Flügel der Hoffnung - Predigt zu Ps 55,2-8 von Constanze Broelemann
55,2-8

Die Stimme des Meeres
Das Mittelmeer hat viele Stimmen. Es flüstert sanft an Urlaubsstränden, es rauscht majestätisch an felsigen Küsten. Doch es schreit auch – mit einer Stimme, die wir nicht hören wollen. Es schreit mit den Stimmen jener Menschen, die auf überfüllten Booten ihre Hoffnung nach ein bisschen Leben in Frieden tragen. Ihre Schreie klingen wie ein Echo des uralten Psalms: "Mein Herz ängstet sich in meinem Leibe, und Todesfurcht ist auf mich gefallen."
Der Psalmist kannte das Meer wahrscheinlich nicht als unmittelbare physische Bedrohung, wie es alle die abertausenden Menschen kennen, die unermüdlich versuchen auf seeuntauglichen Holz- oder Gummibooten Europa zu erreichen. Wohl aber kannte er das Gefühl, in Todeswassern zu versinken. Er kannte die existenzielle Angst, die den Atem nimmt und das Herz rasen lässt. "O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!" – dieser Ausruf ist zeitlos. Und er verbindet sich mit der Angst in den Seelen all der Menschen, die heute in dunkler Nacht bei Wind und Wellen auf einem schwankenden Boot im Mittelmeer hocken und dieses flehende Gebet gen Himmel schicken.

Die Flügel der Taube
Der Psalmist sehnt sich nach den Flügeln einer Taube, damit er der Not entfliehen kann. Er braucht einen Ort, um Ruhe zu finden. Vielleicht sind die Rettungsschiffe der zivilen Seenotrettung wie diese Taubenflügel. Sie kommen in der Nacht und verkörpern Hoffnung, dass selbst in den dunkelsten Stunden Hilfe nahen kann. Sie tragen die dem Meer hilflos ausgelieferten Menschen fort auf die Decks ihrer Schiffe und geben ihnen ein bisschen Ruhe nach den Zumutungen der Flucht. 
Und nun frage ich Sie, frage ich uns: Wenn wir dem Psalmisten Flügel geben könnten, würden wir es nicht tun? Wenn wir seinem Schrei nach Rettung antworten könnten, würden wir nicht versuchen zu helfen?

Der Blick Gottes
"Gott, höre mein Gebet und verbirg dich nicht vor meinem Flehen." Der Psalmist beginnt mit einer flehentlichen Bitte an Gott, ihn nicht zu übersehen. Diese Bitte spiegelt eine tiefe menschliche Sehnsucht wider: Gott möge die Übersehenen sehen. Die, die am Rand sind, diejenigen, die keine Privilegien haben. Ja, auch die Menschen, die sich todesmutig an der afrikanischen Küste in seeuntaugliche Boote setzen, gehören dazu. Die, die nach Durchquerung von Wüste und Folter versuchen das für sie «gelobte Land» zu erreichen, um dann in den Fluten zu ertrinken oder in Europa unerwünscht zu sein. Die Hoffnung bleibt, dass Gottes Blick auch auf denen ruht, die niemand haben will. 
Wenn wir uns für die Seenotrettung aussprechen, dann nehmen wir diese Hoffnung auf den göttlichen Blick ein. Wir schauen nicht weg! Stattdessen versuchen wir die Würde der Menschen zu bewahren, indem wir sagen: jeder Mensch darf leben! Damit stellen wir uns gegen die Gleichgültigkeit, bei der das Leben von manchen Menschen weniger wert zu sein scheint als das von anderen.

Die Kraft der Hoffnung
Der Psalm endet nicht mit der Flucht. Er geht weiter mit Vertrauen trotz der Umstände. Er endet mit der Zuversicht, dass Gott trägt, auch wenn alles zu versinken droht. Diese Hoffnung ist keine naive Verdrängung der Realität, sondern eine Kraft, die uns bewegt, das Unmögliche zu wagen. Trotzalledem!
Die zivile Seenotrettung ist ein Akt des Widerstands gegen die Gleichgültigkeit. Sie durchquert trotz Gegenwind aus Gesellschaft und Politik die Meere, um Menschen vor dem sicheren Tod zu retten, ein Bekenntnis zu einer Welt, in der jedes Leben zählt.
Wir können beten – nicht als Ersatz für das Handeln, sondern als seine Quelle. Wir können für die Menschen auf der Flucht beten, für die Rettungskräfte. Und wir können für uns selbst beten, dass wir die Kraft finden, nicht gleichgültig zu werden. Wir können in unseren Gemeinden und Kommunen Räume der Gastfreundschaft schaffen.

Die Flügel entfalten
"O hätte ich Flügel wie Tauben" – dieser Wunsch des Psalmisten kann uns inspirieren, selbst zu Flügeln zu werden. Zu Menschen, die andere tragen. Zu einer Gemeinschaft, die schützt und birgt. Zu einer Kirche, die ein Zufluchtsort ist.
Möge Gott uns die Kraft geben, das Richtige zu tun. Möge er uns Ohren schenken, die hören, Augen, die sehen, und Hände, die nicht müde werden zu helfen. Möge er uns Flügel schenken wie Tauben – nicht um zu fliehen, sondern um zu denen zu fliegen, die unsere Hilfe brauchen.

Amen.