Liebe Gemeinde,
ich kann’s nicht leugnen: Ich würde gerne die Welt verstehen. Und dabei meine ich die ganze: das Universum, den unvorstellbar großen Kosmos. Zwar bin ich kein Physiker, aber ich höre mit offenem Mund zu, wenn Wissenschaftler*innen über Raum und Zeit reden. Vor ein paar Wochen habe ich mir, wieder mal, ein Buch gekauft, dessen bloßer Titel mich in Bann gezogen hat: „Im Paralleluniversum. Eine kosmologische Reise vom Big Bang in die 11. Dimension“. Ich versuche nicht zu erklären, worum es darin geht (ich bin nicht sicher, ob ich es selbst verstanden habe), aber ich lese Ihnen mal den Klappentext vor: „Der heißeste Kandidat auf der Suche nach der alles erklärenden ‚Weltformel‘ der Physik ist seit einigen Jahren die ‚M-Theorie‘ … Sie beschreibt unser Universum als eine Blase, die in einem sich ausbreitenden elfdimensionalen Multiversum treibt. Was bedeutet das für unser Verständnis und unser Bild von der Welt?“
Puh: ein elfdimensionales Multiversum. Nein, ich kann Ihnen nicht erklären, was das bedeutet für uns, die wir meist mit zwei Beinen auf dem Boden stehen. Aber: Ich biete Ihnen heute Morgen eine andere Antwort an, auf die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und wer sich darauf einlässt, so heißt es im Predigttext von heute, der wird „begreifen, was die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist.“ Willkommen im vierdimensionalen Multiversum der Bibel!
Der Abschnitt aus dem Epheserbrief im Neuen Testament ist selbst nicht leicht. Er bildet den Abschluss einer langen theologischen Argumentation des Apostels. Im Zentrum steht der Gedanke der Fülle: Gott umfasst Himmel und Erde mit ihrem ganzen, unermesslichen Reichtum. Und dieser kosmische Reichtum konzentriert sich in Jesus Christus. Er wird erlebbar in der Liebe Christi. Hören wir, wie der Apostel vom Argumentieren ins Beten wechselt, denn das, was ich jetzt lese, ist eigentlich ein Gebet – aus Epheser 3:
14 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater,
15 von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat,
16 dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen,
17 dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet,
18 damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist,
19 auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt.
20 Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt,
21 dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Puh. Sprachlich hat dieser Text es in sich. Im originalen Griechisch bestehen zwei Drittel des Abschnittes aus einem einzigen Satz. Inhaltlich aber ist das, was er sagen will, gar nicht so schwer, nein, im Grunde kinderleicht. Leicht wie im Kinderlied. Viele von Ihnen kennen das:
Gottes Liebe ist so wunderbar,
Gottes Liebe ist so wunderbar,
Gottes Liebe ist so wunderbar.
So wunderbar groß!
So hoch, was kann höher sein?
So tief, was kann tiefer sein?
So weit, was kann weiter sein?
So wunderbar groß!
Wenn Sie das Lied, das auf die Melodie des Spirituals „Rock my soul in the bosom of Abraham“ gesungen wird, kennen, wissen Sie: es ist ein Bewegungslied. Ein Mitmachlied. Wer in den letzten Jahrzehnten einen Familiengottesdienst besucht hat, weiß Bescheid: Bei „so hoch“ stellt man sich auf die Zehenspitzen und reckt sich, soweit es geht. Und bei „so tief“ macht man sich ganz klein und berührt den Boden. Bei „so weit“ strecken alle die Arme auseinander, bis es nicht mehr geht.
[Je nach Gemeinde: Wir machen das mal!]
Das ist nicht einfach Gymnastik und Kinderspaß.
Das mit der Liebe Gottes wird durchgespielt am eigenen Leib. Diese Liebe ist größer als ich, viel größer. Sie neigt sich so tief herab, dass es mir Mühe macht mitzukommen. Und sie ist so weit, dass sie meinen Horizont sprengt. Nach der Liebe Gottes muss ich mich strecken in alle Richtungen: in die Breite, in die Höhe, in die Länge, in die Tiefe. Gottes Liebe überschreitet menschliche Begrenzungen und will immer weiter hinaus vom Nächsten zum Fernsten.
Darum geht es auch im Epheserbrief: Gottes Liebe ist das Geheimnis der Welt, der Grund all dessen, was existiert. Verstehen kann ich das aber nur, wenn ich mitmache. Wenn die Liebesfülle Christi in mein eigenes Herz einströmt und sich in mir selbst ausbreitet. Das sind mystische Ideen: Die Fülle Gottes kommt in mich hinein, verändert mich – und zugleich bin ich Teil von ihr; in ihr „gegründet“, wie der Apostel schreibt. Gottes Liebe breitet sich aus: erst in uns, dann durch uns. Und in dieser Dynamik erschließt sich uns die Welt, in ihrer ganzen Fülle.
Schwer zu begreifen? Nur, wenn man an der Theorie hängen bleibt. Der Apostel betet, dass alle – alle seine Leser*innen und Zuhörer*innen, wir auch! – in der Praxis erleben mögen, was er selbst erlebt hat.
Wer nicht bloß über die Liebe Christi sinniert, sondern selbst liebt, der versteht sie, die Liebe. Und der versteht die Welt. Wer liebt, begreift die Welt – immer mehr. Mit ihrem göttlichen Geheimnis. In allen ihren Dimensionen. In der Breite, der Länge, der Höhe, der Tiefe.
Du lädst die Frau von Gegenüber, die kürzlich ihren Mann verloren hat, zum Essen ein – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du nimmst der immer müden Nachbarin einen ganzen Nachmittag die Kinder ab – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du wirfst dem Bettler an der Brücke nicht bloß einen Euro in den Becher, sondern fragst ihn, wie’s ihm geht – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du rufst spontan die alte Schulfreundin an, von der Du 15 Jahre nichts gehört hast – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du gehst mit dem jungen Mann aus Somalia aufs Amt und hilfst ihm die Anträge auszufüllen – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du lässt Dein Geld nicht „für Dich arbeiten“, sondern steckst einen Teil davon in ein Schulprojekt im Libanon – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du denkst nicht mehr darüber nach, was andere Dir schulden, sondern wie Du Menschen eine Freude machen kannst – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Ich gebe zu: diese Art von Weltverstehen ist etwas ganz anderes als zum Beispiel Astrophysik. Aber es geht dabei genauso um die Wirklichkeit, in der wir leben, wie in der Wissenschaft. Nur aus einer anderen Perspektive, mit einem anderen Fokus.
Mir fällt ein zweites, nun ja: neueres Kirchenlied ein, das eine ziemlich freche Strophe enthält: das Lied „Herr gib uns Mut zum Brücken bauen“ von Kurt Rommel. Eine Zeile darin lautet:
„Ich will nicht zum Mond gelangen / jedoch zu meines Feindes Tür.“
Das wurde 1963 geschrieben, in einer Zeit des Wirtschaftswachstums und des sich ausbreitenden Technik-Optimismus. Ich war noch nicht dabei, aber stelle mir vor, dass die Menschen von einer möglichen Mondlandung genauso elektrisiert waren wie wir von Smartphones und KI.
Die Mondlandung kam, Feindschaft und Hass blieben.
Als Christinnen und Christen stehen wir dafür ein, dass die wirklichen Herausforderungen dieser Welt nicht vergessen werden. Wir stehen dafür ein mit unserer Botschaft von der Grenzen überschreitenden Liebe Gottes. Wir stehen dafür ein mit unserer Hoffnung und mit vielen kleinen konkreten Schritten.
Ob Elon Musk zum Mars kommt, lässt den Kosmos kalt. Aber alles, was wir in Liebe tun, bringt ihn zum Schwingen. Und lässt uns mehr und mehr die Welt verstehen. Um Christi willen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich halte diese Predigt in einer deutschsprachigen Auslandsgemeinde mit hohem Akademikeranteil. Da in diesem Fall der Altersdurchschnitt relativ hoch ist, werde ich wohl auf das Singen des Bewegungsliedes verzichten… Die Gemeinde ist sowohl intellektuell anspruchsvoll als auch vielfältig diakonisch engagiert: der Gedanke „Verstehen durch Lieben“ könnte dort Resonanz finden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hängen geblieben bin ich an dem rätselhaften „die Breite, die Länge, die Höhe, die Tiefe begreifen“, für das es offenbar keine ganz eindeutige Erklärung gibt. Das schlichte Lied „Gottes Liebe ist so wunderbar“ hat mir dann einen assoziativen Zugang ermöglicht.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich lese im Epheserbrief eine Mystik der sich ausdehnenden, ausbreitenden Liebe Gottes, in die wir als Christinnen und Christen hineingezogen werden. Sie steht im Gegensatz zu unserem Bedürfnis, Liebe zu begrenzen (oder gar zu hierarchisieren wie kürzlich der US-Vizepräsident Vance mit der Behauptung eines christlichen ordo armoris).
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach wollte es (wie immer) noch konkreter und schlug vor, die Beispiele des „Verstehens durch Liebe“ an den Schluss zu stellen. Das hat für mich nicht funktioniert; ich habe aber den Teil danach verkürzt und vereinfacht sowie die Beispiele überarbeitet.