I. Auf dem Teppich
Früher lag ich stundenlang auf dem dicken Teppich in unserem Wohnzimmer, vor mir flackerte das grün-blaue Magische Auge unseres Radios. Dunkle Bässe und helle Töne füllten das Zimmer mit Musik, Nachrichten, Ratesendungen und dem Schulfunk. Unser Radio weitete den Raum, ich lag auf unserem Teppich und erkundete ferne Welten in der Südsee, stieg auf den Himalaja und wanderte rund um den Bodensee. Das Radio öffnete die Welt, die ich bisher nicht gesehen hatte. Dann ging es um die Römischen Verträge, der amerikanische Präsident starb im Kugelhagel, Weltraumraketen starteten und die Forschung versprach ein besseres Leben. Ich lag unterdessen gemütlich auf dem Teppich und staunte. Unser Radio orientierte mich. Diskutieren lernte ich vor dem Lautsprecher, dessen Stoffbezug bei tiefen Stimmen heftig vibrierte.
Es war, als würde hier ein Fenster mit einem Fernblick aufgetan, der mindestens bis nach New York reichte, ich sah die Freiheitsstatue. Dabei flackerte das Magische Auge unseres alten Radios geheimnisvoll und die Welt öffnete, dehnte sich.
Die biblische Weisheit – heute hören wir von ihr – versetzt mich zurück auf diesen Teppich. Sie spannt einen Raum auf, setzt den Horizont in weite Ferne, es heißt sogar, sie spiele – wie ein Kind – vor Gott, und ich liege gemütlich warm. Wir hier? Wir bleiben auf unseren harten Bänken sitzen und Weisheit erschafft sich ihren Platz:
„Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege,
ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.
Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her,
im Anfang, ehe die Erde war.“
Das klingt wie eine Reportage von der Erschaffung unserer Erde. Damals lernten wir die Theorie vom Urknall. Diesen Knall sollten wir uns als eine gewaltige Explosion vorstellen, alle Energien würden aufeinandertreffen und zugleich auseinanderfallen, und im nächtlichen Sternenmeer rauscht der Nachhall. So ungefähr lernten wir das. Heute bin ich davon überzeugt, dass die Weisheit in der Bibel aus diesem Urknall berichtet: „Als er die Himmel bereitete, war ich da.“ Und sie sendet uns eine Reportage in der Gott das Chaos liebevoll auseinander sortiert. So öffnet die Weisheit ein Fenster in seine Werkstatt. Und wir sitzen hier, New York zum Greifen nah.
Die Weisheit ist immer da, sie führt uns wieder zu den Frauen am Grab Jesu. Die enge Grabkammer wird für sie zum Resonanzraum, denn es heißt: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Weisheit bringt Weite in unsere Hoffnung, wir atmen die Freiheit, die Gott sich verschafft. Und wieder liege ich auf dem warmen Teppich und spüre, Räume öffnen sich in neuen Dimensionen hinein.
„Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit;
ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“
II. Selber denken
Das gehört auch zu meinen Erinnerungen auf dem Teppich: Die Rede war von Napalm und einem fernen Krieg und mein Radio brachte den Schrecken über brennende Menschen, die um ihr Leben rennen, in mein Leben. Trotzdem gab mir der dicke Teppich ein sicheres Gefühl, doch eine Forderung war klar: Du willst das anders, trägst Verantwortung, denke nach und schweige nicht.
Das war vor vielen Jahren, manche der Radiostimmen habe ich noch im Ohr und die Weisheit flackert wie das Magische Auge des alten Radios:
„Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren,
als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen.
Ehe denn die Berge eingesenkt waren,
vor den Hügeln ward ich geboren,
als er die Erde noch nicht gemacht hatte
noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens.“
Die Weisheit nimmt uns heute mit an die Quellen, führt auf die Berge, an die Strände der Meere, bis an die Grundfeste der Erde. Man kann der Weisheit folgen, wenn die Wasser aus den Quellen sprudeln und die Frucht auf den Schollen des Ackers reift.
III. Langlebig werden
Meine erste Kinderbibel fasste die Schöpfungsgeschichte in einem Bild zusammen. In der Mitte sieht man die ersten Menschen, umgeben von Gottes Werken. Alles auf diesem Bild ist fein säuberlich aufeinander abgestimmt. Ich staunte über Quellen und mächtige Bergkämme, über fette Rinder und satten Ackerboden, der das zarte erste Grün Richtung Sonne schiebt, jeder Regentropfen, der auf den Boden fällt, fügt sich in das Ganze ein. „Wow“, denke ich, Atem stockt, wenn Gott auf den Plan tritt. Wortloses Staunen ist die erste Antwort auf Gott. „Wow“ staune ich über die Schöpfung, „Wow“ ist auch Ostern, „Wow“ ist das leere Grab, „Wow“ ist die Hoffnung auf die zarte Spur, die auf echten Frieden setzt. „Wow“ kommentiert den Urknall und den Glauben. Doch das „Wow“ füllt den Raum nicht aus, es verhallt. Christlicher Glaube braucht eine Art Radioapparat dessen Magisches Auge leicht flackert, dem Glauben Platz verschafft, uns Horizonte weitet.
Die Weisheit öffnet – gerade hier in der Kirche – eine Weitsicht, von der viele Menschen nur träumen können und sie spannt einen Raum aus, in dem unsere Gedankengänge sich frei entfalten. Das Selberdenken beginnt hier:
„Wer mich findet, der findet das Leben und
erlangt Wohlgefallen vom Herrn.
Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben;
alle, die mich hassen, lieben den Tod.“
Meine Zeit vor dem Radio war dann vorbei. Den Teppich habe ich später eingerollt, weich war er noch immer. Wo der heute liegt? Ich weiß es nicht. Das Radio funktioniert hoffentlich noch, das Magische Auge leuchtet irgendwo geheimnisvoll und belebt die Phantasie. „Was ist das?“ fragt eine Kinderstimme. Jemand erklärt das alte Gerät, die großen Tasten, den Lautsprecher über dem der Stoff sichtbar vibriert. Das Kind findet das spannend, drückt kräftig auf Tasten, staunt laut über warme Röhren im Inneren und das ganze „Dings“. Die Weisheit der Bibel gleicht heute so einem alten Radio. Weisheit bringt Gott in satten Tönen zum Klingen und weitet den Kosmos, verschafft sich – selbst im engsten Raum – Platz.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die österliche Freudenzeit hält an und der Aufbruch im Frühling ist jetzt stark. Die Stimmung – gerade jetzt, nach dem Ende der langen Frühlingstrockenheit – sagt: Endlich geht es – auch mit dem Wachsen der Saat – los. Zugleich bleibt eine Grundstimmung, die im Krisenmodus verharren will. Apelle lösen diese Stimmung nicht auf, sie werden vielleicht gehört, aber verrauschen wirkungslos. Die Suche nach neuen, auch erlösenden Gedanken begleitet unsere Gottesdienstgemeinde. Ich höre in vielen bekannten und neuen Variationen die uralte Frage: „Wie geht es jetzt weiter?“ Korrekte Antworten liegen mir nicht auf der Zunge, aber ich entdecke in der Bibel Analogien, ahne, dass man hier profitieren kann.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Weg vom kindlichen „Wow“ zum eigenständig denkenden Erwachsenen ist nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Selber denken ist überall gefragt. Die gründliche Exegese und die praktischen Impulse von Bernd U. Schipper und Antje Roggenkamp (https://www.die-bibel.de/ressourcen/efp/reihe1/jubilate-sprueche-8) haben mir in den Text hineingeholfen und bleiben inspirierend.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
„Der Mensch aber, dem der Segen durch die Weisheit angeboten wird, muss sich zu dieser Offerte verhalten, indem er sich auf den ihm durch die Weisheit vermittelten Segen Gottes einlässt.“ Antje Roggenkamp in den praktischen Impulsen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coachin hat mir den Zugang zu meinen eigenen Gedanken gespiegelt und weiter vertieft, mir zur Konzentration geraten und mich vor schnellen und möglicherweise platten Konkretionen bewahrt. Nun vertraue ich darauf, dass alle, die zuhören, selber denken wollen. Coaching tut gut. Danke.