Predigttext kann als Lesung gelesen werden oder zu Beginn der Predigt. Ich empfehle die verkürzte Variante, also: Johannes 16, 23b-28.33
Liebe Kirchgängerinnen und Kirchgänger,
wisst Ihr eigentlich, wie mutig ihr seid?
Es braucht schon eine gehörige Portion Mut, um am heutigen Sonntag „Rogate - Betet“ in den Gottesdienst zu gehen. In den Gottesdiensten nach Ostern wird ja gejubelt und gejodelt zu Jubilate – Jubelt. Gesungen und musiziert zu Kantate – Singt. Bis Pfingsten wird die österliche Freunde in vollen Zügen ausgekostet und gefeiert. An diesem Sonntag „Rogate – Betet“ ist es allerdings anders.
Dass im Gottesdienst öffentlich und gemeinsam gebetet wird, das wissen alle, die zum Gottesdienst kommen – und das wissen auch die, die nicht kommen. Aber am 5. Sonntag nach Ostern wird nicht nur gemeinsam gebetet, sondern darüber gesprochen, was es heisst zu beten. Und dafür, so meine ich, braucht es ziemlich viel Mut. Im stillen Kämmerlein, ungesehen für sich zu beten, das ist das eine. Am Sonntag in der Kirche die Hände zu falten, still zu werden und mitzubeten, das andere. Aber um über das Beten öffentlich nachzudenken, dazu braucht es wirklich Mut. Denn Beten ist irgendwie ein verschämtes Thema, über das wir nicht so gern sprechen. Beten wird als peinlich empfunden. Denn im Beten zeigen wir etwas von uns und unserer Frömmigkeit – und das ist mit Scheu und Scham verbunden. Ich erinnere mich noch gut, an die Gesichter unserer Kinder als sie noch kleiner waren, wenn andere Kinder bei uns zum Essen waren. Ich sehe noch die sorgenvollen Blicke und die Unruhe der Kinder kurz vor dem Beginn des Essens. Hoffentlich sprechen die Eltern jetzt nicht noch ein Tischgebet.
Ich freue mich sehr, dass Ihr heute trotzdem zum Gottesdienst gekommen seid, obwohl über das Beten gesprochen wird. Oder schaut Ihr vorher gar nicht nach, worum es im Gottesdienst gehen wird und seid ganz unbekümmert einfach so gekommen, unwissend und ahnungslos sozusagen?
Wie dem auch sei. Ihr seid hier und wir stellen uns dem Beten, dieser so besonderen religiösen Praxis, die uns auf jeden Fall nicht kalt lässt, sondern in die eine oder andere Richtung bewegt. Beten hat immer etwas leidenschaftliches. Mit kaltem Herzen und kühlem Kopf lässt sich nicht beten. Beim Beten sind wir ganz dabei oder wir beten gar nicht. Ohne innere Beteiligung läuft beim Beten nichts.
Ein junger Mönch wendet sich an Antonius, einen alten und erfahrenen Mönch, und spricht zu ihm: "Antonius, bete für mich!"
Antonius erwidert: "Weder ich habe Erbarmen mit dir, noch Gott, wenn du dich nicht selbst anstrengst und Gott bittest." (Weisung der Väter. Apophtegmata patrum, hrgss. von Bonifaz Miller, S. 18)
Ganz schön hart, was der junge Mönch da von Antonius zu hören bekommt. Kein bisschen Mitgefühl oder Solidarität unter Mönchen. Statt dessen eine gehörige Lektion in Sachen Beten, die sich gewaschen hat:
„Weder ich habe Erbarmen mit dir, noch Gott, wenn du dich nicht selbst anstrengst und Gott bittest.“
Der junge Mönch wird mit hängenden Schultern von dannen gegangen sein so wie wir mit hängenden Schultern davon gehen, wenn wir wissen: jetzt wartet harte Arbeit auf uns. Der junge Mönch weiß: Vor der Anstrengung des Betens kann ich mich nicht drücken.
Beten ist anstrengende Arbeit des Christenmenschen. Martin Luther sagte: „Wie ein Schuster einen Schuh macht und ein Schneider einen Rock, also so soll ein Christ beten. Eines Christen Handwerk ist beten.“ (WA TR,6, Nr. 6751, 162,35f)
Offenbar ist das Beten etwas, bei dem wir uns nicht vertreten lassen können, das wir nicht auf andere abwälzen können, wie kochen und backen, einkaufen und Rasen mähen: Kannst du das nicht für mich machen?
Nicht andere Mitchristen, nicht Freunde, nicht einmal die KI kann für uns beten, so dass wir es nicht mehr müssen. Beim Beten sind wir selbst ganz und gar, mit Haut und Haar, mit Herz- und Pulsschlag gefragt, weil es um uns geht. Weil es in einer so intensiven Art und Weise um uns geht, dass es unsere Worte, unser Seufzen, ja sogar unsere Sprachlosigkeit vor Gott braucht. Auch wenn wir vor Gott kein einziges Wort herausbringen, braucht es unser Schweigen.
Für mein Gebet kann nur ich mich an Gott wenden von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Was geschieht im Gebet, dass es ohne unsere ganze innere Beteiligung nicht geht?
Paul fährt sich nervös durch die Haare, blickt auf die Uhr und zur Tür, durch die gleich der Chef kommen wird. Um 11 Uhr sollte Paul beim Chef erscheinen, ohne genau zu wissen, worum es geht. „Bitte nicht – bitte nicht“, murmelt Paul leise vor sich hin. Da öffnet sich die Tür.
Petra spielt mir ihrer Enkelin auf dem Spielplatz. Lustig geht es zu und immer und immer wieder und wieder will die Kleine rutschen. "Setz dich schon mal nach oben, ich hole noch eben deine Trinkflasche, sagt Petra und wendet sich ab." Da hört sie schon, wie die Kleine von der Rutsche gefallen ist. Einen Moment lang ist es ganz still. Dann schreit sie aus Leibeskräften. „Puh“ macht Petra, als sie die Kleine tröstet, die sich zum Glück nichts getan hat.
Hanna sitzt mit ihrer Freundin im Café und erzählt ihr von den Sorgen, die sie plagen, dass einfach alles zu viel ist: Die Arbeit, die Kinder, die Schule. Die beiden schweigen. Dann sagt Hanna: Aber was hilfts: „Es muss ja.“
Martin steigt aus dem Zug und setzt seinen Rucksack auf. Endlich geht es los. Er hat es geschafft, sich einen Tag frei zu nehmen, um wandern gehen zu können. Er hebt den Blick und sieht die Berglandschaft vor sich: „Wahnsinn“, sagt er, „so unglaublich schön.“
Was geschieht hier mit Paul, Petra, Hanna, und Martin im Büro des Chefs, auf dem Spielplatz, im Café und auf dem Bahnsteig?
Vier Alltagssitutationen, die uns wahrscheinlich ziemlich vertraut sind.
Bitte nicht!
Puh!
Es muss ja!
Wahnsinn, so unglaublich schön!
Vier unterschiedliche ganz kurze Reaktionen auf das, was den einzelnen widerfährt:
Die Anspannung vor einem Gespräch, das große Konsequenzen haben könnte.
Die Erleichterung, dass nochmal alles gut gegangen ist.
Die Klage über das, was einfach zu viel ist.
Und das erfreute Staunen über so viel Schönheit.
Vier kurze Gebete, in denen etwas erbeten wird, gedankt wird, geklagt und gelobt wird.
Aus dem Alltag heraus das Alltägliche übersteigen und der inneren Spannung und Anspannung Luft machen im Bitten, Danken, Klagen und Loben. Das ist beten. Wenn das Fundament, das unseren Alltag trägt, Risse bekommt;
wenn der Boden, auf dem wir normalerweise fest stehen, beginnt zu wanken, dann beginnt unser Gebet. Dann wenden wir uns bewusst oder unbewusst, ausgesprochen oder unausgesprochen an die Mächte und Kräfte, von denen wir wissen, dass sie unser Lebensfundament und den Boden, auf dem wir stehen, tragen. Auf einmal blicken wir aufs Ganze.
Im Bitten, Danken, Klagen und Loben verlassen wir den von uns gehüteten und kontrollierten Einflussbereich. Wir verlassen unser Ich und wenden uns an das Du, das jenseits unseres Einflusses waltet und trägt und erhält. Im Beten gestehen wir uns ein, dass wir über uns hinaus müssen, weil die Situation, weil das, was wir erleben, mehr erfordert als wir vermögen. Im Gebet gestehen wir unsere Ohnmacht, unsere Hilflosigkeit; wir erkennen die Grenzen dessen, was wir tun können. Und darum ist beten so schwierig und voller Scham. Der Beter ist arm. Die Beterin ist hilflos.
Im Gebet zeigen wir, dass wir nichts mehr tun können. Uns sind im wahrsten Sinne des Wortes die Hände gebunden. Was uns bleibt ist die Hinwendung zu Gott, der über uns hinaus geht.
Bitte nicht!
Puh!
Es muss ja!
Wahnsinn, so unglaublich schön!
"Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei." So heißt es in den Abschiedsreden Jesu, die wir vorhin gehört haben.
Ihr dürft Euren himmlischen Vater bitten und er wird Euch geben, was euch fehlt. Jesus ermutigt uns zum Beten, damit unsere Lebensfreude aufblüht, sichtbar und spürbar wird.
Wenn ich es schaffe, meine Hände zu falten und meine Erschöpfung, meine Verzweiflung oder meine Angst vor Gott zu bringen – seufzend, klagend, bittend, wortlos, um Worte ringend – wie auch immer, beginnt in diesem Moment des Eingestehens etwas Neues. Ich verstecke das, was geschieht, nicht mehr vor mir und anderen. Ich bin bereit, mir selbst einzugestehen, wo ich stehe. Und von diesem Moment an kann vieles anders werden und sich wandeln. In solchen Momenten blicken wir auf das Gewebe des Lebens, auf die vielen Fäden, die mein Leben mit dem Leben im Ganzen verbinden. Wir wenden uns an den, der für dieses vielschichtige Ganze steht und als Muster dieses Gewebes erkennbar wird. Gott sieht und hört mich und ich höre auf, mir vorzumachen, ich könnte in meinem Leben und in meiner Welt alles alleine bestimmen und stemmen. Das tut weh und ist befreiend zu gleich, weil im Gebet unsere falschen Selbstbilder in sich zusammen fallen und es beginnt eine Lebensfreude, die aus dem Verwobensein mit anderen erwächst.
"Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei."
Beten ist vor allem mutig. Weil es mutig ist, zuzugeben, nicht alle Fäden des Lebens allein halten zu können. Deshalb schreiben wir diesen Mut dem Heiligen Geist zu. Kurze Gebet im Alltag wie
Bitte nicht!
Puh!
Es muss ja!
Wahnsinn, so unglaublich schön!
sind deshalb Geistesblitze. Mutige Geistesblitze.
Und vielleicht war es ja heute ein Geistesblitz, der Euch in diesen Gottesdienst geführt hat. Damit Ihr mutig bleibt im Bitten, Danken, Klagen und Loben. Und auch hin und wieder den Mut habt, über das Beten öffentlich nachzudenken.
"Bittet, und ihr werdet empfangen, damit eure Freude vollkommen sei."
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der 5. Sonntag nach Ostern ist für die meisten Kirchgänger/innen kein besonderer Sonntag, so dass eher mit einem normalen Gottesdienstbesuch zu rechnen ist. Gerade deshalb versucht die Predigt, die Mitfeiernden in besondere Weise auf das aufmerksam zu machen, was ein Gottesdienstbesuch an diesem Sonntag bedeutet.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das kleine Büchlein „Mild religiös“ von Kristian Fechtner bietet eine wunderbare kleine Phänomenologie des Betens, die ich aufnehme. Zugleich gibt es einen wunderbaren Aufsatz von E. Jüngel zum Beten: Was heisst beten? in: ders: Wertlose Wahrheit.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Beim Beten bekommt der Alltag Risse und es zeigt sich, was sonst eher verborgen bleibt: Das ganze Gewebe des Lebens. Diesen besonderen Augenblicken nachzugehen, hat mich sehr beschäftigt. Und wer genau hinschaut, sieht und hört wie viel gebetet wird.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Leider war ich diesmal mein eigener Coach. Ich hoffe, die Predigt hat dennoch ein paar gute Momente...