1. Anstimmen
"Paulus und Silas im Gefängnis“ überschreibt die Lutherbibel den Abschnitt für die Predigt am Sonntag Kantate.
Als Unruhestifter bezichtigt, waren die beiden Boten eines neuen Glaubens in Philippi gedemütigt und öffentlich ausgepeitscht worden, nachdem sie die Belegschaften ganzer „Häuser“ getauft hatten. In einem erbärmlichen Zustand werden sie dem Gefängnisvorsteher übergeben (Luther übersetzt: „Kerkermeister“). Der sperrt sie befehlsgemäß in den „innersten“ Bereich des Gefängnisses, eine Art Arrest. Wehrlos, die Füße im Block, gefesselt und geschunden, das sollen die Boten eines mächtigen Gottes sein!
Mit Wunden, Schmutz und Schmerzen bis an die Tränengrenze harren sie Stunde um Stunde aus. Die Zeit zerrinnt als kaltes, stummes Nichts. Kein Fenster, kein Licht, kein Himmel.
Aber dann, kaum zu glauben, fangen sie an zu singen. Sie stimmen Psalmen an, Loblieder, Gebete. Vertraute Gesänge, die sie von Kindesbeinen an buchstabiert und eingeübt haben. Verse, Worte, Sätze, Bilder, die in Fleisch und Blut, in Sinn und Wesen übergegangen sind. Ein kostbares Gepäck haben sie gesammelt, bewahrt und in die Zelle geschmuggelt, und nun bewahrt es sie.
Hinter einer Zellentür bleibt nichts, wie es ist. Alles ändert sich sofort. Das Warten. Die Gewohnheit. Die Träume. Die Geräusche. Die Gerüche. Die Sehnsucht. Die Erinnerung. Die Wut. Selbst die Angst. Aber die Lieder nicht. Jedenfalls nicht gleich.
Die beiden Häftlinge legen Gedanken und Gebete zusammen, ihren „Gesang tief innen“, den „Cante Jondo“, wie man in Lateinamerika das Unzerstörbare nennt, das alle in sich tragen, eine lebenslang gelernte, kindlich ernste Liturgie, die alles und alle zum Weinen, zum Lachen oder eben zum Singen bringen kann. Man kann, bei Bedarf, schnell und unbemerkt eine ganze Welt in sich hinein singen.
Doch dann, mitten in den Liedern, ist es, als schrien die Steine dazwischen. Die Wände, die Nacht, die Ketten, alles schreit. Selbst die Stille schreit. Die Riegel krachen, die Türen springen auf. Die Erde bebt.
Paulus und Silas hören sich weitersingen. Vom Ende der Angst und vom Anfang der Freiheit.
2. Einstimmen
Aber sie singen nicht nur für sich.
Es wird erzählt, dass im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Berlin-Pankow Anfang der achtziger Jahre ein Theologiestudent und seine Verlobte eingesperrt wurden. Im ganzen Knast herrschte eisige Stille. Rufen oder Klopfsignale waren mit Androhung von Arrest verboten. Die Zellenfenster gingen auf einen Innenhof und waren mit Glasbausteinen vermauert. Zu hören war nur das Singen der Schlüssel und das Krachen der Riegel in den Gängen, dazu die schleichenden Schritte der Bewacher. Vor und nach der Essensausgabe klapperten die Blechschüsseln auf den Wagen. Sehr schnell hatte man als Neuzugang die interne Partitur gelernt. Man horchte die Abläufe ab und erkannte, wann die Flure in den Zellentrakten nur mit wenig Bewachern besetzt waren. Etwa abends beim Schichtwechsel oder an Sonn- und Feiertagen. Dann hieß es warten, bis der Posten auf dem Gang sich weit genug entfernt hatte. Flugs wurde ein Hocker ans Fenster gerückt, um den Luftschacht zwischen den Glasbausteinen zu erreichen und ein paar schnelle Worte und Botschaften über den Hof zu rufen. Mit etwas Übung konnte man ein paar Sätze im Wechsel gut zu Ende bringen, ehe der Posten innen im Gang oder auf der Galerie orten konnte, woher der Gesang kam. An einem Sonntagabend hörte man eine Männerstimme über den Hof singen:
„Du lass dich nicht verhärten
in dieser harten Zeit.“
Und aus dem gegenüberliegenden Frauentrakt kam prompt die zarte, aber bestimmte Antwort:
„Die allzu hart sind brechen,
die allzu spitz sind, stechen
und brechen ab sogleich.“
Der Jubel aus vielen Zellen gleichzeitig verwischte alle Tonspuren. Und die beiden wechselten schnell weitere Liedzeilen:
„Du lass dich nicht verbittern
in dieser bittern Zeit!
Die Herrschenden erzittern,
- sitzt du erst hinter Gittern -
doch nicht vor deinem Leid!“
Kein Lobgesang, denn der hätte den heimlichen Sänger sofort kenntlich gemacht. Aber geheiligt, denn dieser weltliche Choral bot genügend Raum für sehr unterschiedliche Hoffnungen. Viele Gefangene konnten die „Ermutigung“ von Wolf Biermann längst auswendig, andere übten sich vorsichtig hinein in dieses abendliche Singen. So wurde ihnen das Lied zu einem Stück „Seelenbrot“. Sie trauten sich nun, mit den vertrauten Worten gegen ihre Ohnmacht anzusingen. Und gegen die Steine.
Das Ende der Angst ist der Anfang der Freiheit.
3. Zustimmen
Paulus und Silas singen bis die Erde bebt und die Türen aufspringen und die Mauern stürzen. Was sie niemals zu hoffen wagten, auch nicht in ihren kühnsten Liedern, geschah nun vor ihren Augen.
Nicht nur die Macht der Gewohnheit, auch die Macht der Mächtigen kann sich auflösen und dann in einem einzigen Augenblick zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Für den verzweifelten Gefängnisaufseher vor den Ruinen seiner Zwingburg steht nicht nur die Zukunft auf dem Spiel, sondern die Welt auf dem Kopf. Dass die Gefangenen angesichts der offenen Zellentüren nicht längst aus ihren Löchern geflohen sind, gibt der Geschichte eine besondere Pointe. „Wir sind alle hier!“ ruft Paulus dem ohnmächtigen Machthaber zu.
Manchmal erfährt die eigene Lebenswelt eine grundlegende Veränderung. Sie bebt. Alle Türen springen auf. Und dann regiert ein ganz anderer, ein heiliger Geist und
„…das Gefängnis wird gefangen“ (Luther).
Ich selbst habe diesen anderen, den Heiligen Geist nur ein einziges Mal gesehen, ausgerechnet im Fernsehen und in Schwarzweiß. Das war im Oktober 1989. Die westliche Kamera nahm in Leipzig eine Gruppe junger Leute ins Visier, die sich im Angesicht aufgefahrener Panzerwagen und einer Hundertschaft Kampfgruppen zitternd vor Angst und Ohnmacht an ein paar Kerzen wärmten. Noch war gar nicht sicher, ob die Panzer im nächsten Augenblick diesen zärtlichen Aufbruch in ein Blutbad verwandeln würden. In diesem Moment fingen die Jugendlichen an zu singen. Und was sie sangen, vergesse ich nie. Die letzte Strophe des alten Pfingstliedes ”Nun bitten wir den Heiligen Geist”, das Martin Luther 1524 seiner verzagten Christenheit an den Rand der Bibel schrieb, und das, wie weniges sonst, dieser Situation standhielt:
„Du höchster Tröster in aller Not,
hilf dass wir nicht fürchten Schand noch Tod,
dass in uns die Sinne nicht verzagen,
wenn der Feind wird das Leben verklagen.
Kyrieleis.”
Das Ende ist bekannt. Der Heilige Geist ließ sich nicht lange bitten. Die Panzer zogen ab. Vier Wochen später standen alle bis dahin scharf bewachten Türen und Tore des Arbeiter- und Bauernstaates sperrangelweit offen. Alle konnten das Gefängnis verlassen. Die meisten aber blieben da und bauten aus Hoffnungen und Ruinen ihre Welt neu: „Wir sind alle noch hier!“ Geblieben ist auch die kostbare Botschaft dieser jungen Menschen und ihrer Kerzen vor der Machtzentrale.
„Wo der Geist Gottes ist, ist Freiheit!“, buchstabierten sie dem erstaunten Fernsehpublikum vom Straßenpflaster aus vor. Und „Zaungästen“ wie mir steckten sie auch noch ein anderes Licht auf: Zeiten wahrer Freiheit gibt es oft nur als Früchte schwerer Leiden. Weder Glaube, noch Liebe, noch Hoffnung sind Produkte unserer eigenen Pflanzung. Es sind und bleiben Geschenke des Heiligen Geistes. Der stört bisweilen alle Übereinkünfte. In gedankenlose Zeiten kommt er nicht als Anwalt oder Tröster, sondern als Feind und Gegner, als die wahre, echte Krise. In hastige Antworten kommt er als besonnene Frage, in vertraute Lebenslügen als erschütternde Wahrheit. Er kommt als Gedächtnis ins Vergessen und als Auferstehung in die Todeswelt. In der Zustimmung gibt er sich zu erkennen: als Ende der Angst und als Anfang der Freiheit.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine rege Kleinstadtgemeinde mit Chor, Posaunen und Band. Die Gottesdienste sind gut besucht. Am Sonntag Kantate gestalten alle musikalischen Gruppen den Gottesdienst mit, was auch altersmäßig für eine gute Vielfalt sorgt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Worte eines sehr prominenten Gefangenen, des späteren tschechischen Präsidenten Vaclav Havel, etwa dieses:
„Jedes Wort enthält auch die Person, die es ausspricht, die Situation, in der sie es ausspricht, und den Grund, warum sie es ausspricht.“
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Lieder und Gebete stärker sein können als alle Angst.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
„Ist das nicht zu persönlich?“ war meine dauerhafte Frage beim Schreiben. Die Predigtvorbereitung verlangt sehr intensive Auseinandersetzungen mit der Gefängnissituation. Das ist immer ein Wagnis. Bei mir weckte es Erinnerungen an eigene Erfahrungen (DDR-Haft). Mein Coach hat mich durch seine behutsamen Anmerkungen dazu ermutigt, den Bibeltext mit diesen Erfahrungen fortzuschreiben und die grundlegende Veränderung der Lebenswelt (in der Haft) durch Singen und durch Gebete zu schildern.