und schon der Anflug des neuen Tages. Die Sterne verblassten gerade am Himmel. „Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? So zahlreich sollen deine Nachkommen sein.“ Das hatte Gott versprochen. Und davon war noch nicht viel zu sehen. Immer noch wohnte er in einem Zelt, immer noch war er unterwegs, und jetzt war ihm nur noch ein Sohn geblieben.
Eine Lebensgeschichte, die Geschichte Saras und Abrahams. Wie bei jeder Geschichte, müssen wir uns hineindenken in sie und die schnellen Striche, mit denen sie gezeichnet wird, ausmalen zu einem Bild mit mehr Details. Im Hebräerbrief wird nur mit solchen schnellen Strichen gemalt. Flüchtig wie die Wolken am Himmel ist die „Wolke der Zeugen“, nur Namen werden genannt, schnell nacheinander. Die Geschichten dahinter ballen sich darin zusammen und reißen gleich wieder auseinander. Aber alle diese Geschichten sind miteinander verbunden, haben den gleichen Horizont: Den Glauben.
Und wenn ich die Geschichte dieser Menschen nacherzähle, verstehe ich besser, was Glauben ist: Eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. Denn am Ende steht Abraham vor dem Zelt. Über ihm öffnet sich der Himmel und er sieht die Sterne, jedes Mal, wenn er sein Zelt verlässt. Manchmal funkeln sie hell, wie in der Nacht, als sein Sohn geboren wurde. Manchmal verblassen sie, so wie an diesem Morgen, als Sara gegangen ist für immer. Und immer spürt er: Der Boden unter meinen Füßen, der gehört mir nicht. Und das Kind, das ich habe - von seiner Zukunft weiß ich doch überhaupt nichts.
Glauben heißt, mit einem Versprechen zu leben. Näher oder weiter entfernt davon, dass es sich erfüllt. Und weit entfernt davon, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können. Wir stehen seit über einem Jahr miteinander wie vor dem Zelt und als ob wir Ausschau halten würden, jeden Tag. Wo man früher nur gucken musste, wie das Wetter war, geht es heute um eine ganz andere Wetterlage, um die Wolkenfelder der Pandemie. Gerade ziehen wieder sehr dunkle Wolken auf. Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Und wir können die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen, wir müssen Geduld haben und auch damit rechnen, dass nicht alles so kommt, wie wir es uns wünschen.
So war es bei Sara und Abraham, auch noch, nachdem sich ihr großer Wunschnach einem Kind erfüllt hatte. Sie haben trotzdem nicht alles bekommen, sie „sind gestorben im Glauben und haben die Verheißungen nicht ergriffen, sondern sie nur von ferne gesehen und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind.“ (Hebräer 1,13). Abraham ist aufgestanden und aus dem Zelt gegangen, als Sara gestorben war. Vor dem Zelt hat er die Sterne gesehen, die am Himmel verblassten. Und dann hat er zwei Dinge getan. Er hat ein Grab für Sara gekauft in Machpela bei Hebron. Ein Grab in einem fremden Land. Und das ist das einzige Stück, das ihm von dem versprochenen Land jemals wirklich gehören wird. Danach hat er seinen Knecht losgeschickt, in die alte Heimat, um endlich eine Frau zu suchen für seinen Sohn. Eine Frau und dann vielleicht ein Enkelkind und Leben und Zukunft. Es ist so gekommen. aber dass es so kommen wird, wusste Abraham nicht, als er es tat. Er tat es im Glauben. Und das heißt, mit einem Versprechen zu leben. Näher oder weiter entfernt davon, dass es sich erfüllt. Und weit entfernt davon, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können.
Auch Jesus hatte die Dinge nicht mehr in der Hand, als er nach Jerusalem kam. Je näher er der Stadt kommt, als er auf den Esel steigt für seinen bemerkenswerten Einzug in Jerusalem, liegt vor ihm diese Woche mit all den Begegnungen und Abschieden, den vielen letzten Malen, dem letzten Abendmahl, dem Verrat und dem Verhör, dem Urteil und der Hinrichtung. Eine Woche in engster Gemeinschaft und größter Einsamkeit. Was am nächsten Sonntag sein wird, weiß Jesus nicht. Aber sein Glauben lässt ihn diesen Weg gehen, seine Bereitschaft, ganz aus dem Versprechen Gottes zu leben und weit entfernt davon, die Dinge selbst in die Hand nehmen zu können. So fängt Glauben an. Und so vollendet er sich.
Vor dem Zelt stehen wir. Und erinnern uns, an Sara und Abraham, an Jesus, die Anfänger und Vollender des Glaubens. Über uns Himmel, Wolken und Sterne. In uns eine feste Zuversicht auf das, was wir hoffen. Ein Nicht-Zweifeln an dem, was wir nicht sehen. Nicht matt werden und den Mut nicht sinken lassen. Denn Glauben ist immer weitergehen. Wie nach Hause.
Amen.