Implikationen der Osterbotschaft - Predigt zu Jes 25,6-9 von Matthias Loerbroks
25,6-9

Ein großes Gastmahl, reichhaltiges Essen, guter Wein – das ist nicht nur in der Bibel Inbegriff guten Lebens, Glück für Leib und Seele. Gastgeber ist der Gott Israels und zu Gast sind alle Völker. Alle sind sie gekommen zu diesem Berg, zum Berg Zion, nach Jerusalem. Sie sehen und schmecken, wie freundlich der HERR ist, der Ewige, der Gott Israels.
Bereits zuvor, zu Beginn des Buchs, war davon die Rede, dass die Völker sich aufmachen zu diesem Berg. Sie sind mit ihrem Latein am Ende, sind ratlos. Und obwohl sie sonst in Vielem, in fast Allem zerstritten sind – oder gerade darum –, kommen sie darin überein, dass es gut ist, sich vom Gott Israels Wege weisen zu lassen, weil sie selbst keine Wege sehen, keinen Ausweg – oder nur diesen einen: die Reise nach Jerusalem. Sie kommen zum Zion, um Tora zu lernen, Weisung; sie gehen gemeinsam in die Judenschule. So geht Weisung aus vom Zion in alle Lande, das Wort des HERRN von Jerusalem.
Und nun hören wir: auf diesem Berg gibt es nicht nur was zu lernen, sondern auch was zu essen und zu trinken; und zwar Gutes – die Völker sitzen da nicht zum Zeichen ihrer Umkehrbereitschaft bei Wasser und Brot. Sondern genießen gutes Leben, genießen vielleicht auch die Tischgemeinschaft mit Anderen, auch mit entsetzlich anderen, können nun möglicherweise auch ihnen Gutes abgewinnen.
Und beides, das Lernen und das Festessen, die Mahlgemeinschaft gehören zusammen. Nicht nur weil Lernen ja ein glückhaftes sich Einverleiben sein kann. Sondern vor allem weil der Gott Israels den Völkern in jeder Hinsicht reinen Wein einschenkt. Der aber macht seltsamerweise nicht trunken, der ernüchtert. Dass im Wein Wahrheit steckt, haben schon die alten Römer behauptet. Das stimmt gewiss nicht immer, bei diesem Gelage aber schon. Und diese Wahrheit macht frei.
Während die Gäste gutes Essen und guten Wein genießen, vertilgt der Gastgeber ganz was anderes. Und das klingt weniger schmackhaft. Zweimal hören wir das Wort „verschlingen.“ Er verschlingt den Gesichtsschleier, der alle Völker verschleiert. Die Völker sind verblendet, sind blind, tappen im Dunkeln, blicken nicht durch. Siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker, heißt es an anderer Stelle im Jesajabuch. Doch der Gott Israels, dessen erstes Wort in der Bibel lautet: es werde Licht, will und schafft Aufklärung.
Nun waren es aber gerade die Christen – die Fraktion in fast allen Völkern, die die Osterbotschaft vom Sieg des Lebens feiert –, die jahrhundertelang das Umgekehrte behauptet haben: es sind nicht die Völker, es sind die Juden, die blind sind. Über ihren Augen liegt ein Schleier, über ihrem Gesicht eine Decke, weshalb sie ihre eigene Bibel nicht verstehen. Denn sonst müssten sie doch erkennen, dass Jesus der Christus, der Messias ist. Wir denken an die vielen Kirchenportale, an denen der triumphierenden Kirche eine geknickte Synagoge gegenübersteht, die zum Zeichen ihrer Blindheit eine Augenbinde, einen Gesichtsschleier trägt. Diese falsche Lehre und ihre bildliche Darstellung zeigen, dass die Decke, die den Völkern Sicht und Durchblick nimmt, auch auf den Christen unter ihnen liegt.
Die Osterbotschaft klingt an, wenn wir zum zweiten Mal das Wort „verschlingen“ hören: Er wird den Tod verschlingen auf Dauer. Der Tod, der Allesverschlinger, wird selbst verschlungen. Gott macht kaputt, was uns kaputt macht. Paulus hat dies Wort aufgegriffen in dem Jubelruf, den wir hörten: Der Tod ist verschlungen im Sieg! Und Martin Luther singt es ihm nach: Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. Die Schrift hat verkündet dass, wie ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden. Und wir denken an die vielen Kriege, die Morde in unseren Tagen – die Macht des Todes, seine Zerstörungskraft scheinen ungebrochen. Das Leben siegt? Der Tod – ein Spott, eine lächerliche Figur? Und wir seufzen voll Sehnsucht: Amen, ja, das werde wahr!
Es ist natürlich kein Zufall, dass hier fast zugleich zweimal vom Verschlingen die Rede ist. Denn auch hier gehört beides zusammen: die Enthüllung und Entschleierung, die Aufklärung der Völker und die Vernichtung des Todes. Die Finsternis, die die Völker bedeckt, ist der Schatten des Todes und die Wege, auf denen sie im Dunkeln tappen, sind Wege des Todes, nicht des Lebens. Darum machen sie sich ja auf, um sich Wege weisen zu lassen. Die Osterbotschaft Jesajas wie die des Neuen Testaments ermutigt uns dazu und mutet uns zu, die Irrungen und Wirrungen unseres Lebens und die des Weltgeschehens im Osterlicht zu sehen – und nicht umgekehrt die Osterbotschaft sich verdunkeln zu lassen von der Finsternis, die noch die Völker bedeckt. Nicht an den Tod glauben – so hat der Theologe Ernst Lange die Konsequenzen von Ostern benannt. Das ist ein großes Wort – und ein ungewöhnliches, weil es nicht zum Glauben, sondern zum Unglauben aufruft. Und vielleicht kriegen wir das mit unserem zaghaften und brüchigen Glauben zustande: die Allmacht, die Allgewalt des Todes zu bezweifeln, zu bestreiten?
Im Hebräerbrief (2,14f.) heißt es, Jesus habe mit seinem Tod den Machthaber des Todes, den Teufel, entmachtet, um all die freizubekommen, die durch Furcht vor dem Tod das ganze Leben lang Sklaven waren. Ostern – das ist Befreiung aus der Sklaverei. Gestern ging bei unseren jüdischen Geschwistern das Pessach-Fest zu Ende, das Gedenken an die Befreiung aus Ägypten. Alle vier Evangelien verbinden den Tod und die Auferweckung Jesu mit diesem Fest – und wollen damit diese Ereignisse nicht datieren, sondern interpretieren.
Nicht nur der Gesichtsschleier kommt weg – Gott wird auch die Tränen abwischen von jedem Gesicht. Enthüllung, Aufklärung – das sind gute Sachen, leider höchst aktuell, höchst dringlich, dafür zu arbeiten, zu kämpfen, denn das befreit uns davon, im Dunkeln zu tappen, ohne Durchblick, unmündig hin- und hergetrieben davon, woher und wohin gerade der Zeitgeist weht, und von dem Gebrüll, das sich als Volkes Stimme ausgibt. Es befreit uns auch davon, ein ziel- und damit sinnloses Leben zu leben. Und von der Angst, die uns im Dunkeln befällt, weil da Alles bedrohlich wirkt. Doch das nimmt uns nicht den Kummer, das Leid, den Schmerz. Wenn wir einander die Tränen abwischen, ist das eine liebevolle, eine zärtliche, aber hilflose Geste. Wenn Gott das tut, ist das anders. Er kann wirksam trösten. An anderer Stelle im Jesajabuch hören wir ihn sagen: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der früheren nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Die Auferweckung des Gekreuzigten, der von der bisherigen, der ungerechten, gott-, israel- und menschenfeindlichen Weltordnung zu Tode gequält wurde, ist der Anbruch dieser neuen Welt.
Wenn jener Gesichtsschleier weg ist, dann verschwindet auch die Schmach seines, Gottes Volkes auf der ganzen Erde. Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Mond sicher, schrieb Hannah Arendt, will sagen: nirgendwo auf der ganzen Erde. Die christliche Mission hat ja die Feindschaft gegen Juden unter allen Völkern verbreitet, auch in Ländern, in denen keine oder fast keine Juden leben. Diese Feindschaft, das weltweite Ressentiment gegen Juden, ist Teil der Verblendung der Völker, ist ihr Inbegriff. Die wird Gott verschlingen. Wie den Tod, seinen letzten Feind, und als eines seiner Machtmittel. Dann werden die Völker rückblickend nur mit dem Kopf schütteln können über ihre Irrtümer und Irrlehren und sprechen: und wir hatten geglaubt, die Juden wären von Gott geschlagen und gemartert worden.
Israel hingegen, anders als die Völkerwelt, reibt sich nicht überrascht und auch beschämt die Augen, sondern darf sich bestätigt fühlen und ist darüber erleichtert und froh. Das ist der, auf den wir hofften, so hören wir zweimal, das ist der Ewige, unser Gott. So ist er. Wir haben nicht vergeblich gehofft, uns mit unserer Hoffnung nicht auf Dauer blamiert.
Wir aber hatten gehofft – so hörten wir die beiden Jünger seufzen, die mit Jesus unterwegs waren. Sie scheinen diese Hoffnung begraben zu haben, als Jesus begraben wurde. Leider erfahren wir nichts vom Inhalt der ambulanten Bibelarbeit, die Jesus daraufhin mit ihnen veranstaltet. Doch es klingt nicht so, als habe er ihnen diese Hoffnung als eine völlig falsche ausgeredet. Er wird sie bestätigt haben. Denn nachdem Jesus plötzlich entschwunden war, gestehen sie einander: brannte nicht unser Herz, als er uns auf dem Weg die Schriften aufschloss?
Ein reichhaltiges Mahl – nicht nur für die Völker bei ihrem Gipfeltreffen in Jerusalem, auch für uns, die Hörer und Hörerinnen der Osterbotschaft aus dem Jesajabuch. Sie macht uns darauf aufmerksam, was alles anklingt und mitschwingt in der Osterbotschaft des Neuen Testaments; was wir sagen, wenn wir einander zurufen: der Herr ist wirklich und wahrhaftig auferweckt worden: ein Ende des Todes, des Terrorregimes, das alle versklavt, und zugleich ein Ende aller Verblendung der Völker, allen falschen Bewusstseins – Aufklärung, Aufdeckung, Enthüllung; wirksamer Trost durch Gott selbst; spurloses Verschwinden der Verachtung, der Verächtlichmachung des jüdischen Volkes in aller Welt; Israels Jubel über seine Befreiung.
Christen sind Protestleute gegen den Tod, so hat der schwäbische Pfarrer und religiöse Sozialist Christoph Blumhardt die Konsequenzen von Ostern formuliert. Von Jesaja belehrt fügen wir hinzu: Protestleute auch gegen Antisemitismus.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Loerbroks

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde wird etwas kleiner sein als am Ostersonntag, vielleicht aber nachdenklicher: Menschen, die noch etwas genauer hören wollen, worum es in der Osterbotschaft geht und was sie impliziert.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Natürlich wollte ich nicht behaupten, Jesaja habe bereits Jahrhunderte zuvor die Auferweckung Jesu vorhergesagt. Sondern mithilfe des Textes zeigen, was alles die Osterbotschaft impliziert.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesaja hätte die christliche Irrlehre von der Blindheit Israels und ihre bildliche Darstellung eine Projektion genannt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Obwohl Redundanz in mündlicher Rede ihr Recht hat, hab ich bei der Durchsicht ein paar Wiederholungen beseitigt. Ich hoffe, damit die Predigt nicht nur gestrafft, sondern auch den Zusammenhang jener Osterimplikationen deutlicher gemacht zu haben.

Perikope
21.04.2025
25,6-9