Selber denken - Predigt zu Spr 8,22-36 von Henning Kiene
I. Auf dem Teppich
Früher lag ich stundenlang auf dem dicken Teppich in unserem Wohnzimmer, vor mir flackerte das grün-blaue Magische Auge unseres Radios. Dunkle Bässe und helle Töne füllten das Zimmer mit Musik, Nachrichten, Ratesendungen und dem Schulfunk. Unser Radio weitete den Raum, ich lag auf unserem Teppich und erkundete ferne Welten in der Südsee, stieg auf den Himalaja und wanderte rund um den Bodensee. Das Radio öffnete die Welt, die ich bisher nicht gesehen hatte. Dann ging es um die Römischen Verträge, der amerikanische Präsident starb im Kugelhagel, Weltraumraketen starteten und die Forschung versprach ein besseres Leben. Ich lag unterdessen gemütlich auf dem Teppich und staunte. Unser Radio orientierte mich. Diskutieren lernte ich vor dem Lautsprecher, dessen Stoffbezug bei tiefen Stimmen heftig vibrierte.
Es war, als würde hier ein Fenster mit einem Fernblick aufgetan, der mindestens bis nach New York reichte, ich sah die Freiheitsstatue. Dabei flackerte das Magische Auge unseres alten Radios geheimnisvoll und die Welt öffnete, dehnte sich.
Die biblische Weisheit – heute hören wir von ihr – versetzt mich zurück auf diesen Teppich. Sie spannt einen Raum auf, setzt den Horizont in weite Ferne, es heißt sogar, sie spiele – wie ein Kind – vor Gott, und ich liege gemütlich warm. Wir hier? Wir bleiben auf unseren harten Bänken sitzen und Weisheit erschafft sich ihren Platz:
„Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege,
ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.
Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her,
im Anfang, ehe die Erde war.“
Das klingt wie eine Reportage von der Erschaffung unserer Erde. Damals lernten wir die Theorie vom Urknall. Diesen Knall sollten wir uns als eine gewaltige Explosion vorstellen, alle Energien würden aufeinandertreffen und zugleich auseinanderfallen, und im nächtlichen Sternenmeer rauscht der Nachhall. So ungefähr lernten wir das. Heute bin ich davon überzeugt, dass die Weisheit in der Bibel aus diesem Urknall berichtet: „Als er die Himmel bereitete, war ich da.“ Und sie sendet uns eine Reportage in der Gott das Chaos liebevoll auseinander sortiert. So öffnet die Weisheit ein Fenster in seine Werkstatt. Und wir sitzen hier, New York zum Greifen nah.
Die Weisheit ist immer da, sie führt uns wieder zu den Frauen am Grab Jesu. Die enge Grabkammer wird für sie zum Resonanzraum, denn es heißt: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Weisheit bringt Weite in unsere Hoffnung, wir atmen die Freiheit, die Gott sich verschafft. Und wieder liege ich auf dem warmen Teppich und spüre, Räume öffnen sich in neuen Dimensionen hinein.
„Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit;
ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“
II. Selber denken
Das gehört auch zu meinen Erinnerungen auf dem Teppich: Die Rede war von Napalm und einem fernen Krieg und mein Radio brachte den Schrecken über brennende Menschen, die um ihr Leben rennen, in mein Leben. Trotzdem gab mir der dicke Teppich ein sicheres Gefühl, doch eine Forderung war klar: Du willst das anders, trägst Verantwortung, denke nach und schweige nicht.
Das war vor vielen Jahren, manche der Radiostimmen habe ich noch im Ohr und die Weisheit flackert wie das Magische Auge des alten Radios:
„Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren,
als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen.
Ehe denn die Berge eingesenkt waren,
vor den Hügeln ward ich geboren,
als er die Erde noch nicht gemacht hatte
noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens.“
Die Weisheit nimmt uns heute mit an die Quellen, führt auf die Berge, an die Strände der Meere, bis an die Grundfeste der Erde. Man kann der Weisheit folgen, wenn die Wasser aus den Quellen sprudeln und die Frucht auf den Schollen des Ackers reift.
III. Langlebig werden
Meine erste Kinderbibel fasste die Schöpfungsgeschichte in einem Bild zusammen. In der Mitte sieht man die ersten Menschen, umgeben von Gottes Werken. Alles auf diesem Bild ist fein säuberlich aufeinander abgestimmt. Ich staunte über Quellen und mächtige Bergkämme, über fette Rinder und satten Ackerboden, der das zarte erste Grün Richtung Sonne schiebt, jeder Regentropfen, der auf den Boden fällt, fügt sich in das Ganze ein. „Wow“, denke ich, Atem stockt, wenn Gott auf den Plan tritt. Wortloses Staunen ist die erste Antwort auf Gott. „Wow“ staune ich über die Schöpfung, „Wow“ ist auch Ostern, „Wow“ ist das leere Grab, „Wow“ ist die Hoffnung auf die zarte Spur, die auf echten Frieden setzt. „Wow“ kommentiert den Urknall und den Glauben. Doch das „Wow“ füllt den Raum nicht aus, es verhallt. Christlicher Glaube braucht eine Art Radioapparat dessen Magisches Auge leicht flackert, dem Glauben Platz verschafft, uns Horizonte weitet.
Die Weisheit öffnet – gerade hier in der Kirche – eine Weitsicht, von der viele Menschen nur träumen können und sie spannt einen Raum aus, in dem unsere Gedankengänge sich frei entfalten. Das Selberdenken beginnt hier:
„Wer mich findet, der findet das Leben und
erlangt Wohlgefallen vom Herrn.
Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben;
alle, die mich hassen, lieben den Tod.“
Meine Zeit vor dem Radio war dann vorbei. Den Teppich habe ich später eingerollt, weich war er noch immer. Wo der heute liegt? Ich weiß es nicht. Das Radio funktioniert hoffentlich noch, das Magische Auge leuchtet irgendwo geheimnisvoll und belebt die Phantasie. „Was ist das?“ fragt eine Kinderstimme. Jemand erklärt das alte Gerät, die großen Tasten, den Lautsprecher über dem der Stoff sichtbar vibriert. Das Kind findet das spannend, drückt kräftig auf Tasten, staunt laut über warme Röhren im Inneren und das ganze „Dings“. Die Weisheit der Bibel gleicht heute so einem alten Radio. Weisheit bringt Gott in satten Tönen zum Klingen und weitet den Kosmos, verschafft sich – selbst im engsten Raum – Platz.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die österliche Freudenzeit hält an und der Aufbruch im Frühling ist jetzt stark. Die Stimmung – gerade jetzt, nach dem Ende der langen Frühlingstrockenheit – sagt: Endlich geht es – auch mit dem Wachsen der Saat – los. Zugleich bleibt eine Grundstimmung, die im Krisenmodus verharren will. Apelle lösen diese Stimmung nicht auf, sie werden vielleicht gehört, aber verrauschen wirkungslos. Die Suche nach neuen, auch erlösenden Gedanken begleitet unsere Gottesdienstgemeinde. Ich höre in vielen bekannten und neuen Variationen die uralte Frage: „Wie geht es jetzt weiter?“ Korrekte Antworten liegen mir nicht auf der Zunge, aber ich entdecke in der Bibel Analogien, ahne, dass man hier profitieren kann.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Weg vom kindlichen „Wow“ zum eigenständig denkenden Erwachsenen ist nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Selber denken ist überall gefragt. Die gründliche Exegese und die praktischen Impulse von Bernd U. Schipper und Antje Roggenkamp (https://www.die-bibel.de/ressourcen/efp/reihe1/jubilate-sprueche-8) haben mir in den Text hineingeholfen und bleiben inspirierend.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
„Der Mensch aber, dem der Segen durch die Weisheit angeboten wird, muss sich zu dieser Offerte verhalten, indem er sich auf den ihm durch die Weisheit vermittelten Segen Gottes einlässt.“ Antje Roggenkamp in den praktischen Impulsen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coachin hat mir den Zugang zu meinen eigenen Gedanken gespiegelt und weiter vertieft, mir zur Konzentration geraten und mich vor schnellen und möglicherweise platten Konkretionen bewahrt. Nun vertraue ich darauf, dass alle, die zuhören, selber denken wollen. Coaching tut gut. Danke.
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Vom Gegenüber zum Mitspieler - Predigt zu Spr 16,9 von Rudolf Rengstorf
Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. (Sprüche 16,9)
Liebe Leserin, lieber Leser!
Am Neujahrstag nehme ich mir immer meinen neuen Kalender vor. Noch sind all seine Seiten blütenweiß. Sie laden dazu ein all das zu notieren, was an Terminen schon feststeht und in Erinnerung gebracht werden will. Zuerst die Geburtstage von Familie, Freunden, guten Bekannten, wobei die runden besonders markiert werden müssen. Wann sind Familienfeiern zu erwarten oder gar auszurichten? Wie sind die Feiertage dieses Jahres verteilt, wie liegen die Schulferien, und wann könnten wir am besten Urlaub machen? Für bestimmte Arbeiten und Aufgaben sind schon Termine gesetzt, die es einzuhalten gilt. Wieviel Zeit benötige ich neben allem anderen für die Vorbereitung? Dann habe ich mir ja auch einiges für das neue Jahr vorgenommen. Zum Beispiel regelmäßig einen Tag zu reservieren, an dem ich mit meiner Frau Bilanz ziehe, Prioritäten überprüfe und gegebenenfalls korrigiere. Wenn ich solche Tage nicht schon jetzt blockiere, wird aus diesem Vorhaben nie etwas.
Zu dieser Arbeit im neuen Kalender passt genau der erste Teil des Wortes aus den Sprüchen Salomos, das der heutigen Predigt zugrunde gelegt werden soll. „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg“. In der Tat, solange das Herz des Menschen schlägt und bei Bewusstsein ist, denkt und plant es über den Augenblick hinaus. Ohne diese Fähigkeit würden wir ziellos von einem in den nächsten Tag hineintaumeln, geschoben und getrieben von dem, was da grade auf uns zukommt. Das Herz denkt voraus und ermöglicht uns damit, das Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten.
Freilich kommt uns dabei oft ein großes Aber in die Quere. Das Aber des „Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt“. Was hat allein die nicht enden wollende Pandemie an Plänen zunichte gemacht! Ein langersehntes Hochzeitsjubiläum musste verschoben werden, bis es ganz ins Wasser fiel. Ein guter todkranker Freund hatte auf seinen letzten runden Geburtstag zu gelebt. Den wollte er als Abschluss seines Lebens in großer Runde feiern. Den Tag erlebte er noch bei vollem Bewusstsein. Doch der Lockdown verhinderte jedes Fest. Und sterben musst er dann ganz allein. Und wieder steht das drohende Vorzeichen der sich immer weiterverändernden Pandemie über einem neuen Jahr. Was auch immer ich in meinem Kalender eintrage, steht unter dem großen Vorbehalt des „Aber“.
Das galt natürlich auch schon zu Zeiten, in denen die Pandemie so gut wie unbekannt war. Überall und immer wieder erleben wir Menschen, dass unsere Pläne durch unvorhersehbare Ereignisse durchkreuzt wurden. Und so fährt unser Predigtwort im zweiten Teil fort mit dem Aber: „Aber der Herr allein lenkt seinen Schritt“. Oder – wie es das Sprichwort sagt: „Der Mensch denkt, aber Gott lenkt.“ Das Aber gehört genauso zum Leben wie das Planen unseres Herzens, keine Frage. Und doch ist da eine Frage, über die ich nicht hinwegkomme: Steckt Gott wirklich hinter dem Aber? Begegnet er dem planenden Herzen als der mächtigere Gegenspieler? Hat er Freude daran, der Spielverderber unseres Lebens zu sein und es darauf anzulegen, dass wir am Ende als die Dummen dastehen? Alles in mir sträubt sich dagegen, mit einem solchen Gott ins neue Jahr zu gehen und Sie dabei auch noch mitnehmen zu sollen.
Deshalb nehme ich mir meine hebräische Bibel vor und schaue nach, was dort genau steht. In der Tat: Es geht los, wie wir es schon gehört haben: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg,“. Doch dann kommt eine Überraschung. Da steht als nächstes ein kleines Wörtchen, das eigentlich nur aus einem Buchstaben besteht. Im Hebräischen steht es so gut wie immer für das einfache „und“. Wenn Luther und andere es als „aber“ übersetzen, wollen sie damit offenbar den Unterschied zwischen den beiden Satzhälften betonen und sagen: Auf der einen Seite geht es um das sich seinen Weg erdenkende Herz, dort aber geht es um Gott, der die Schritte lenkt. Gewiss ist das ein Unterschied. Aber ist hier wirklich ein Gegensatz gemeint, in dem Sinn, dass Mensch und Gott einander gegenüberstehen? Wenn wir anstelle des Aber das Und stehenlassen, heißt es: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, und Gott lenkt seinen Schritt.“ Damit verändert sich das Gottesbild. Ohne das Aber begegnet Gott dem planenden Menschen nicht als Gegenspieler. Mit dem Und tritt er ihm als Mitspieler an die Seite.
Und das ist der Gott, den wir aus der Bibel von Anfang an kennen. Den Menschen hat er zu seinem Ebenbild erschaffen, hat ihn und sie ausgestattet mit der Fähigkeit, sich in ihrer Umwelt zu beheimaten. Abraham und seine Nachkommen hat er erwählt, damit sie zum Segen werden für alle Welt. Sein Volk hat er aus der Sklaverei befreit und ihm durch Mose und die Propheten seinen Willen nahegebracht. Die Psalmen singen von ihm als dem Gott, der Menschen krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, der Sünden vergibt und die Gefallenen wieder aufrichtet.
Er ist der Gott, der mit uns in das neue Jahr geht. Wir machen Pläne. Er hat diese Fähigkeit in uns angelegt und freut sich daran, wenn diese Pläne nicht nur vom Kopf, sondern mit dem Herzen gemacht werden. Denn das Herz achtet darauf, dass die Menschen, mit denen ich es zu tun habe, zu ihrem Recht kommen. Und Gott lenkt meinen Schritt. Ganz wörtlich steht da: „Er macht meinen Schritt grade.“ Er lässt mich aufrecht gehen und klar nach vorne sehen. Er bewahrt mich davor, ins Taumeln zu geraten und mich treiben und schieben zu lassen von dem, was da gerade auf mich zukommt. Gott sei Dank weiß ich, wohin ich will; zielsicher kann ich meinen Weg gehen. Und er hilft mir auf die Beine, wenn mir wieder das große Aber einen Strich durch meine Pläne macht. Dann heißt es von seiner Seite nicht: Damit musst du dich halt abfinden, denn ich habe es anders gewollt.
Nein, mit dem Unglück und dem, was uns Menschen schadet, steckt Gott nie unter einer Decke. Wenn Pläne sich zerschlagen haben, wenn wir niedergeschlagen und down sind, bekommen wir von ihm zu hören: Komm, steh auf. Ich hab was mit dir vor. Ich trau dir das zu, dass du das Beste aus dieser Misere machst. Ich mache deinen Schritt wieder gerade. Ich höre ihn so gerade auch im Blick über mein persönliches Leben hinaus. Im Blick auf das große Weltgeschehen. Wo wir von allen Seiten umgeben sind von Nöten, die uns überfordern. Die kaum noch aufzuhaltende Klimakatastrophe. Der nicht abreißende Strom von Menschen, die von Krieg, Hunger und Terror vertrieben nach Europa drängen. Die beängstigende Macht von Verschwörungstheorien, die vielen Menschen die Urteils- und Lernfähigkeit nimmt, um nur einiges zu nennen. Da gehen unserem Herzen die plausiblen Pläne aus. Doch Gott an unserer Seite ist nicht am Ende. Er bleibt dabei: Steht auf alle, die ihr mit Israel und Jesus an mich glaubt. Ihr braucht die Welt nicht zu retten. Aber das Rechte tun und sagen in Eurem Umfeld, das könnt ihr. Und damit geht ihr einen Weg, der in meine Zukunft führt. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir steht vor Augen, dass meine Predigt von Menschen gelesen wird, die ich nicht kenne, die offenbar Interesse an einer Predigt für den Neujahrstag haben. Einige von ihnen sind möglicherweise Kolleg:innen, die Anregungen für ihre Neujahrspredigt suchen. Ich hoffe, dass ich ihnen mit dieser Predigt dienen kann, weise allerdings daraufhin, dass Veränderungen fürs Hören vorgenommen werden müssen, vor allem durch Kürzen der längeren Sätze.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Jahresplanung anhand meines neuen Kalenders, die dem ersten Teil des kleinen Textes entspricht.
Ins Stocken geraten bin ich beim Bedenken des zweiten Teils. Und regelrecht beflügelt hat mich dann die Begegnung mit dem hebräischen Urtext mit dem Wechsel vom „aber“ zum „und“ sowie vom „Lenken“ zum „Grademachen“.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Immer von neuem geht es beim Gedanken an Gott – auch und gerade in der Bibel – um den Transfer von oben nach unten. Der Gott im Himmel, der die Geschicke auf Erden lenkt, kommt für den denkenden Menschen nicht in Frage, mögen ihn sprachliche Wendungen auch immer von neuem dorthin katapultieren. Doch bleibt er unverzichtbar als Begleiter der nach ihm Fragenden und als Schrittmacher von Humanität.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Bei der eben angedeuteten Transferarbeit hat meine Erstleserin mich unterstützt. Sie hat mir zu manchen Konkretionen geraten und meinen Stil hier und da verbessert.
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Schöpfung - Predigt zu Sprüche 8,22-36 von Christiane Borchers
Jubilate, jubelt, die Erde ist schön, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch: ein Kunstwerk, empfindsam und verletzlich. Jedes Lebewesen: angewiesen auf Sonnenschein und Regen, den Wechsel von Tag und Nacht, auf die Fruchtbarkeit der Erde. Alle Lebewesen kommen aus demselben Element, dem Wasser. Alles Leben ist im Meer entstanden. Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, Leben steht niemals still, entwickelt sich immer weiter.
Aus der Ferne vernimmt sie zarte Töne,
leicht und behände bewegt sie sich zum Klang der Musik.
die Töne werden stärker,
sie dreht sich schneller, ihre Arme schwingen mit.
Die Musik wird fordernd und laut.
Jetzt fegt sie wie ein Wirbelwind durch die Luft,
sie tanzt mit dem Wind über den Wassern in der Tiefe.
Die Wasser geraten in Bewegung, die Wellen werden groß und mächtig.
Das Wasser beginnt sich zu teilen,
sammelt sich unten im Ozean,
oder oben in Regenwolken am Himmel.
Trockenes Land entsteht, die Erde wird fruchtbar,
das Leben beginnt.
Die Welt entsteht durch ekstatischen Tanz einer Frau, die sich mit dem Wind verbindet. So erklären sich die Griechen in der Antike die Erschaffung der Welt. Seit alters her sinnen Menschen über den Ursprung der Schöpfung nach. Die Schöpfung ist kein Zufall, sie entstammt göttlichem Wirken, so denken die Menschen in der Antike. Das steht für sie außer Frage. In allen Schöpfungsmythen kommt Wasser als das Urelement vor und spielt bei der Erschaffung der Welt eine Rolle. Das Wasser selbst wird nicht geschaffen, es ist vorhanden, ebenso existiert die Dunkelheit, bevor Schöpfung geschieht. Schöpfung entsteht durch Teilung des Wassers. Das Wasser wird geteilt in unten und oben. Das untere Wasser ist das Wasser der Ozeane, es fließt in Flüssen, Bächen und Seen. Das obere Wasser ist der Regen, der vom Himmel auf die Erde fällt. Der Zustand vor der Erschaffung der Welt ist dem Zustand im Mutterschoß ähnlich: Sie ist gestaltlos, bedeckt von Wasser und Dunkelheit. Auch der erste Schöpfungsbericht in der Bibel erzählt, dass zu Anfang nichts ist bis auf Wasser und Dunkelheit.
„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde und die Erde war wüst und leer und es war finster auf der Tiefe und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.“ Gott schafft weder Wasser noch Finsternis, sie sind vorhanden. Das erste, was Gott macht, ist das Licht. Danach teilt er das Wasser in unten und oben, bis trockenes Land sichtbar wird. Die Teilung des Wassers ist Voraussetzung für Leben. Die Teilung des Schilfmeeres kommt mir in den Sinn. Auch hier teilt Gott das Wasser. Die Israeliten laufen trockenen Fußes durch das Meer, die sie verfolgenden Ägypter gehen in den Fluten unter, weil Gott das Wasser wieder schließt.
Gott erschafft die Welt. Bei ihrer Erschaffung ist er nicht allein. Es ist schon jemand da. Diese Gestalt stellt sich im Buch der Sprüche vor: Die Weisheit spricht:
„Gott hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.“ Die Weisheit ist alt. „Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren“, sagt sie von sich. Mir fällt auf: Die Weisheit ist geboren, nicht geschaffen. Gott hat sie also nicht gemacht. „Als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen, war ich da. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren. Als Gott die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens, da war ich schon da. Als Gott die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über die Fluten der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte und die Quellen der Tiefe stark und dem Meer seine Grenze setzte, war ich da.
Die Weisheit ist älter als die Welt, sie ist so alt wie die Urflut. Bereits im ersten Satz des biblischen Schöpfungsberichts ist von ihr die Rede: „…. der Geist Gottes schwebte über den Wassern.“ Der Geist Gottes, der über den Wassern schwebt, ist die Weisheit. Das hebräische Wort für Geist ist Ruach, die Ruach wird mit der Weisheit aus dem biblischen Buch der Sprüche identifiziert. Die Ruach ist wie das Wasser und die Finsternis vor aller Zeit vorhanden. Mit ihrer Hilfe erschafft Gott die Welt. Luther bezeichnet die Weisheit als die Werkmeisterin.
Die Weisheit ist bei Gott, als er dem Wasser seine Grenze setzt und die Grundfesten der Erde legt. Von Gott und der Weisheit wird als von zwei verschiedenen „Personen“ geredet. Sie haben ein vertrautes Verhältnis zueinander, sie ist sein Liebling und spielt vor ihm allezeit. Die Weisheit spielt vor Gott. Das Wort „vor“ kann ich räumlich verstehen: Die Weisheit spielt vor Gott. Ein Bild entsteht bei mir im Kopf: Wie ein Kind spielt die Weisheit auf dem Teppich vor den Füßen seines Großvaters. Der Großvater sitzt gemütlich in seinem Lehnsessel und sieht mit Freude seinem Enkel beim Spiel zu. Die Weisheit spielt. Wir können uns die spielende Weisheit aber auch als erwachsene Frau vorstellen, die einen erotischen Tanz vor ihrem Geliebten aufführt. Die Bibel sagt immerhin, dass sie sein Liebling ist, an der Gott seine Lust hast.
Die Weisheit spielt vor Gott.
Das Wort „vor“ lässt sich auch zeitlich deuten. Die Weisheit spielt, längst bevor Gott die Welt erschafft. Ihr Spielen ist ein schöpferisches Spiel, gar ein erotischer Tanz, durch dessen schnelle Bewegung Leben entsteht wie ihn der griechische Schöpfungsmythos erzählt.
Die Weisheit ist Gottes Lust, auch ein Kind kann die Lust und die Freude seiner Eltern oder Großeltern sein. Dennoch dürfen wir uns die Weisheit nicht als spielendes Kind vorstellen. Die Weisheit hat einen hohen Anspruch. Sie wirbt um Gehör „So hört auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört meine Mahnung, werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind!“ So spricht kein Kind, so spricht eine erwachsene Person, die Lebenserfahrung hat und die weiß, um was es geht. Die Weisheit ist eine erwachsene Person, sie wird als Frau wahrgenommen und nicht als Mann. Es wird von ihr an anderer Stelle als Frau Weisheit gesprochen. Das hebräische „Ruach“ wird im Griechischen mit „Sofia“ übersetzt, sowohl Ruach als auch Sofia sind weiblich. Das deutsche Wort „Geist“, so übersetzt Luther das Wort „Ruach“, gibt die lebendige bewegende schöpferische Kraft nicht annähernd wieder. Im Deutschen gibt es keinen entsprechenden Begriff für Ruach.
Die Weisheit spielt vor Gott. Sie ist sein Liebling, der seine Lust an ihr hat. Die Weisheit selbst ist nicht lustlos, sie hat ihre Lust an den Menschenkindern. Sie scheint grundsätzlich mit den Menschen zufrieden zu sein, legt sie nicht grundsätzlich auf ihre Verfehlungen fest, obwohl sie weiß, wie grausam Menschen sein können. Gewalt und Unrecht beherrschen ganze Familienverbände und Völker. Schwache: Frauen, Kinder, Tiere, leiden am meisten darunter und haben das Nachsehen. „Hört auf mich, meine Söhne“, ruft sie diesen Leuten entgegen, „werdet weise und schlagt meine Mahnungen nicht in den Wind!“ Die Weisheit steht an Wegkreuzungen. An Wegkreuzungen muss ich mich entscheiden, welchen Weg ich einschlage. Die Weisheit steht an den Toren der Stadt. Am Stadttor wird Recht gesprochen. Die Weisheit hat sich gute Plätze ausgesucht, sie mahnt, nicht den Tod, sondern das Leben zu wählen.
„Wohl dem Menschen, der mir gehorcht“. Die Weisheit verlangt keinen blinden Gehorsam, sie gibt einen Rat. Ihre Mahnungen haben Gewicht. Wer ihre Weisungen in den Wind schlägt, muss mit den Konsequenzen rechnen. „Wohl dem Menschen, der mir gehorcht und meinen Weisungen folgt, er wache an meiner Tür täglich und hüte die Pfosten meiner Tore“. Die Bilder, die die Bibel malt, gefallen mir. Die Weisheit ist nicht heimatlos, sie hat ein Zuhause und wohnt in einem Haus. Das Haus scheint prächtig zu sein. Ist es gar ein prächtiger Tempel so wie Gott einen Tempel auf Erden hat? Die Pfosten der Tore könnten einen Hinweis darauf liefern.
„Wer mich findet, findet das Leben, wer mich aber verfehlt, zerstört sein Leben.“ Ihre Weisungen und Mahnungen sind ernst gemeint. Wehe den, der sich nicht an sie hält. Die Weisheit beansprucht Autorität. Sie behält ihre Einsichten und Erkenntnisse nicht für sich, sie teilt sie mit und mahnt, sich für das Leben zu entscheiden. Sie zwingt niemanden, ihre Ratschläge zu befolgen. Wer ihre Mahnungen missachtet, hat die Folgen zu tragen. Nicht Tod und Verderben, sondern Bewahrung des Lebens ist ihr Ziel. Dasselbe Ziel verfolgt auch Jesus. Jesus kann als Träger der Weisheit gesehen werden. „In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“, schreibt Paulus in seinem Brief an die Kolosser (Kol 2,3).
Das Johannes-Evangelium zeugt von der Wiederkehr der Weisheit in Christus. „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht…. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,1,3,14). In Jesus hat die Weisheit auf Erden eine Bleibe gefunden.
Der Weisheit ergeht es wie Jesus. Sie kommt aus dem Himmel in die Welt und will bei den Menschen Wohnung nehmen. Wie Jesus nimmt die Welt sie nicht an. Wie Jesus wandert die Weisheit durch die Welt und mahnt, das Leben zu wählen. Wie Jesus findet sie keinen Platz, an dem sie ihr Haupt hinlegen kann (vgl. Mt 8,20). Die Weisheit ist wie Jesus obdachlos. Wie Jesus kehrt sie in den Himmel zurück. Die Bibel kennt beide Traditionen: da ist auf der einen Seite das Haus bzw. der Tempel, in dem die Weisheit wohnt, auf der andere Seite die fehlende Schlafstätte, wo sie ihr Haupt hinlegen kann.
Jubilate, jubelt, die Weisheit lässt sich hören.
Jubilate, jubelt, die Schöpfung ist schön. Jedes Lebewesen, jede Pflanze, jedes Tier gebühren Anerkennung und Respekt.
Jubilate, jubelt, die Erde erhält und ernährt uns, labt euch an ihrer Pracht.
Die Weisheit steht heute wieder an den Wegkreuzungen und besonderen Plätzen und ruft: Hört meine Weisungen, schlagt meine Mahnungen nicht in den Wind, entscheidet euch nicht für den Tod, wählt das Leben. Habt eure Lust an den Menschenkindern, die für das Leben eintreten. Tanzt, spielt, seid schöpferisch und gestaltet die Welt. Amen.
Liedvorschläge:
Jeder Teil dieser Erde ist meinem Volk heilig
EG-Nr. 510 Freuet euch der schönen Erde…
EG-Nr. 690 Auf Seele, Gott zu loben (ref. Ausgabe)
EG-Nr. 501 Wie lieblich ist der Maien (Melodie wie EG-Nr. 690)
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Die Hausfrau Gottes - Predigt zu Sprüche 8, 22-36 von Kathrin Oxen
Er war immer da. Und ich durfte immer mitkommen und bei ihm sein. Immer tat er etwas, an jedem Morgen und an jedem Abend. Aber Arbeit nannte er es nie. Erst melken wir sie. Dann füttern wir sie. Dann misten wir sie aus. Und zum Schluss fegen wir noch den Stall. Ich war immer bei ihm und ich lernte: Das Leben hat seine Ordnung. Es ist gut und einfach. Wer gemolken werden muss, wird gemolken. Wer hungrig brüllt, wird gefüttert. Und wo Mist war, kommt frisches Stroh hin.
Während wir das taten, jeden Tag, am Abend und am Morgen, wurde es Frühling und Sommer, es wurde Herbst und Winter. Im Sommer waren wir mit ihnen draußen auf der weiten Flur, unter der Sonne. Im Winter waren wir im Stall, warm von ihrem Atem und ihren Leibern. An einem Tag lag nasses neues Leben im Stroh. Da waren sie geboren. Das war ein Schöpfungstag. Dann wurden sie groß. An einem anderen Tag wurden sie weggebracht. Und da starben sie. Das wusste ich.
Ich war als sein Liebling bei ihm. Ich war ein Kind und redete wie ein Kind und dachte wie ein Kind. Und ich dachte: So ist das. Das ist das Leben. Da ist es. Zwischen Geboren werden und sterben. Zwischen Anfang und Ende, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
Als ich erwachsen wurde, lernte ich: Es ist nicht jeder Mensch so wie ich auf einem Bauernhof aufgewachsen und durfte täglich mit seinem Vater in den Kuhstall gehen. Nicht jeder hat das Leben so kennen gelernt wie ich. Aber als ich erwachsen war, da tat ich nicht ab, was kindlich war. Noch heute verstehe ich das Leben so, wie ich es damals kennen gelernt habe. Eigentlich einfach: Es hat einen Anfang und ein Ende. Es geht um das Geboren werden und um das Sterben. Das sind die großen Tage. Und dazwischen sind die kleinen Tage.
Als ich erwachsen wurde, tat ich nicht ab, was kindlich war. Und deswegen verstehe ich die Sehnsucht so vieler Menschen in dieser großen Stadt sehr gut. Sie kommen nicht daher, wo ich herkomme. Aber sie möchten gerne dort hin, glaube ich. Sie möchten Tomaten und Kräuter auf dem Balkon ziehen und das Tier kennen, das sie essen. Ein Stück eigene Scholle bewirtschaften im Schrebergarten oder gleich in der Uckermark. Ein oder zwei Hühner halten. Im großen Hörsaal der FU lernen sie zu Hunderten, wie man mit einem Bienenvolk umgeht. Zunächst nur theoretisch, aber immerhin. Sie kaufen bewusst ein, saisonal und regional, weil ihnen Frühling, Sommer, Herbst und Winter wieder etwas bedeuten sollen.
Natürlich kann man das alles Zeitgeist nennen oder Lifestyle und sich darüber lustig machen. Aber ich spüre in all dem mehr als Landlust. Ich glaube, es ist Sehnsucht. Danach, dass das Leben eine Ordnung hat. Dass es einfach ist und gut, an all den kleinen Tagen zwischen den großen.
Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege,
ehe er etwas schuf, von Anbeginn her.
Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.
Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren.
Ehe denn die Berge eingesenkt waren,
vor den Hügeln ward ich geboren,
als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf
noch die Schollen des Erdbodens.
Da war ich als sein Liebling bei ihm;
ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit;
ich spielte auf seinem Erdkreis.
Der HERR hat mich schon gehabt am Anfang all meiner Wege. Später erst las ich in meiner Kinderbibel, wie Gott die Erde gemacht hat, den Himmel, das Meer, die Pflanzen, die Tiere, den Menschen. Ich las davon, dass alles Leben seine Ordnung hatte und einfach war und sehr gut. Das hatte ich ja eigentlich schon gewusst.
Als ich erwachsen wurde, tat ich nicht ab, was kindlich war. Es gab auch gar keinen Grund dazu. Denn wie bei allen Kindern, war damals das Spielen auch meine Arbeit. Ich nannte sie nur nicht so. Aber ich bekam schon damals im Kuhstall Aufgaben und übernahm Verantwortung: Kümmere dich darum. Und sorge dafür. Denn so mache ich es auch. Und dann wird daraus dein Leben, all die kleinen Tage zwischen den beiden großen.
Das ist die Weisheit. Die Weisheit ist kein ewig sorglos und selbstvergessen spielendes Kind. Das war sie noch nie. Denn sie war ja dabei, als alles gemacht wurde. Sie hat neugierig und genau dabei zugesehen, so wie es alle klugen Kinder machen. Und deswegen weiß sie genau, wie das geht, das Leben.
Wenn die Weisheit erwachsen wird, tut sie nicht ab, was kindlich war. Sie bleibt schöpferisch. Sie bleibt kreativ. Aber sie ist nicht Tochter oder Sohn von Beruf, sondern übernimmt Verantwortung, kümmert sich, sorgt sich auch. Die Weisheit hat viele verschiedene Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. In der Bibel heißt sie: Werkmeisterin. Architektin. Und ja, sie heißt auch tüchtige Hausfrau.
Noch vor einigen Jahren wäre das mit der Hausfrau als Modell der Lebensgestaltung sicher nicht ganz so gut angekommen. Heute, in der Landlust-Zeit ist das gar nicht mehr so fürchterlich. Kinder kriegen, kochen, backen, nähen, sogar stricken – alles wieder möglich. Allerdings nicht auf jeweils ein Geschlecht und auf ein einziges Lebensmodell festgelegt. Wir haben gelernt: Schöpferisch leben ist viel mehr. Es ist das Spielen der Erwachsenen. Und eine große Sehnsucht in so vielen Menschen.
So hört nun auf mich, meine Söhne!
Wohl denen, die meine Wege einhalten!
Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind!
Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich,
dass er hüte die Pfosten meiner Tore!
Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN.
Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben;
alle, die mich hassen, lieben den Tod. (Spr 8, 32-36)
Die Weisheit – sollte sie doch Gottes Hausfrau sein? Es hört sich beinahe so an. Und sicher redet sie nicht zu Kindern, sondern zu Erwachsenen. Sie hat glaube ich, eine Schürze um und sie redet Klartext. Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund. Das Leben hat eine Ordnung, sagt sie. Und du hast etwas zu tun, sagt sie. Kümmere dich darum. Sorge dafür. Übernimm Verantwortung. Da ist sehr viel, das sich wiederholt, das einfach getan werden muss, jeden Morgen und jeden Abend.
Manchmal quält es mich, dass die Weisheit so mit mir redet. Denn wer satt war, wird ja wieder hungrig. Was sauber war, wird wieder schmutzig. Und wo etwas erledigt ist, steht gleich wieder etwas Neues da. Damit schöpferisch umzugehen, an jedem Tag, das ist Weisheit.
Aber manchmal ist es auch anders, einfacher. Meistens abends, wenn endlich die Küche aufgeräumt ist, der Geschirrspüler läuft und die Kinder im Bett sind. Dann ziehe ich die Küchentür hinter mir zu.
Und einen Moment lang ist es dann wie damals, als ich noch bei ihm war. Als im Kuhstall alles sauber und in Ordnung war und nur noch das zufriedene Kauen der Tiere zu hören und manchmal ein Schnauben. Und wir die Stalltür zuzogen und aus dem Stall zurück ins Haus gingen, unter einem hellen Frühlingshimmel oder schon unter den Sternen.
Diesen Himmel sehe ich manchmal immer noch, abends an der Küchentür. Dann ist es einfach und gut, das Leben mit seiner Ordnung. Und ich bin einverstanden damit.
Amen
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Rock’n’Roll der Schöpfung - Predigt zu Sprüche 8,22-36 von Wolfgang Vögele
Friedensgruß
Der Predigttext für den Sonntag Jubilate steht Spr 8,22-36:
„Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern. So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“
Liebe Schwestern und Brüder,
wer in der Nacht angenehm schläft, dessen Augen sind geschlossen, und höchstens Träume ziehen im Bewußtsein langsam vorbei. Wenn dann der Morgen dämmert, kriecht ein erster Sonnenstrahl durch das offene Fenster über die Bettdecke. Bald erreicht er das Gesicht des Schlafenden und bringt ihn mit Tupfen von Licht erst zum Blinzeln und dann zum Aufwachen. Der Schläfer streckt und dehnt sich, er hört die Amseln im Blumenbeet singen. Fröstelnd spürt er die Kälte der Nacht, die durch das geöffnete Fenster eingedrungen ist und sich bald in Tageswärme verwandeln wird. Der geweckte Schläfer steht auf und tritt ans Fenster, um für einen Moment sich ballende Wolken am Himmel, die Linden und Kastanien rund um das Haus zu betrachten und am Stand der aufgehenden Sonne die Uhrzeit abzuschätzen. Die Vorbereitung auf den kommenden Tag setzt ein: Der Schläfer wird die restliche Müdigkeit aus den Gliedern schütteln, sich waschen, Butter und Marmelade auf zwei Scheiben Toastbrot schmieren und sich eine Kanne Kaffee aufbrühen.
Wem dieses Bild zu idyllisch ist, daß niemand jeden Tag so angenehm aufwachen kann. Skeptiker fürchten die gefährlichen Trübungen der Nacht: Schlaflosigkeit und Alpträume, Grübeleien im Halbschlaf, schon wieder schlechtes Wetter, Kälte, Windböen und anhaltende Regenschauer. Aber an einem Frühsommertag im wunderschönen Monat Mai verlieren solche Unbilde von Tiefdruckgebieten und schlechter Laune an Wahrscheinlichkeit. Mir kommt es auf den sanften, warmen Anfang an: Jeder muß schlafen, und jedes Aufwachen verbindet sich mit Anfang und Öffnung, mit Staunen und Neubeginn, mit Tatkraft, Konzentration und Lebensmut, selbst wenn Laune und Luftdruck nicht an jedem Tag so richtig mitspielen.
Der Predigttext spielt ein das Thema der Weisheit, die wörtlich gar nicht auftaucht. Wer weise werden will, muß aufwachen und anfangen. Weisheit ist ein Morgenthema - charakterisiert durch Staunen und Öffnen der Augen, durch neue Pläne und die Bereitschaft, gute Ideen und Schönheit mit Leichtigkeit in die Tat umzusetzen. Liebe Schwestern und Brüder, ich spreche über die Weisheit, weil sie als symbolische Figur durch unseren Predigttext tanzt. Das liegt an Zuschnitt und Abgrenzung des biblischen Kapitels. Dieses erzählt von einer nicht benannten Person, die von Anfang an bei der Erschaffung der Welt dabei war. Weisheit war schon in und bei Gott, bevor er mit der Schöpfung der Welt seinen Anfang nahm. Alle Zuhörer spüren die Bilderwelt der Schöpfungserzählung aus dem 1.Buch Mose: Gott erschafft die Welt aus dem Tohuwabohu und am siebten Tag ruht er sich aus. Dabei ist er, so sagt es der Predigttext, nicht allein. Tanzend und springend und jubelnd begleitet ihn die symbolische Figur der Weisheit. Sie ist nötig, um die Schöpfung, die aus der Herrlichkeit Gottes entspringt, auch wahrzunehmen und zu verstehen. Diese biblische Welt entsteht nicht aus den Streitereien unzähliger Götter, die in Sternen und Planeten personifiziert werden; diese Welt entsteht aus dem klugen und weisen Schöpferwillen eines - des einzigen Gottes. Und Klugheit und Weisheit bleiben nicht bei Gott, sondern sie übertragen sich auf den Menschen, der nur aus seinem Schlaf erwachen muß, um staunend, dankbar, mit offenem Mund und hoffentlich einem Choral auf den Lippen die Schönheit von den Tulpenblüten über die Kokospalmen bis zu den Schäfchenwolken wahrzunehmen.
Die Weisheit, die schon bei der Schöpfung der Welt dabei war, diese Weisheit können die aufwachenden und aufgeweckten Menschen gut gebrauchen – jeden Morgen. Die Schläfer bereiten den Übergang von der Erholung der Nacht zu den Lebensvollzügen des Alltags vor, und am Anfang, sprich Übergang, entscheidet sich alles. Der Predigttext wirbt für die Weisheit in einer Bildergeschichte. Weisheit ist weder Eigenschaft noch Tugend noch Ordnung, nicht abstrakt und nicht intellektuell; sie erscheint als eine Person, mehr: als eine Schönheit. Und sie führt vor Gott einen Tanz auf. Wer gerade aufgewacht ist und gefrühstückt hat, der kann sich frisch gestärkt auf einen swingenden Rhythmus einlassen. Weisheit spielt und tanzt mit Gott; in Versuch und Irrtum lotet sie Schönheiten und Abgründe dieser Welt und des menschlichen Lebens aus.
Die von Gott geschaffene Welt steht nicht still. Sie ist in Bewegung; ständig ergeben sich Konflikte und Hindernisse, Abgründe und Verzweiflung, Schwierigkeiten und neue Aufgaben. Gerade die moderne Welt ist vielfältig, kompliziert und darüber unübersichtlich geworden. Wer sich in die Welt begibt, fühlt Streß und Überforderung. Trotz des Frühlingssonnenscheins eines Maimorgens fühlen sich viele aufwachende Menschen verzweifelt oder traurig. Die Gründe dafür reichen von der globalen Erwärmung, welche alle Lebensgrundlagen zerstört, bis zum Feinstaub der Verzagtheit und dem Meltau einer Depression. Vielfältige Lebenswelt erscheint in den leuchtenden bunten Farben der Schönheit der Schöpfung wie in den schwarzen und grauen Tönen der Traurigkeit. Und manchmal wechseln die Farben mehrmals am Tag. Ich könnte dieses Bild nun weiter ausmalen, aber ich unterstelle Ihnen allen, liebe Schwestern und Brüder, daß Sie wissen, was ich meine, und selbst das Bild mit eigenen Erfahrungen ausmalen könnten. Statt dessen gehe ich auf die wichtigere Frage ein, wie sich ein aufwachender und glaubender Mensch, der mitten im Leben stehen will, zu diesem ständigen Wechsel der Farben der Welt verhalten soll. Ich will fünf Möglichkeiten ansprechen, dem eigenen Leben in der Welt eine bestimmte Richtung zu geben: die Vernunft, den Rückzug der Meditation, ein gesteigertes intensives Leben, den (vereinzelten) Glauben und zuletzt die Weisheit, die aus dem Gottesglauben hervorwächst.
Wenn die Weisheit eine Tänzerin ist, so ist die Vernunft eine kluge und vorausschauende Spaziergängerin. Sie erklärt die Welt aus Ursache und Wirkungen; sie handelt, indem sie Zwecke setzt und diese mit Hilfe aller gebotenen Mittel zu erreichen sucht. Und insofern brauchen alle Menschen Vernunft, auch diejenigen, die eher auf Glaube und Weisheit setzen wollen. Der Vernunft wohnt auch ein kaltes Moment inne: Sie neigt dazu, Lebensverhältnisse auf Zahlen und Sachzwänge zu reduzieren, und sie überschätzt gelegentlich die Reichweite ihrer intellektuellen Mittel. Wer sich allein auf den Verstand verläßt, der neigt auch zu Mißtrauen. Deswegen favorisiert die Vernunft Geometrie, Überschaubarkeit und Berechnung, und es fehlt ihr oft an Liebe, am Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit und Endlichkeit. Genauso oft fehlt es ihr an der nötigen Begeisterung. Tanzend kann man sich die Vernunft nicht vorstellen.
Der Rückzug in die Meditation ist in östlichen Religionen weiter verbreitet als im Christentum. Ihre symbolische Figur ist der sitzende Mensch mit geschlossenen Augen. Ihr Klang ist die Stille. Der Meditierende zieht sich an einen abgelegenen Ort zurück, um sich aus dem Spiel von Bewegungen, Entwicklungen und Fortschritten zu befreien, die seine Lebenswelt ausmachen. Bewegung und Fortschritt empfindet er als Fremdbestimmung, und deswegen zieht er sich zurück, um im Stillstand von Gefühlen und Gedanken neue Kraft zu schöpfen. Auch darin liegt ein Element der Weisheit, aber es wird problematisch, wenn der Wechsel von Meditation und aktivem Leben gesteigert wird zum völligen Rückzug aus der Welt. Dieser lebt von der Unterstellung, daß der einzelne in der Welt nur Schaden anrichten könne. Und dieses Element der Verweigerung hat nach meinem Eindruck nichts Weisheitliches mehr.
Der dritte Weg, sich in der Lebenswelt zurechtzufinden, besteht darin, sich auf immer intensivere Erfahrungen zu einzulassen. Die Figur des intensiven Lebens ist der Bungeespringer. Er sucht das kalkulierte Risiko, um über der Angst vor dem Absturz einen besonderen Grad von Konzentration zu finden, der ihn seine Lebensangst, seine Sinnsuche, seine Grübeleien vergessen läßt. Im Moment des Sprungs von der Rampe ist er ganz Gegenwart, ganz Konzentration; er ist ganz bei sich selbst, kann Vergangenheit und Zukunft vergessen, die aber Momente später, nach dem Sprung umso dringlicher zurückkehren. Die intensive Erfahrung besitzt keine Nachhaltigkeit, sie muß zum einen immer wiederholt, zum anderen immer wieder gesteigert werden. Erfahrungen der Intensität können das Lebensgefühl steigern, aber letztlich sind sie wie eine Droge, deren Dosis stets nach Steigerung verlangt.
Der Weisheit steht eine vierte Figur gegenüber, der Glaube. Wie bei Vernunft, Meditation, Intensität besteht hier eine Verwandtschaft mit der Weisheit, von der gleich die Rede sein soll. Wer sich allein auf den Glauben verläßt, der vergißt, daß der Glaube anders als die Vernunft keine Sicherheiten, sondern nur Gewißheiten zu bieten hat. Wer glaubt, der vertraut. Glaube geht nicht auf im verpflichtenden Für-Wahr-Halten von angeblichen Fakten des Übernatürlichen. So mißverstehen Evangelikale, Fundamentalisten, Sektierer und oft auch klerikale Bürokraten den Gottesglauben. Deswegen ist es falsch, den Glauben zu isolieren, ihn in ein Gefängnis der eigenen Sicherheit und der eigenen kleinen Gemeinschaft einzusperren – und dann in der Welt dem zu folgen, was sich an Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens bietet.
Die reine Vernunft berechnet zu viel, ohne zu lieben und ohne über die Schöpfung zu staunen. Der isolierte Glaube verbreitet Wahrheiten über die transzendente Welt, die er nicht belegen kann. Meditation erstarrt, wo sie in den völligen Rückzug aus der Welt übergeht. Intensives Leben braucht ständige Wiederholung und Steigerung, um die gewünschte Erfahrung zu erzielen.
Der Predigt stellt die Weisheit als eine Tänzerin vor. Deshalb ist für eine Weisheit zu plädieren, die gleichermaßen von Glauben und Vernunft bestimmt ist. Wer glaubt, daß Gott und die Weisheit die Welt geschaffen haben, der kann sich nicht ganz statisch auf eine fixierte Ordnung zurückziehen, die er nur zu akzeptieren hat. Weisheit meint ein Denken und Glauben, das in Bewegung ist, mindestens Spaziergangstempo, wenn nicht Gymnastik oder sogar Joggen. An manchen Stellen unbedingt Rock’n’Roll. Glaubende Weisheit beginnt mit dem Aufwachen. Wer merkt, daß er nicht in einer materialistischen Welt, sondern in einer guten Schöpfung lebt, der sucht nach den Spuren Gottes, um darüber zu staunen. Wer merkt, daß die eigenen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten begrenzt sind, der fällt weder in Grübeln oder Grämen zurück, sondern der macht sich bereitwillig auf einen Weg des Lernens. Was Joggen für den Körper, ist aktive Weisheit für Gehirn und Bewußtsein. Weisheit hängt zusammen mit Bewegung: mit Maßhalten, Balancieren, Ausgleichen. Es gilt, eine Haltung der Achtsamkeit für Schöpfung und Mitmenschen einzuüben. Weisheit ist die bewegliche Aufmerksamkeit für die Tatsache, daß Gott diese Welt erschaffen hat, sie erhalten und erlösen will. Und wer sich weisheitlich bewegt beim Denken, der kann auch Entdeckungen machen bei all den anderen, die sich schon übend und trainierend um Weisheit bemüht haben, bei allen Menschen und Lehren, nicht nur bei den Anhängern der eigenen Religion, der eigenen Partei und der vielen intellektuellen Kleingärtnervereine. Weisheitlicher Glaube übt keinen Zwang zur Dummheit und Einfachheit aus, er ist offen für viele vorläufige Lösungen. Der Tanz der Weisheit gebiert keine Ungeheuer, sondern er schafft neue Lösungswege, Respekt und Anerkennung von Diversität.
Kann man das lernen? Liebe Schwestern und Brüder, ja, das kann man lernen. Und es wäre für die Gemeinden besser, solche Volkshochschulen glaubender Weisheit einzurichten als Mandalas zu malen, klerikale Bürokratie aufzubauschen oder nun wirklich jedem Trend hinterherzulaufen, den der Zeitgeist auf seine schnell veraltenden Werbetafeln schreibt. Weisheit ist ein Geschenk Gottes – wie die Auferweckung des Jesus von Nazareth, mit der Gott den Tod überwindet.
Mit und in diesem Geschenk der Weisheit kann jeder Glaubende lernt. Man lernt gerade nicht, Standpunkte einzunehmen und Recht zu haben und Mauern zu bauen und die vermeintlich Schlechten auszuschließen. Wer sich von der Weisheit faszinieren läßt, der lernt, sich geistig und geistlich zu bewegen, der lernt zu tanzen – und dabei zu lächeln, zu staunen und die Schönheit der Welt in jedem Sonnenstrahl wahrzunehmen. Die Weisheit tanzt mit Gott, und deshalb tanzen die Weisheit lernenden Menschen in und mit der Welt. Ein wenig geistlicher Rock’n’Roll muß sein. Amen.
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Weisheit in Zeiten des Klimawandels – Predigt zu Sprüche 8,22-36 von Norbert Stahl
Liebe Gemeinde,
Die Sorgen einer Waldbesitzerin
„Wald zu besitzen lohnt sich kaum mehr!“ – so die für mich überraschende Aussage einer Mitarbeiterin im Oberkirchenrat, mit der ich mich vor kurzem unterhielt. Überraschend, weil ich gar nicht wusste, dass die Mitarbeiterin auch Waldbesitzerin ist. Überraschend aber auch, weil ich immer dachte, Wald sei doch ein ziemlich krisensicherer Besitz. Weit gefehlt! „Meine Familie besitzt vor allem Fichtenwald. Dem geht es momentan besonders schlecht.“, so meine Gesprächspartnerin weiter. „Der Hitzesommer hat ihm zugesetzt. Die Bäume sind buchstäblich saft- und kraftlos. Dazu kommen die Auflagen vom Forstamt und die stark gefallenen Preise für Holz. Wegen des Borkenkäfers musste in ganz Deutschland viel gerodet werden. Deshalb haben wir jetzt ein Überangebot. Und dann müssen wir die Rodungen auch noch aus eigener Tasche zahlen.“, beklagt sie sich.
Mir fallen große kahle Stellen im Wald ein, die meine Frau und ich bei unseren Wanderungen durch den Schönbuch immer wieder sehen. Radikal gerodete Flächen, die wie ein Schlachtfeld aussehen. Manchmal bringen die Förster Schilder zur Information an. Darauf ist dann zu lesen, dass die Flächen wegen Borkenkäferbefall gerodet werden mussten. Wie soll das weiter gehen? Man kann sich schon ein bisschen fürchten. Der April war bereits extrem warm. Bekommen wir schon wieder einen Hitzesommer? Und dann?
Die Folgen des Klimawandels weltweit
Nur ein Beispiel, liebe Gemeinde, ein Mosaikstein, für den immer deutlicher werdenden Klimawandel. Die Zeiten, in denen es verlässliche Jahreszeiten gab, sind vorbei. Die Klimaextreme nehmen zu. Die gute Ordnung, in der sich einmal die Natur, die Schöpfung befand, scheint dahin. Mit schlimmen Folgen: das Abschmelzen der Pole, die steigenden Meeresspiegel, die zahlreichen verheerenden Stürme und Überflutungen (Mozambique und Indien sind nur die letzten beiden Beispiele). Hier bei uns denke ich an die beginnende Versteppung von großen Gebieten in Ostdeutschland. Wertvolles Ackerland wird durch starke Winde davongetragen. Gefährliche Sandstürme entstehen. Sie brechen sich an keinerlei Hecken oder Wäldchen. Noch manches mehr ließe sich anfügen. Sind wir noch zu retten? Was könnte helfen?
Was kann helfen?
Am heutigen Sonntag liegt der Predigt ein weisheitlicher Text zugrunde. Liegt hier vielleicht ein Wegweiser verborgen für uns? Ist nicht genau sie es, die uns fehlt im Umgang mit Natur und Umwelt: die Weisheit? Am heutigen Sonntag spricht sie sogar selbst zu uns:
zit. Spr 8,22-36
Die Weisheit stellt sich hier als eine sehr enge Vertraute Gottes vor. Von Anfang an war sie bei Gott. Genau genommen sogar vor dem Anfang schon. Zu einer Zeit also, als es noch gar nichts gab: „Ehe er etwas schuf“ war die Weisheit schon bei Gott. Sie war in inniger Verbundenheit mit ihm, ja, sie spielte vor ihm und Gott hatte seine Freude daran. Wie Gott selbst, so steht auch die Weisheit über allem Erschaffenen. Deshalb kann sie auch auf dem Erdkreis spielen (im Hintergrund steht das Weltbild der alten Kulturen). Gott und die Weisheit befinden sich in inniger Harmonie. Die Weisheit ist „beständig bei ihm“, ja sie „spielt vor ihm.“ Ein Bild des Einklangs und des Friedens. In diesem innigen Miteinander wird die Welt erschaffen. Und sie spiegelt das wider. Alles stimmt zusammen: „Herr, wie sind deine Werke so groß und so viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.“ (Psalm 104, 24) – So staunt das alte Israel über die Schöpfung und lobt ihren Schöpfer. Ehrfürchtig wird beschrieben, wie gut alles zusammenstimmt: „Lobe den Herrn meine Seele! Herr mein Gott, du bist sehr herrlich! … Der du das Erdreich gegründet hast auf festen Boden … Die Berge stiegen empor, und die Täler senkten sich herunter … Du lässt Wasser quellen …, dass alle Tiere des Feldes trinken und das Wild seinen Durst lösche. Darüber sitzen die Vögel des Himmels und singen unter den Zweigen. … Du machst das Land voll Früchte … du lässt Gras wachsen und Saat zu Nutz des Menschen … Wein erfreut des Menschen Herz und sein Antlitz wird schön vom Öl.“(Ps 104,1-15) Alles stimmt zusammen. Für den Menschen ist gesorgt. Ja mehr noch: Es ist auch alles so schön.
Is this the world we created?
Und heute?
Is this the world we created?
We made it all our own
Is this the world we devastated, right to the bone
If there's a God in the sky looking down
What can he think of what we've done
To the world that he created?
So fragt der leider viel zu früh verstorbene Sänger Freddy Mercury bereits 1984 in einem seiner Lieder.
Ist dies nun die Welt, die wir geschaffen haben?
Wir machten sie uns untertan.
Ist dies nun die Welt, die wir bis auf die Knochen verwüstet haben?
Wenn ein Gott ist im Himmel, der herunterschaut,
Was kann er denken über das, was wir der Welt angetan haben,
die er erschaffen hat?
Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben
Liebe Gemeinde, ich finde die Ermahnung der Weisheit am Ende des Predigttextes hat sich auf erschreckende Weise bewahrheitet. „So hört nun auf mich, meine Kinder! … Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben.“(V.32.36) Die Wälder sterben, die Ackerböden erodieren, abertausende werden weltweit durch Zyklone und Tornados, durch Flutwellen und Dürren dahingerafft. Es ist offensichtlich: Wir haben den weisheitlichen Umgang mit den uns gegebenen Ressourcen verlernt. Nun ernten wir, was wir gesät haben. Wo soll das enden? Was könnte helfen?
Wer mich findet, der findet das Leben
Das Ermutigende: Die Weisheit malt nicht nur ein Drohgemälde. Sie sagt auch: „Wer mich findet, der findet das Leben. Wohl denen, die meine Wege einhalten!“(V. 35) Wie gerne möchte ich das: Die Weisheit wiederfinden und die Wege, die dem Leben dienen! Aber wie geht das?
Psalm 104 und Leonardo da Vinci
Mir kommt noch einmal Psalm 104 in den Sinn. Könnte es ein guter Anfang sein, nicht gleich lauter Einzelmaßnahmen vorzuschlagen, sondern es zunächst einmal so zu machen, wie der Beter des Psalms? Er hält inne und beobachtet. Er schaut sich genau um und nimmt zunächst einmal nur wahr, was er sieht. Je länger er das tut, desto intensiver nimmt er die Schöpfung in ihrer Größe und Schönheit wahr. Er begreift Zusammenhänge. Er gerät ins Staunen. Darüber, wie gut alles zusammenpasst, wie eins in andere spielt, wieviel Harmonie in der Schöpfung ist, wie wunderbar auch der kleinste Vogel geschaffen ist. Von einem der größten Künstler aller Zeiten, Leonardo da Vinci, ist überliefert, dass er ein ausgezeichneter und intensiver Beobachter der Natur war. So soll er einmal monatelang nur die Oberfläche von Flüssen und Bächen studiert haben, so fasziniert war er davon. Er war wohl auch Vegetarier und es heißt, er sei manchmal auf den Markt gegangen, habe Vögel in Käfigen gekauft und sie sofort freigelassen.1 Das ist für mich ein tolles Beispiel dafür, wie aus der Beobachtung der Natur Ehrfurcht wird, die wiederum in lebensdienliche Handlungen mündet.
Weisheit und Nachhaltigkeit – das geht gut zusammen!
Ein weisheitlicher Umgang mit der Schöpfung scheint mir also mit ihrer genauen Beobachtung zu beginnen. Beinahe zwangsläufig stellen sich Staunen, Freude und Ehrfurcht darüber ein, wie wunderbar alles geschaffen ist. Aber auch ein Verständnis dafür, wie anfällig und schützenswert dieses System ist. Wer dafür ein Empfinden entwickelt, der kann eigentlich gar nicht mehr anders, als entsprechend zu handeln. Der Weise wäre dann einer, der versucht, im Umgang mit der Schöpfung so wenig Schaden wie irgend möglich anzurichten; ihr Gleichgewicht so wenig wie möglich zu stören; Risiken so gut es irgend geht abzuwägen und die Folgen des Handels auch für spätere Generationen zu bedenken. Kurzum: Dem Weisen geht es um Nachhaltigkeit.
Die Benediktiner von Camaldoli und die Fridays for Future
Dieses Prinzip ist nicht neu. Interessanter Weise findet es sich bereits in einem kirchlichen Dokument aus dem 14. Jh. (auch wenn man das Wort „Nachhaltigkeit“ damals natürlich noch nicht kannte)! Das Dokument, um das es geht, ist die Forstordnung eines Benediktinerordens in der Toskana. Die Benediktiner des um das Jahr 1000 gegründete Kloster Camaldoli (70 km östlich von Florenz) bewirtschafteten ihre Tannenwälder rund um das Kloster ohne Kahlschläge, nur mit Einzelstammentnahmen und Nachpflanzungen. Das Kloster gilt daher als Keimzelle und „Wurzel der Nachhaltigkeit“.2
Aktuell sind es vor allem die Schülerinnen und Schüler, die uns mit ihren Fridays-for-future-Demos an das Prinzip der Nachhaltigkeit erinnern. Um unsre Klimaprobleme wenigstens noch halbwegs in den Griff zu bekommen, brauchen wir sehr dringlich die Energiewende. Nur so kann die beständige Klimaerwärmung wenn schon nicht gestoppt, so doch wenigstens eingedämmt werden.
Nachhaltigkeit erstreckt sich aber auf noch viel mehr Bereiche. Alle, egal, ob jung oder alt, können etwas zu einem nachhaltigen Lebensstil beitragen: Wiederverwerten statt Wegwerfen; Plastik und Müll vermeiden; mitmachen beim Recycling; weniger Fleisch essen; regional produzierte Lebensmittel einkaufen; wer es sich leisten kann am besten bio; weniger Flugreisen; kleinere Autos fahren, keine SUV’s usw. Für mich ist ganz klar: Nachhaltigkeit heißt auch, sich einzuschränken.
Die Erde gehört Gott
In einem Bibellexikon las ich den tollen Satz: „Weisheit ist die Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit als geordnetes Sein zu erkennen und sich in diese Ordnung verstehend und handelnd einzufügen.“3
Die Wirklichkeit als geordnetes Sein erkennen: Der Weise im Sinne der Bibel ist einer, der die Schöpfung beobachtet und die gute Ordnung, die Gott in seine Schöpfung hineingelegt hat, erkennt. In diese Ordnung fügt sich der Weise ein, d.h. er beachtet sie. Er lebt nicht gegen die Kreisläufe in der Natur. Und der Weise ist in der Lage aus Wertschätzung und Ehrfurcht dem Leben gegenüber so zu handeln, dass die lebensdienliche Ordnung erhalten bleibt. Für sich selbst; für die Generationen, die nach ihm kommen; für alle Lebewesen.
Nicht zuletzt ehrt der Weise damit den Schöpfer. Denn die Erde gehört Gott.
Amen.
1 Information aus der Radiosendung SWR 2 Wissen vom 29.04.2019
2 Information aus Wikipedia-Artikel „Nachhaltigkeit“
3 Calwer Bibellexikon, Art. Weisheit, Stuttgart 2003.
Anregungen zur Liturgie
Eingangslied: 501,1.2.4 (Wie lieblich ist der Maien)
Ps 104 (743)
Lesung: 1. Mose 1,1-8.26-31; 2,1-4a
Wochenlied: 506,1-3.5 (Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht
Predigtlied: 432,1-3 (Gott gab uns Atem)
Schlusslied: 331,1.9-11 (Großer Gott, wir loben dich)
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Erinnere uns an den Anfang…. - Predigt zu Sprüche 8,22-36 von Kathrin Nothacker
Erinnern wir uns an den Anfang. Ganz am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Zuerst war die Erde wüst und leer und finster. Dann kam Gottes Geist, schwebte über den Wassern, wie es heißt, und es wurde Licht. Und nach und nach wurde es immer heller und geordneter und lebendiger. Licht, Wasser, Pflanzen, Tiere. Und am Ende, Krone der Schöpfung, der Mensch. Geschaffen als Mann und Frau, Ebenbild Gottes.
„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“
Erinnere uns an den Anfang. Am Anfang als Leben begann, sprachst du zu uns: Ihr seid willkommen, hast uns an die Hand genommen. Erinnere uns an den Anfang, an Ursprung und Werden, Vergehen, damit wir das Leben verstehen, damit wir klug werden.
Klug und weise werden, wenn wir uns an den Anfang erinnern, davon redet auch das Bibelwort aus dem Buch der Sprüche, über das wir heute nachdenken sollen. Es redet von der Weisheit und von Gottes Schöpfung. Und erinnert uns an den Anfang.
Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war. Als die Tiefe noch nicht war, ward ich geboren, als die Quellen noch nicht waren, die von Wasser fließen. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens. Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe, als er die Wolken droben mächtig machte, als er stark machte die Quellen der Tiefe, als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit; ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.
So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore!
Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.
Wir wissen nicht genau, wer hier spricht. Jedenfalls erinnert uns die Stimme an den Anfang. Wenige Zeilen davor sagt die Stimme: „Ich, die Weisheit wohne bei der Klugheit.“ Es ist wohl die Stimme der Weisheit, der Klugheit, der Erkenntnis. Eine Stimme, die den Menschen hilft, klug zu werden. Das Gute im Blick zu halten und das Falsche zu meiden.
Und diese Stimme der Weisheit erzählt, dass sie dabei war, ganz am Anfang, als Gott Himmel und Erde erschuf. Sie war da, bevor die Erde und alles Lebendige auf ihr geschaffen wurden. Frau Weisheit, Frau Klugheit, vielleicht so etwas wie ein weibliches Gegenüber Gottes, vielleicht auch sein Kind, seine Spielgefährtin, Quelle seiner Inspiration und Kreativität.
Auf ungewöhnliche Art und Weise wird hier vom Schöpfungshandeln Gottes gesprochen. Fast so, als wirkte die Weisheit als eigenständige Größe bei der Schöpfung Gottes mit. „Ich war beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit.“ Und sie sagt weiter: „Ich spielte auf seinem Erdkreis und hatte meine Lust an den Menschenkindern.“ Das erinnert uns an Kinder, die vertieft in ein Rollen-Spiel oder ins Sandburg-Bauen sind. Und alles um sich herum vergessen und nur bei sich und den Mitspielenden sind. Und glücklich dabei sind. Und im Reinen mit sich und ihrer Umwelt.
Man hat viel darüber nachgedacht und spekuliert, wer da spricht und wie man sich diese Weisheit, die ganz am Anfang dabei gewesen sein will, vorstellen kann. Am Ende ist das aber auch nicht so wichtig.
Das Wesentliche ist, dass ein Loblied gesungen wird auf Gottes wunderbare Schöpfung. Und dass es klug und weise und lebensnotwendig und lebensrettend ist, diese wunderbare Schöpfung Gottes und seinen Plan für diese Welt zu beachten. Denn am Ende geht es um Leben und Tod. „Wer mich findet, der findet das Leben“. Und: „Wer mich verfehlt, zerstört sein Leben“.
Liebe Gemeinde, wenn wir uns an den Anfang erinnern und daran, dass Gott diese Erde gut und schön geschaffen hat, dann löst das in vielen von uns erst einmal Staunen und Dankbarkeit aus. Es ist doch jedesmal aufs Neue faszinierend, wenn nach einem langen Winter der Frühling ins Land einzieht: Wiesen grün werden, Bäume blühen in weißer und rosaroter Pracht, Blumen aus der Erde kommen und die ersten Bienen fliegen und die Tage länger und heller und wärmer werden. Mir erscheint das jedenfalls gar nicht banal und auch gar nicht selbstverständlich. Es tut einfach nur gut und erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, dass uns diese Erde geschenkt wurde. Und dass der Kreislauf von Werden und Vergehen, der Ablauf der Jahreszeiten so verlässlich ist.
Anderes erfüllt mich auch mit Dankbarkeit. Es ist nicht nur Staunen und Dankbarkeit über die Schöpfung, die Natur um uns herum. Es ist auch Dankbarkeit über vieles, was mir im Lauf meines Lebens widerfahren ist. Meine Generation gehört zu der Generation, die nie einen Krieg oder eine Diktatur erlebt hat. Die nichts anderes kennt als Frieden und Wohlstand. Wir haben Zugang zu Bildung gehabt und können diesen auch unseren Kindern geben. Wir haben genug zu essen und zu trinken, wir haben niemals gehungert und können in jeden noch so entlegenen Winkel dieser Welt reisen mit unseren europäischen Reisepässen, die – das habe ich neulich gelesen – zu den wertvollsten Pässen auf der ganzen Welt gehören.
Wenn ich dankbar auf den Abschnitt in der Weltgeschichte blicke, in dem ich leben darf, dann gehört auch das europäische Friedensprojekt seit Ende des Zweiten Weltkrieges erwähnt. In zwei Wochen sind Europawahlen und das Interesse an Europa ist so schwach wie nie zuvor. Menschen verbinden nichts mehr mit Europa, sie sind gleichgültig geworden und schimpfen meist nur noch über irgendwelche Verordnungen, die „denen in Brüssel“ mal wieder eingefallen sind. Das ist sehr traurig.
Denn Europa ist mehr als „Brüssel“. Europa ist ein großartiges und einzigartiges Friedens- und Versöhnungsprojekt. Wir leben auf diesem Kontinent schon so lange in Frieden und Wohlstand wie niemals zuvor. Und gehören zu den ganz Privilegierten auf dieser Erdkugel. Und das war wohlgemerkt nicht immer so. Dieser Kontinent ging auch schon unter in Blut, Schweiß und Tränen. Und manche unter uns haben daran noch ganz konkrete Erinnerungen, keine guten!
Das Friedensprojekt Europa gehört für mich auch zum Schöpfungs- und Versöhnungshandeln unseres Gottes. Und dazu, dass sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Weisheit unter den Menschen immer wieder vor der Dummheit durchgesetzt hat. Es ist wichtig, dass wir das stark machen. Und dass wir weiterhin von Menschen und Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft geleitet sind, die weise sind und verständig; die den Frieden im Sinn haben, die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihres Tuns stellen, die den Minderheiten und den Flüchtenden Schutz und Recht geben, die dazu beitragen, dass Menschen sich kennen und verstehen und versöhnen. Und eben nicht durch populistische Zuspitzungen Menschen gegeneinander aufbringen. „So hört nun auf mich, meine Söhne und Töchter. Wohl denen, die meine Wege einhalten!“
Liebe Schwestern und Brüder, wir leben in einer Welt, in der die Weisheit verdrängt wird und die Torheit immer lauter schreit. Das ist nichts Neues. Offensichtlich gab es das auch schon vor 2000 Jahren. Sonst gäbe es dieses Bibelwort nicht. Wir leben in einer Zeit und einer Welt, in der die Erkenntnis, dass wir Menschen nicht alles uns selbst und unserem eigenen Tun, unserer eigenen Leistung verdanken, nicht mehr oft vorhanden ist. Wir reden viel lieber von dem, was Menschen alles tun können, was sie alles entwickeln können, was noch mehr konsumiert werden kann, wo Leistung noch effektiver werden kann.
Es sind die Kinder und Jugendlichen, die uns mit ihren Demonstrationen „Fridays for Future“ darauf hinweisen, dass es ein „Zu Spät“ geben könnte. Und dass wir viel zu lange schon auf Kosten der Natur und auf Kosten von Menschen in anderen Ecken dieser Welt leben. Der Klimawandel muss uns etwas angehen! Unsere Erde, von der wir Christinnen und Christen sagen, Gott habe sie gut und schön geschaffen, ist in Gefahr. Und auch dieses besondere und einzigartige Friedensprojekt Europa ist in Gefahr. Es droht auseinanderzubrechen und in einzelne nationalistische Interessen und Egoismen zu zerfallen.
Und das sollte uns bei aller Dankbarkeit über das, was uns geschenkt ist, Sorge bereiten und uns aufrütteln. Nichts anderes ruft uns die Stimme der Weisheit aus der Bibel zu. Und sagt, es geht um Leben und Tod.
„So hört nun auf mich, meine Söhne und Töchter! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Zucht und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind! Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom Herrn. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod.“
Nehmen wir uns das zu Herzen an diesem schönen Maisonntag: Es gibt viel Grund zum Staunen und zur Dankbarkeit über das, was uns von Gott geschenkt ist: eine wunderbare Natur, Leben in Frieden und Freiheit, genug zu essen und zu trinken, immer noch genug Luft zum Atmen. Ein Leben in Wohlstand, Freiheit zum Denken und Freiheit zum Glauben. Und auch Menschen um uns herum, die es gut mit uns meinen. Das ist alles viel Grund zum Staunen und zu Dankbarkeit und gar nicht selbstverständlich.
Aber Gott hat uns auch einen Verstand gegeben, dass wir die Zerbrechlichkeit von all diesem Guten sehen und wahrnehmen. Und uns, wo wir auch sind und wie wir es können, für den Erhalt all dessen einsetzen. Und das können wir nicht immer aus uns selbst heraus. Manchmal sind wir mutlos und ängstlich. Deshalb ist es gut, dass Gott uns in diesem Einsatz zur Seite steht. Er geht selbst mit uns durch diese Welt. Dafür steht Jesus, den er in diese Welt geschickt hat, der diese Welt erlebt und erlitten hat. Der auch den Tod besiegt hat, der sich immer wieder anschickt, der Meister zu sein.
Ostern liegt erst drei Sonntage zurück. Es ist der Osterjubel, der uns die Kraft geben soll, uns einzusetzen für all das, was Gott gut geschaffen hat. Und dass wir diese Welt nicht den zerstörerischen Kräften überlassen. Lasst uns einstimmen in den Osterjubel, dass der Tod verschlungen ist in den Sieg. Und dann das Nötige tun, dass das Leben siegt – genau dort, wo uns Gott hingestellt hat. Amen.