(Lesung geht der Predigt voraus)
Immer wieder darf ich Gespräche mit Trauernden führen, um eine Beerdigung vorzubereiten. In einer Stunde wird ein Leben beschrieben, das gerade zu Ende gegangen ist. Schöne Erinnerungen kommen ans Tageslicht, aber eben auch der tiefe Schmerz, dass das alles nun vorbei ist. Oft genug wird die Frage nach dem Warum gestellt, warum jetzt schon, warum so früh? Der Verlust bestimmt die Gefühle. Viele Tränen fließen bei den Gesprächen.
Da fällt es mir auf, wenn es einmal ganz anders ist. Vor Kurzem war eine solche Situation gar nicht traurig. Ein Bild des gerade Verstorben stand auf dem Tisch, sodass wir beide, die Witwe und ich, es sehen konnten.
Jetzt ist er bei uns und gar nicht gestorben, sagte sie.
Wir wissen doch, wie der Weg ist. Es überrascht uns nicht. Zu keiner Zeit haben wir eine Ahnung, wann und wie es zu Ende geht. Aber dass es kommt, wussten wir. Und glauben an die Zukunft, die Christus uns schenkt.
Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn.
So hat es Paulus einmal in einem Brief an die Gemeinde in Philippi geschrieben. Es geht gar nicht darum, jetzt gerne sterben zu wollen. Sondern um die ewige Zukunft als grundlegenden Inhalt unseres christlichen Glaubens. Das ist unsere Hoffnung in all dem Elend und Leid, in dem Sterben, das so oft unvermittelt und plötzlich Leben beendet.
Worin wir uns sicher alle einig sind ist: Ich möchte leben.
Wenn ich krank werde, steht das auf einmal in Frage.
Und wenn ich sterbe, habe ich verloren.
Mein Leben hat verloren.
Der Tod hat gesiegt.
Er siegt so furchtbar oft.
Ihr erleidet das in euren Familien.
Wir erleben das in unserer Gemeinde.
Der Tod ist aktiv und offenbar gewinnt er immer wieder.
Ganz offenbar im sinnlosen Morden und Sterben.
Wenn einer mit seinem Auto in die Besucher eines Weihnachtsmarktes rast und Menschen in den Tod reißt, wie im Dezember in Magdeburg.
Oder in eine Menschenmenge, die am Rosenmontag in Mannheim auf den Straßen unterwegs war.
Der Tod siegt in den Krankenhäusern und in Kriegsgebieten.
Er siegt in Massen, wenn die Erde bebt wie diese Tage in Südostasien – und Tausende sterben.
Ich gehe davon aus, dass alle Opfer gerne noch gelebt hätten.
Aber sie haben verloren.
Ihr Leben hat verloren.
Bei ihnen hat der Tod gewonnen.
Und er tut es, immer und immer wieder.
Auf unterschiedlichste Arten und Weisen.
Durch Mord, in Kriegen bewusst in Kauf genommen oder gewollt, durch Unfälle. Durch Krankheit.
Manchmal können wir ihn ein wenig hinauszögern, wenn er sich schon einmal angemeldet hat. Aber er wird wiederkommen und dann doch gewinnen.
Die Spannung zwischen dem Bibelvers, dass Sterben ein Gewinn sei, und unserem menschlichen Wunsch nach Leben bleibt bestehen.
Heute kommt sie an einen besonderen Tiefpunkt, an dem sie zu zerreißen droht.
Karfreitag.
Jesus stirbt.
Gottes Sohn verliert den Kampf gegen den Tod.
Seine Freundinnen trauern. Seine Freunde sicher auch, aber die haben sich fast alle zurückgezogen aus Angst, dass es ihnen gehen könnte wie ihrem Herrn und Meister.
Der Karfreitag ist ein Tag der Trauer, die liturgische Farbe ist schwarz, die Farbe des Todes. Aller Glanz und alles Licht des Lebens verlöschen.
Der, der sich so für das Leben anderer eingesetzt hatte, der Kranken und Ausgestoßenen neue Lebensperspektiven geschenkt hatte, der Tote wieder zum Leben erweckt hatte, der stirbt nun selbst.
Gewaltsam. Ausgestoßen. Erniedrigt.
Wie ein Verbrecher bestraft.
Dieser Tag ist im Kirchenjahr fest verankert, bekannt und vertraut. Es werden alle dieses Ereignis kennen.
Alle vier Evangelisten berichten auch ausführlich und sehr ähnlich davon.
Matthäus, Markus und Lukas erzählen so.
Bloß bei Johannes ist vieles anders.
Oft sind es Kleinigkeiten, die er abweichend berichtet.
Aber genau die machen deutlich, dass Johannes das Leiden und Sterben bis zu seinem Tod Jesu nicht nur erzählt. Er deutet es theologisch.
Sein Evangelium hat so etwas wie einen goldenen Faden, der immer wieder aufleuchtet. Jesus kommt auf diese Erde, in sein Eigentum, und er hat einen Weg vor sich. Er ist unterwegs, Menschen zu Kindern Gottes zu machen, zu Erben des Lebens, das nicht mehr bedroht und gefährdet ist, sondern in die ewige Zukunft reicht. Das ist das Ziel seines Weges, das ihn ans Kreuz bringt.
Da stirbt nicht nur ein besonderer Mensch einen grausamen Tod.
Er stirbt so, wie alle Menschen sterben.
Aber er stirbt anders.
Was Johannes erzählt, ist außergewöhnlich.
Sie nahmen Jesus aber, und er trug selber das Kreuz und ging.
Die Frage, ob er nach den Schlägen und der Folter körperlich noch in der Lage war, sein Kreuz zu tragen, interessiert Johannes nicht.
Jesus trägt das Kreuz und geht.
Er ist aktiv, er handelt.
Mögen andere Menschen ihre Macht ausüben und öffentlich zeigen, er ist und bleibt der, der handelt.
Natürlich wird es überdeckt vom dem, was geschieht und für alle sichtbar ist. Da stirbt einer, der gescheitert ist. Da hat einer viel getan und geredet, aber nun hat er doch verloren. Ziemlich übel sogar.
Aber gegen all solchen Augenschein bleibt er souverän.
Er trägt sein Kreuz. Niemand muss es für ihn tun oder ihm dabei helfen.
Er geht. Er wird nicht getragen, gezogen oder geschoben.
Er geht selbständig zum Ort seines Todes.
Und dann wird er mit zwei anderen gekreuzigt, einer links von ihm, einer rechts, er in der Mitte. Wie bei einer Siegerehrung. In der Mitte ist der Gewinner, der die Goldmedaille erhält. Die mittlere Stufe ist höher als die anderen.
Ein solches Bild entsteht vor Augen, wenn Johannes erzählt.
Und dann diese Inschrift an seinem Kreuz in den drei wichtigen Sprachen, hebräisch, latein und griechisch, sodass es jeder lesen kann: Jesus von Nazareth, der König der Juden.
Da wird Pilatus zu einem ungewollten Zeugen der Herrschaft Jesu. Das ist ein echtes Bekenntnis.
Gegen alle Kritik, die natürlich kommt. ‚Du musst das ändern, Pilatus. Da darf nicht stehen, dass er der König der Juden ist, sondern dass er es von sich behauptet hat.‘ Aber Pilatus reagiert knapp und deutlich: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
So denken und reden Menschen ja immer wieder.
Ich habe mein Urteil über andere und das bleibt.
Ich lasse mich nicht bewegen.
Und dann sind Leute festgelegt und festgeschrieben.
Bürgergeldempfänger sind faul.
Muslime sind kriminell.
Flüchtlinge sind Schmarotzer.
Johannes erzählt auch von solchen Leuten, als eine Frau beim Ehebruch erwischt wird und gesteinigt werden soll.
Sie bringen sie zu Jesus und fragen nach seinem Urteil, das für sie aber ja klar ist. Die Frau ist festgelegt auf ihr gescheitertes Leben.
Jesus schreibt in den Sand.
Und auf einmal gehen alle Ankläger weg.
Menschliche Urteile und Festschreibungen enden bei ihm.
Die Frau ist frei und darf leben.
Wieder hat jemand etwas geschrieben.
Und welcher Einwand auch immer, welcher Protest sich da erhebt.
Jesus sagt: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.
Wenn er deinen Namen ins Buch des Lebens geschrieben hat, dann steht der da.
Bis zum Schluss.
Bis zum bitteren Ende, bis zum Tod.
Für die Ewigkeit.
Niemand ändert das.
Niemand löscht den aus.
Was immer einer tut.
Wie wenig sich jemand wert fühlt,
was immer andere ihm vorwerfen.
Was immer dagegen spricht an eigenen Taten, an persönlichen Befürchtungen, an fremden Einwänden: Der Name steht im Buch des Lebens.
Und da bleibt er.
Denn was Jesus geschrieben hat, das hat er geschrieben.
Ein für allemal.
Die Zuwendung zu den Menschen und seine Fürsorge enden im brutalen Leiden am Kreuz nicht.
Sie sind und bleiben ihm wichtig, die Menschen, die an seiner Seite waren, denen er an der Seite war. Seine Familie, seine Freunde. Sie liegen ihm bis zuletzt am Herzen, und sogar darüber hinaus.
Ihr Wohlergehen hat er im Blick, sogar in den letzten Minuten seines Lebens.
"Frau, siehe, das ist dein Sohn", sagt er zu seiner Mutter.
"Siehe, das ist deine Mutter", sagt er zu dem Jünger, den er liebhatte.
Er ordnet ihr künftiges Leben, bindet sie aneinander und sorgt sich darum, dass es für sie gut weitergehen kann, wenn er nicht mehr da ist.
Das Gespräch mit der Witwe kommt mir wieder in den Sinn. Wie sie mir erzählt, ihr Mann habe alles vorbereitet.
Ein Brief für den Pfarrer zur Traueransprache.
Ein Brief für die Kantorin zur Musik für den Gottesdienst.
Und alle nötigen Informationen für sie, für die Finanzen, für die Wohnung.
Alles überlegt, geklärt, aufgeschrieben.
Damit es für sie gehen kann, wenn er nicht mehr da ist – wo er sich doch um all das immer gekümmert hatte.
Nicht immer geht es so hilfreich. Oft denken Menschen nicht frühzeitig daran, und auf dem Sterbebett ist es dann zu spät. Sie wollen gerne alles noch regeln, aber können nicht mehr. Da reichen die Kräfte nicht mehr. Die werden gebraucht für die letzten Momente auf dieser Erde.
Jesus bleibt souverän und handelt, als ältester Sohn seiner Mutter, als Meister seiner Jünger. Bis zum allerletzten Moment.
Und selbst der ist besonders.
Die letzten Worte, die Johannes aus dem Mund Jesu bezeugt sind: Es ist vollbracht.
Sein Weg ist zu Ende ist und er hat zum Ziel gebracht, worum es ging.
Es klingt wie die Bestätigung seines Auftrages, wie die Bekräftigung seines Sieges, was Jesus in dem Moment ausspricht, als er sein Leben abgibt.
Das ist es dann auch, was Johannes mehr als die anderen Evangelisten ausdrückt: Hier beendet einer das Werk, zu dem er angetreten war, siegreich.
Das wirkt unverständlich. Denn im Moment des Sterbens von einem Sieg zu reden, ist ja wohl abwegig. Wer stirbt, hat verloren.
So denken Menschen und so leben sie auch. Dass sie an den Tod nicht denken wollen, ihn so gut es geht, verdrängen und hinausschieben wollen. Mit Fitnessprogrammen und Schönheitsoperationen, mit Medikamenten und Crémes, bloß das Altern aufzuhalten und wegzuschieben.
Wofür?
Am Ende ist es nicht zu halten, der Tod ist nicht zu besiegen. Jedenfalls nicht von uns.
Aber Johannes sagt etwas anderes: der hier stirbt, hat gewonnen.
Der hat seinen Auftrag erfüllt, zu dem Gott ihn zu uns Menschen gesandt hat.
Nicht nur ist sein Leiden am Kreuz vorbei. Er hat es überstanden.
Sondern die Unausweichlichkeit und Endgültigkeit des Todes über das Leben sind gebrochen.
Jesus erringt den ersten und grundsätzlichen Sieg des Lebens über den Tod.
Das neue, das ewige Leben der Auferstehung siegt.
Weil Jesus am Kreuz stirbt.
Nicht der Verbrecher erhält seine gerechte Strafe, sondern: Es ist vollbracht.
Jesus kann sterben. Mit dem Leben vor Augen.
Wer an ihn glaubt, kann sterben, mit Jesus Christus vor Augen.
Was für eine Aussicht, wenn wir das könnten.
Unsere Zukunft ist das Leben.
Geschenkt, nicht erkauft oder erkämpft, was wir gerne so krampfhaft festhalten wollen und sichern. Dagegen öffnet uns Johannes den Blick, nicht festhalten wollen, was nicht festzuhalten ist. Aber das Geschenk annehmen, dass Jesus uns macht.
Es ist vollbracht. Für uns und unser Leben. Gott sei Dank. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
An Karfreitag ist der Gottesdienst gut besucht, sehr gemischt, weil viele Ältere da sein werden, aus gelebter Frömmigkeit und Tradition. Darunter Menschen, die sich mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen oder in der Nähe Verluste erlitten haben. Dazu kommen die Konfirmanden, die liturgische Teile des Gottesdienstes übernehmen, auch sie kennen den Verlust von Verwandten, Großeltern z.B. Ich erwarte erfahrungsgemäß eine sehr offene und wache Gemeinde, die bewusst da ist und zuhört. Das erleichtert sowohl die Vorarbeit, als auch den Gottesdienst selbst.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mehrere Aspekte spielen eine Rolle; einmal der sehr besondere, prominente Kasus und die Tatsache, dass grundsätzlich alle in der Gemeinde einen Zugang dazu haben. Dann der musikalische Zugang über die Johannespassion von J. S. Bach, auch wenn ich die formulierten Hinweise und Bezüge in der Predigt auf Empfehlung des Coaches gestrichen habe. Aber beim Lesen des Bibeltextes habe ich immer wieder Melodien im Kopf gehabt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Es ist eher die Herausforderung an eigene Lebensgestaltung im Glauben. Das bei allen Niederlagen, die Tod zufügt, von Johannes siegreich erzählt wird. Das führt nicht zur Bagatellisierung oder Verniedlichung, aber zu einer anderen Einordnung. Die Zukunft deutlicher als Hoffnung und Kraft für die Gegenwart zu entdecken und zu pflegen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Wie schon angesprochen unter dem Schlagwort: kill your darlings die Herausnahme aller Hinweise auf die Johannespassion von Bach, auch wenn sie mir persönlich wichtig und hilfreich war. Bilder, die mir etwas sagen, aber der Gemeinde evtl. weniger rausnehmen und aktueller am Leben dran sein. Das habe ich verstanden und zu beherzigen versucht.