Der Predigttext wird im Verlauf des Gottesdienstes gelesen.
I. Trauer und Schmerz
Jeden Tag geht Anna auf den Friedhof.
Ordnet die Blumen auf seinem Grab,
richtet das Foto wieder auf – _
von Frantz, ihrem Verlobten.
Sitzt dort auf der Bank,
in sich versunken, unnahbar,
mit starrem Blick auf das Kreuz.
Hier ruht Frantz Hoffmeister, geboren… gestorben...
Ihr Frantz liegt nicht in diesem Grab.
Im letzten Kriegsjahr wurde er verscharrt
in einem der Massengräber nahe Verdun.
Nur sein Medaillon ist ihr geblieben.
Das Rauschen der Blätter im Frühlingswind – sie hört es nicht.
Eines Tages beobachtet Anna,
wie ein junger Mann am Grab von Frantz steht.
Ganz in Schwarz, mit dem Hut in der Hand.
In sich versunken, unnahbar,
legt er Blumen auf sein Grab.
Steht dort mit starrem Blick auf das Kreuz.
Tag für Tag.
Adrien heißt er.
Franzose - der Erbfeind…
Zwei junge Männer –
Freunde mitten in diesem mörderischen Krieg?
Die Eltern von Frantz Hoffmeister sind in ihrer Trauer um den Sohn
bitter geworden.
Jeder Franzose ist für mich der Mörder meines Sohnes.
Ja, Sie haben recht, antwortet Adrien.
Ich war auch Soldat und ich bin ein Mörder.
II. Ohne Schuld – angeklagt
„Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach:
Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen?
Sie antworteten und sprachen zu ihm:
Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet.
Da sprach Pilatus zu ihnen:
So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz.
Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten.“
Ein Mensch steht vor Gericht, ein Jude.
Angeklagt von den jüdischen Oberpriestern des Tempels:
Wieder so ein Aufrührer,
der das ohnehin schon gebeutelte jüdische Volk
unter den lauernden Augen der römischen Besatzer
in Gefahr bringt.
Den Römern reicht der leiseste Vorwand,
um noch grausamer zuzuschlagen.
Und dann nennt er sich „Gottes Sohn“
und verstößt damit gegen das höchste jüdische Gebot,
nämlich: dass es nur einen Gott gibt, den Gott Israels.
Darin war er nicht der Erste und Einzige.
Sich „Sohn Gottes“ nennen zu lassen,
erfüllte im Römischen Reich aber den Tatbestand des Hochverrats:
Einer „wie Gott“ zu sein, durfte nur einer für sich beanspruchen:
der Kaiser des Römischen Reiches.
Kreuzigen ist die römische Methode,
mit solchen Rebellen abzurechnen.
Was am Ende zur Anklage führte –
heute ist das nicht mehr nachvollziehbar.
Klar ist nur: Nicht die jüdischen Verantwortlichen sind schuld an Jesu Tod.
Dazu hatten sie gar kein Recht und keine Möglichkeiten.
III. Ohne Anklage – schuldig
Anna gelingt es, Vertrauen zu schaffen
und den jungen Franzosen Adrien in das Elternhaus von Frantz einzuführen.
Woher kennen Sie Frantz?
Wie war es, als Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?
War er glücklich?
Denken Sie noch an ihn? – Wie könnte ich ihn vergessen…?!
Adrien beginnt zu erzählen.
Wie sie sich vor dem Krieg in Paris kennengelernt haben,
wie sie im Louvre die Bilder von Edouard Manet bewundert haben,
besonders eines – mit dem Titel: Der Selbstmörder.
Wie Adrien, der begabte Geiger, Frantz beim Violinspiel korrigiert hat,
behutsam, liebevoll, mit zarter Hand.
Es ist, als wäre Frantz wieder nach Hause gekommen…,
sagt die Mutter.
Auch Anna blüht auf.
Schließlich möchte Vater Hoffmeister die Violine seines Sohnes
Adrien gar zum Geschenk machen.
Das Liebste, was er hatte.
Haben Sie keine Angst, uns glücklich zu machen.
Aber Adrien wehrt ab.
Er hält es nicht mehr aus.
Anna gegenüber bricht die Wahrheit aus ihm heraus:
Ich war es, der Frantz getötet hat
In einem Schützengraben hatten sie sich
mit ihren Gewehren gegenübergestanden.
Wenn er wenigstens geschossen hätte,
aber sein Gewehr war nicht geladen.
Die unerträgliche Schuld am Tod von Frantz
hat ihn dazu getrieben,
die Familie Hoffmeister aufzusuchen und um Vergebung zu bitten.
Ich habe gelogen, weil es uns allen guttat.
Anna wendet sich verletzt von ihm ab.
In tiefer Verzweiflung erkennt Adrien,
dass es keine Hoffnung auf Vergebung für ihn gibt,
und kehrt zurück nach Paris.
Was ist Wahrheit?
IV. Gelitten. Unter Pontius Pilatus gekreuzigt.
„Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden
und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.“
Der Evangelist Johannes beschreibt Pilatus mit dickem Weichzeichner:
Als einen maßvollen Richter, der die richtigen Fragen stellt.
Als einen, der Jesus für einen harmlosen Querulanten hält.
Andere Quellen beschreiben Pilatus als brutalen,
kaltschnäuzigen und grausamen Gewaltherrscher.
Ein Autokrat, für den kein Gesetz zu gelten scheint –
wie aktueller er kaum sein kann…
Mit Aufrührern macht er gleich kurzen Prozess oder gar keinen.
Ausgerechnet an seinen Namen erinnern Christinnen und Christen regelmäßig
in ihrem Glaubensbekenntnis: Gelitten. Unter Pontius Pilatus gekreuzigt.
„Was ist schon Wahrheit!“
Ihn interessiert die Frage nicht.
Der Schreibtischtäter mit der weißen Weste
fällt das Todesurteil und lässt es vollstrecken,
aus Lust an der Gewalt,
aus politischem Kalkül,
zur Abschreckung
oder einfach, um diesen lästigen Juden loszuwerden.
Und macht sie alle miteinander lächerlich,
die jüdischen Ankläger, den Juden Jesus, den Gott Israels.
Wahr ist: mit der Schilderung dieses Prozesses in den Evangelien
nahm die katastrophale judenfeindliche Wirkungsgeschichte
ihren Anfang und dauert bis heute an.
Der Evangelist Johannes wollte in der innerjüdischen Auseinandersetzung
um den „Messias“ die Position der Jesus-Jünger stark machen.
Die Schläge, die Jesus trafen, der qualvolle Tod am Kreuz –
sie stehen für die Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden
bis hin zum 7. Oktober 2023 und darüber hinaus.
Kann es sein, dass wir unsere dunklen Seiten
in unser Bild von Juden einschreiben?
Kann es sein, dass Jesus deshalb immer wieder gekreuzigt wird?
V. Noch einmal: Was ist Wahrheit?
Ebenso wenig, wie der willkürliche Despot Pilatus
ein Freund theoretischer Gedankenspiele war,
so wenig war Jesus ein griechischer Philosoph -
als jüdischer Schriftgelehrter und Prediger in der Provinz Judäa
spricht und denkt er auf aramäisch.
Was die Griechen unter „Wahrheit“ verstehen, heißt bei ihm „Gemeinschaftstreue“.
Das ist die Treue dieses unschuldigen Königs der Juden:
„Ich soll die Treue Gottes und seiner Weisung, der Tora, bezeugen.
Wer aus der Treue ist, der hört meine Stimme.“
Dieser Jesus ist ein wahrer „König der Juden“, wie ihn seine Bibel beschreibt:
glaubwürdig und treu gegenüber Gott und seinen Geboten in der Tora,
der für Recht und Gerechtigkeit eintritt.
In Treue steht er für sein jüdisches Volk ein.
Hält die Würde der Menschen hoch, auch derer aus den anderen Völkern,
hat eine besondere Liebe für die, die verfolgt und gedemütigt werden.
Auf ihn ist Verlass, im Leben wie im Tod.
V. Die Treue hört niemals auf
„Frantz“ – ein Film gegen den Krieg.
Darüber, wie die Toten das Leben derer überschatten, die sie liebten.
Wie Überlebende sich nach dem Tod sehnen, weil sie schuldig geworden sind.
Und der Krieg in den Köpfen nicht aufhört.
Wo das Leben nur noch in der Vergangenheit farbig,
die Gegenwart dagegen schwarz – weiß – grau erscheint.
Und doch bahnt sich das Leben zurück in die Zukunft, gibt ihr Farbe.
Ein Film über Lüge und Wahrheit, über Treue und Liebe.
Nach schweren Kämpfen gelingt es Anna, Adrien zu verzeihen.
Dieser französische Soldat ist bis nach Deutschland gekommen,
um um Vergebung zu bitten. Gewähren Sie sie ihm,
so wie Jesus Christus seinen Peinigern vergeben hat.
rät ihr der Pfarrer.
Bei einem Wiedersehen mit Adrien in Paris begreift sie,
dass es in seiner Welt der Schuld
keinen Raum für eine gemeinsame Zukunft gibt.
Durch Adrien konnte sie Frieden machen mit dem Tod ihres Verlobten Frantz
und sich wieder dem Leben zuwenden.
Die Narben bleiben – die Liebe kann Leid und Schuld nicht einfach zudecken.
Und doch gibt es ein Aufstehen aus der Vergangenheit, Neuanfang, Zukunft.
Anna bleibt in Frankreich.
Den Eltern von Frantz verschweigt sie die Wahrheit darüber,
dass Adrien ihren Sohn getötet hat.
In ihren Briefen erzählt sie Geschichten von einem glücklichen Leben mit Adrien in Paris.
In der Regel verurteilt Gott die Lüge, hatte der Pfarrer gesagt,
aber hinter Ihrem Schweigen verbirgt sich eine reine Absicht,
die den Verstoß entschuldigt…
Was würde die Wahrheit bewirken?
Noch mehr Schmerz, noch mehr Tränen…
Wahrheit kann Schuldige kalt und gnadenlos lebenslänglich verurteilen.
Liebe kann sich blumigen Illusionen hingeben.
Die Treue verbindet beide und öffnet Zukunft, neues Leben.
Die Treue zu Gott und den Menschen erfindet wundervolle Geschichten
von Freundschaft unter Erbfeinden,
von gemeinsamem Leben über Grenzen hinweg.
Ja, sie lässt sich dafür demütigen und schlagen und umbringen.
Sie lässt sich begraben und kommt wieder ans Licht.
Am Ende geht Anna in den Louvre,
zu Edouard Manet‘s Bild „Der Selbstmörder“.
Denn: Es gibt mir die Lust zum Leben.
Am Ende hört sie es wieder –
das Rauschen der Blätter im Frühlingswind.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Großstadtgemeinde mit hohem Akademiker-Anteil. Die Aufführung der Johannespassion von J.S.Bach, der der Predigttext zugrunde liegt, steht bevor. Und es ist auffällig, wie wenig Interesse an den Folgen dieser wunderbaren Musik und ihrer vergifteten Botschaft besteht.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Schon lange hat mich der Film „Frantz“ fasziniert und beschäftigt im Blick auf die Frage, was „Wahrheit“ ist, wo sie verletzt und wo sie heilsam wirken kann. Dass sie jedenfalls nie nur akademisch behandelt werden kann, vielmehr dazu führt, für sich selbst Rechenschaft abzulegen - gerade auch im christlich-jüdischen Kontext.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Nach wie vor finde ich es in Übersetzung und dann auch in jüdischer Auslegung spannend, der biblischen Bedeutungsvielfalt zentraler Begriffe nachzugehen und dadurch auf ganz neue Zugänge zu stoßen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Herzlichen Dank an meine Predigtcoach für ihre präzise Wahrnehmung und ihre sehr hilfreichen konkreten Anregungen! Sie hat mich in dem Wagnis bestärkt, den Predigttext mit dem Plot des Films zu verweben, und Vorschläge dazu gemacht, die historischen Anmerkungen zum Text auf der Meta-Ebene zu straffen. Wertvolle Anregungen verdanke ich auch der Predigt zum Text von Susanne Ehrhardt-Rein.