Liebe Schwestern und Brüder!
Die Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja sind uralt. Aber die Situation, die sie beschreiben, die kennen wir genau. Es ist Krieg in der Region rund um Israel im 8. Jahrhundert vor Christus. Moab, ein Nachbar Israels östlich des Toten Meeres und traditionell mit Israel durch eine Mischung aus verwandtschaftlicher Nähe auf der einen Seite und Konflikten und Rivalitäten auf der anderen Seite verbunden, ist in großer Bedrängnis. Das assyrische Reich breitet sich durch Angriffskriege aus, macht die Nachbarn tributpflichtig. Die Städte Moabs sind gefallen oder bedroht. In ihrer Not schicken sie symbolisch ein Tributgeschenk, ein Lamm, an das benachbarte Israel mit der Bitte um Asyl, um Schutz.
„‘Schickt Lämmer des Landesherrn von Sela durch die Wüste zum Berge der Tochter Zion!‘ Wie ein Vogel dahinfliegt, der aus dem Nest vertrieben wird, so werden die Töchter Moabs an den Furten des Arnon sein.“
Die Fliehenden ziehen Richtung Süden, über den Fluss Arnon, in der Hoffnung irgendwo sicher zu sein. Wie umherirrende Vögel sind sie, verlassen und schutzlos.
Es ist das Zeugnis einer Flüchtlingskatastrophe, die sich da vor rund 2700 Jahren im biblischen Land abspielt. Sie handelt von Gewalt und Unterdrückung, von Autokraten, die über Leichen gehen, und vor allem: von so vielen verzweifelten Menschen, die dieser Gewalt, diesem Unrecht schutzlos ausgeliefert sind.
Es ist ein bedrängender Appel, dem der Prophet Jesaja eine Stimme gibt: „Gib Rat, sprich Recht, mach deinen Schatten am Mittag wie die Nacht; verbirg die Verjagten, und verrate die Flüchtigen nicht! Lass Moabs Verjagte bei dir herbergen, sei du für Moab eine Zuflucht vor dem Verwüster!“
Ja, wir kennen das nur allzu gut. Damals war es ein Prophet, der dem Leiden eine Stimme gegeben hat. Heute sind es Fernsehbilder, die uns aus aller Welt erreichen, die dieses Leiden in unsere Wohnzimmer bringen. Es ist erschreckend, wie sehr das damit verbundene Elend in jüngster Zeit zugenommen hat. Noch vor wenigen Jahren haben wir die ungeheure Zahl von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit beklagt. Heute spricht das UNHCR, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, von rund 120 Millionen Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen oder dem kompletten Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung zur Flucht gezwungen sind. Die meisten davon sind Binnenvertriebene. Andere haben ihr Heimatland verlassen und suchen nun einen Ort, wo sie sicher sind. Die große Mehrzahl haben Zuflucht gefunden in Ländern, die selbst arm sind, die aber trotzdem den Schutz nicht verweigern.
Ja, wir kennen das, was da aus den Worten des Propheten Jesaja herausspricht. Wir kennen die Bedrängnis, die darin zu spüren ist. Wir kennen die Verzweiflung, die aus ihnen herausspricht. Manchmal halten wir sie nicht mehr aus. Wollen sie ausblenden. Einfach nur in Ruhe leben. Uns damit abfinden, dass wir die Welt eben nicht retten können.
Aber dann kommt sie doch, diese innere Unruhe, diese Störung tief in unserer Seele, die sagt: Schau nicht weg. Vergiss die Menschen nicht, die da jetzt so sehr in Not sind. Sie sind doch geschaffen zum Bilde Gottes, so wie Du. Unendlich kostbar. Auf ihrer Flucht schutzlos, bedroht, ausgeliefert. Du kannst sie doch nicht einfach in das Dunkel Deines Vergessens stoßen!
Liebe Schwestern und Brüder,
ich kenne dieses innere Selbstgespräch genau. Die Hilflosigkeit angesichts dieses schrecklichen Leids in der Welt. Das Verdrängen dieses Leids, weil man es einfach nicht mehr aushält.
So ist es mir immer wieder gegangen, als ich diese Bilder im Fernsehen gesehen habe, von den Menschen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind. Immer wieder habe ich das vor mir gesehen und mir gesagt: das kann doch nicht sein, dass das vor unseren Augen passiert – und es wird einfach hingenommen! Die Leiche eines kleinen Jungen wird an den Strand gespült, das Bild wird in alle Welt verbreitet wird – und nichts ändert sich! Europa schaut weiter zu, wie Tausende verzweifelter Menschen im Mittelmeer ertrinken!
Das habe ich mir gesagt. Und habe mich dabei so ohnmächtig gefühlt.
Aber dann habe ich die Menschen gesehen, die das nicht hinnehmen. Der neue Papst Franziskus – wir haben ihn eben begraben – reist auf seiner ersten Auslandsreise nach Lampedusa und spricht in die Ohren der Welt hinein das Wort von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ und ruft dazu auf, Menschlichkeit zu zeigen. Zivile Seenotretter zeigen Mut und diese Menschlichkeit, indem sie das tun, was die europäischen Staaten verweigern, nämlich das schlicht Selbstverständliche: Menschen in Lebensgefahr zu retten.
Und in die Kirchen kommt Bewegung. Spitzenvertreter fahren nach Palermo. Besuchen das von den italienischen Behörden festgesetzte Seenotrettungsschiff Seawatch 3. Sandra Bils sagt als Predigerin im Schlussgottesdienst des Dortmunder Kirchentags den Satz: „Man lässt niemanden ertrinken. Punkt!“. Die EKD gründet wenig später das Bündnis „United4Rescue“ – „Gemeinsam retten“ - zur Unterstützung der Seenotrettung. Und heute gehören ihm 960 Organisationen an – aus Deutschland und weit darüber hinaus. Über 10 000 Menschen helfen mit ihren Spenden. Und es macht einen Unterschied: Viele Tausend Menschen sind von den inzwischen vier Schiffen und einem Suchflugzeug, die das Bündnis unterstützt, gerettet worden.
Zusammen haben sie alle die Ohnmacht durchbrochen.
Wir wissen nicht, wie es den Menschen ergangen ist, für die Jesaja von 2700 Jahren die Stimme erhoben hat. Aber wir wissen, dass die Hoffnung, die er zum Ausdruck gebracht hat, nicht in den Wind gesprochen war, sondern konkrete Gestalt angenommen hat.
„Wenn der Bedränger ein Ende hat, der Verwüster aufhört und der Bedrücker aus dem Lande muss, dann wird ein Thron bereitet werden aus Gnaden, dass einer in Treue darauf sitze in der Hütte Davids und richte und trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit.“
Es ist die Hoffnung auf den Messias, die dem Volk Israel immer wieder Kraft gegeben hat, auch in den schweren Zeiten die Hoffnung nicht zu verlieren. Wir Christinnen und Christen glauben, dass diese Hoffnung in Jesus von Nazareth, dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, menschliche Gestalt angenommen hat. Wir vertrauen darauf, dass wir in diesem Christus in die alte Hoffnung des Volkes Israels mit hineingenommen sind, dass am Ende nicht die Gewalt siegt, dass die Verzweiflung der Opfer nicht das letzte Wort ist, dass ihr Leiden nicht dem Vergessen anheimfällt, sondern ein neuer Himmel und eine neue Erde kommt, in dem kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz mehr ist, und alle Tränen abgewischt sind. Er hat die Armen, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die Sanftmütigen, die Friedensstifter seliggepriesen. Er hat sich an die Seite der Flüchtlinge gestellt und in seiner großen Vision vom Weltgericht gesagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“
Der, von dem Jesaja sagt, er „trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit“, er ist es, auf den wir unsere Hoffnung setzen, er hat in seiner menschlichen Existenz gezeigt, dass ein Leben in der Liebe, ein Leben in der Barmherzigkeit, ein Leben in der Gerechtigkeit möglich ist. Und er hat über zwei Jahrtausende hinweg unzählige Menschen inspiriert, in seine Nachfolge zu treten und ihn in ihrem eigenen Leben zu bezeugen.
Was das bedeutet, hat Dietrich Bonhoeffer in einem Dreiklang beschrieben. Christliche Existenz heißt „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Zeit.“
Im Beten reden wir mit Gott. Wir bringen wir unser Leid, unsere Ohnmacht, unsere unbeantworteten Fragen, unsere Hoffnung vor ihn. Und wir hören auf Gott. Wir hören auf Gott, um Klarheit, Richtung und Orientierung zu bekommen für unseren Weg.
Im Tun des Gerechten bezeugen wir den, zu dem wir beten, in der Welt. Seine Liebe, seine Barmherzigkeit, seine Gerechtigkeit. Ohne das Tun des Gerechten gibt es kein echtes Beten.
Der gleiche Prophet Jesaja, der dem Leid der Geflüchteten eine Stimme gibt, stellt an anderer Stelle mit scharfen Worten einen religiösen Kult bloß, der das Tun des Gerechten einfach ignoriert: „Wollt ihr das ein Fasten nennen“ – sagt er – „und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen“ (Jes 58, 5-8).
Und später wird Jesus, inspiriert durch solche Worte, seine ganze Hebräische Bibel, und in Erfüllung der Messiashoffnung, die sie zum Ausdruck bringt, sagen: “Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40).
Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der auf Hilfe wartet, für ein würdevolles Leben in den Armenvierteln und den Flüchtlingslagern dieser Welt? Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der droht im Mittelmehr zu ertrinken, weil Europa nicht hilft und sogar zivile Rettungsboote an der Hilfe hindert? Was, wenn es wirklich Christus selbst ist, der uns in einem Kind im Sudan, in Haiti oder auch in Gaza, begegnet, das nicht genug zu essen hat, um zu überleben?
Diese Fragen zu stellen und sich anrühren zu lassen von der Not Anderer, ist nicht der Katalysator für ein schlechtes Gewissen. Es ist das Gegenteil: Es ist der Türöffner für ein erfülltes Leben. Es ist der Weg zu Frieden und Geschwisterlichkeit. Das ist die Quelle der Heilung, denn „dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten.“
Beten und Gerechtigkeit üben – das sind die ersten beiden Teile des Dreiklangs, um Salz der Erde und Licht der Welt zu sein. Und das Dritte ist: das „Warten auf Gottes Zeit“.
Ohne dieses Dritte könnte ich in diesen Tagen nicht leben. Wann, oh wann, hört dieses Leiden endlich auf!? Wann kommt all die sinnlose Gewalt an ihr Ende!? Wann können alle Kinder dieser Welt, die mit Tränen säen, endlich mit Freuden ernten und eine unbeschwerte Kindheit und ein Leben in Würde leben!?
Das Warten ist schwer. Die Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Aber Gottes Zeit kommt. Dann hat der Bedränger ein Ende, der Verwüster hört auf und der Bedrücker muss aus dem Lande, dann wird ein Thron bereitet werden aus Gnaden, dass einer in Treue darauf sitze in der Hütte Davids und richte und trachte nach Recht und fördere Gerechtigkeit.“
Aus dieser Hoffnung leben wir.
AMEN