Weltgeheimnis zum Mitmachen - Predigt zu Eph 3,14-21 von Olaf Waßmuth
Liebe Gemeinde,
ich kann’s nicht leugnen: Ich würde gerne die Welt verstehen. Und dabei meine ich die ganze: das Universum, den unvorstellbar großen Kosmos. Zwar bin ich kein Physiker, aber ich höre mit offenem Mund zu, wenn Wissenschaftler*innen über Raum und Zeit reden. Vor ein paar Wochen habe ich mir, wieder mal, ein Buch gekauft, dessen bloßer Titel mich in Bann gezogen hat: „Im Paralleluniversum. Eine kosmologische Reise vom Big Bang in die 11. Dimension“. Ich versuche nicht zu erklären, worum es darin geht (ich bin nicht sicher, ob ich es selbst verstanden habe), aber ich lese Ihnen mal den Klappentext vor: „Der heißeste Kandidat auf der Suche nach der alles erklärenden ‚Weltformel‘ der Physik ist seit einigen Jahren die ‚M-Theorie‘ … Sie beschreibt unser Universum als eine Blase, die in einem sich ausbreitenden elfdimensionalen Multiversum treibt. Was bedeutet das für unser Verständnis und unser Bild von der Welt?“
Puh: ein elfdimensionales Multiversum. Nein, ich kann Ihnen nicht erklären, was das bedeutet für uns, die wir meist mit zwei Beinen auf dem Boden stehen. Aber: Ich biete Ihnen heute Morgen eine andere Antwort an, auf die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und wer sich darauf einlässt, so heißt es im Predigttext von heute, der wird „begreifen, was die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist.“ Willkommen im vierdimensionalen Multiversum der Bibel!
Der Abschnitt aus dem Epheserbrief im Neuen Testament ist selbst nicht leicht. Er bildet den Abschluss einer langen theologischen Argumentation des Apostels. Im Zentrum steht der Gedanke der Fülle: Gott umfasst Himmel und Erde mit ihrem ganzen, unermesslichen Reichtum. Und dieser kosmische Reichtum konzentriert sich in Jesus Christus. Er wird erlebbar in der Liebe Christi. Hören wir, wie der Apostel vom Argumentieren ins Beten wechselt, denn das, was ich jetzt lese, ist eigentlich ein Gebet – aus Epheser 3:
14 Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater,
15 von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden seinen Namen hat,
16 dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen,
17 dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne. Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet,
18 damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist,
19 auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt.
20 Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt,
21 dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus durch alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Puh. Sprachlich hat dieser Text es in sich. Im originalen Griechisch bestehen zwei Drittel des Abschnittes aus einem einzigen Satz. Inhaltlich aber ist das, was er sagen will, gar nicht so schwer, nein, im Grunde kinderleicht. Leicht wie im Kinderlied. Viele von Ihnen kennen das:
Gottes Liebe ist so wunderbar,
Gottes Liebe ist so wunderbar,
Gottes Liebe ist so wunderbar.
So wunderbar groß!
So hoch, was kann höher sein?
So tief, was kann tiefer sein?
So weit, was kann weiter sein?
So wunderbar groß!
Wenn Sie das Lied, das auf die Melodie des Spirituals „Rock my soul in the bosom of Abraham“ gesungen wird, kennen, wissen Sie: es ist ein Bewegungslied. Ein Mitmachlied. Wer in den letzten Jahrzehnten einen Familiengottesdienst besucht hat, weiß Bescheid: Bei „so hoch“ stellt man sich auf die Zehenspitzen und reckt sich, soweit es geht. Und bei „so tief“ macht man sich ganz klein und berührt den Boden. Bei „so weit“ strecken alle die Arme auseinander, bis es nicht mehr geht.
[Je nach Gemeinde: Wir machen das mal!]
Das ist nicht einfach Gymnastik und Kinderspaß.
Das mit der Liebe Gottes wird durchgespielt am eigenen Leib. Diese Liebe ist größer als ich, viel größer. Sie neigt sich so tief herab, dass es mir Mühe macht mitzukommen. Und sie ist so weit, dass sie meinen Horizont sprengt. Nach der Liebe Gottes muss ich mich strecken in alle Richtungen: in die Breite, in die Höhe, in die Länge, in die Tiefe. Gottes Liebe überschreitet menschliche Begrenzungen und will immer weiter hinaus vom Nächsten zum Fernsten.
Darum geht es auch im Epheserbrief: Gottes Liebe ist das Geheimnis der Welt, der Grund all dessen, was existiert. Verstehen kann ich das aber nur, wenn ich mitmache. Wenn die Liebesfülle Christi in mein eigenes Herz einströmt und sich in mir selbst ausbreitet. Das sind mystische Ideen: Die Fülle Gottes kommt in mich hinein, verändert mich – und zugleich bin ich Teil von ihr; in ihr „gegründet“, wie der Apostel schreibt. Gottes Liebe breitet sich aus: erst in uns, dann durch uns. Und in dieser Dynamik erschließt sich uns die Welt, in ihrer ganzen Fülle.
Schwer zu begreifen? Nur, wenn man an der Theorie hängen bleibt. Der Apostel betet, dass alle – alle seine Leser*innen und Zuhörer*innen, wir auch! – in der Praxis erleben mögen, was er selbst erlebt hat.
Wer nicht bloß über die Liebe Christi sinniert, sondern selbst liebt, der versteht sie, die Liebe. Und der versteht die Welt. Wer liebt, begreift die Welt – immer mehr. Mit ihrem göttlichen Geheimnis. In allen ihren Dimensionen. In der Breite, der Länge, der Höhe, der Tiefe.
Du lädst die Frau von Gegenüber, die kürzlich ihren Mann verloren hat, zum Essen ein – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du nimmst der immer müden Nachbarin einen ganzen Nachmittag die Kinder ab – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du wirfst dem Bettler an der Brücke nicht bloß einen Euro in den Becher, sondern fragst ihn, wie’s ihm geht – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du rufst spontan die alte Schulfreundin an, von der Du 15 Jahre nichts gehört hast – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du gehst mit dem jungen Mann aus Somalia aufs Amt und hilfst ihm die Anträge auszufüllen – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du lässt Dein Geld nicht „für Dich arbeiten“, sondern steckst einen Teil davon in ein Schulprojekt im Libanon – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Du denkst nicht mehr darüber nach, was andere Dir schulden, sondern wie Du Menschen eine Freude machen kannst – und verstehst die Welt ein bisschen besser.
Ich gebe zu: diese Art von Weltverstehen ist etwas ganz anderes als zum Beispiel Astrophysik. Aber es geht dabei genauso um die Wirklichkeit, in der wir leben, wie in der Wissenschaft. Nur aus einer anderen Perspektive, mit einem anderen Fokus.
Mir fällt ein zweites, nun ja: neueres Kirchenlied ein, das eine ziemlich freche Strophe enthält: das Lied „Herr gib uns Mut zum Brücken bauen“ von Kurt Rommel. Eine Zeile darin lautet:
„Ich will nicht zum Mond gelangen / jedoch zu meines Feindes Tür.“
Das wurde 1963 geschrieben, in einer Zeit des Wirtschaftswachstums und des sich ausbreitenden Technik-Optimismus. Ich war noch nicht dabei, aber stelle mir vor, dass die Menschen von einer möglichen Mondlandung genauso elektrisiert waren wie wir von Smartphones und KI.
Die Mondlandung kam, Feindschaft und Hass blieben.
Als Christinnen und Christen stehen wir dafür ein, dass die wirklichen Herausforderungen dieser Welt nicht vergessen werden. Wir stehen dafür ein mit unserer Botschaft von der Grenzen überschreitenden Liebe Gottes. Wir stehen dafür ein mit unserer Hoffnung und mit vielen kleinen konkreten Schritten.
Ob Elon Musk zum Mars kommt, lässt den Kosmos kalt. Aber alles, was wir in Liebe tun, bringt ihn zum Schwingen. Und lässt uns mehr und mehr die Welt verstehen. Um Christi willen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich halte diese Predigt in einer deutschsprachigen Auslandsgemeinde mit hohem Akademikeranteil. Da in diesem Fall der Altersdurchschnitt relativ hoch ist, werde ich wohl auf das Singen des Bewegungsliedes verzichten… Die Gemeinde ist sowohl intellektuell anspruchsvoll als auch vielfältig diakonisch engagiert: der Gedanke „Verstehen durch Lieben“ könnte dort Resonanz finden.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hängen geblieben bin ich an dem rätselhaften „die Breite, die Länge, die Höhe, die Tiefe begreifen“, für das es offenbar keine ganz eindeutige Erklärung gibt. Das schlichte Lied „Gottes Liebe ist so wunderbar“ hat mir dann einen assoziativen Zugang ermöglicht.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich lese im Epheserbrief eine Mystik der sich ausdehnenden, ausbreitenden Liebe Gottes, in die wir als Christinnen und Christen hineingezogen werden. Sie steht im Gegensatz zu unserem Bedürfnis, Liebe zu begrenzen (oder gar zu hierarchisieren wie kürzlich der US-Vizepräsident Vance mit der Behauptung eines christlichen ordo armoris).
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach wollte es (wie immer) noch konkreter und schlug vor, die Beispiele des „Verstehens durch Liebe“ an den Schluss zu stellen. Das hat für mich nicht funktioniert; ich habe aber den Teil danach verkürzt und vereinfacht sowie die Beispiele überarbeitet.
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Was andres anziehen! - Predigt zu Eph 4,25-32 von Matthias Loerbroks
Legt die Lüge ab, redet Wahrheit jeder mit seinem Nächsten: haltet ihm in eurem Reden die Treue; denn wir sind untereinander Glieder. Zürnt, doch sündigt nicht. Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn. Und gebt dem Teufel keinen Ort. Wer stiehlt, stehle nicht mehr; vielmehr mühe er sich ab und erarbeite mit den eigenen Händen das Gute, damit er dem etwas zu geben hat, der es braucht. Kein hässliches Wort entfahre eurem Mund, sondern, wenn überhaupt: ein gutes – zum Aufbau, wo es gebraucht wird, damit es den Hörenden Beistand gibt. Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, in dem ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung hin. Alle Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung sei weg von euch, samt allem Bösen. Werdet untereinander gütig, gutherzig, steht einander bei, wie auch Gott im Christus euch beisteht.
Legen Sie doch ab! Warum sind Sie so zugeknöpft? Wovor haben Sie Angst? Was Sie da anhaben steht Ihnen doch gar nicht, passt nicht zu Ihnen. Was Sie sich da zugelegt, was Sie da angelegt haben, das betrachten Sie als einen Schutzmantel. Doch es ist ein Lügengewebe. Und das hat sich zum Panzer verhärtet. Der macht Sie so steif, so unbeweglich und unberührbar. Und der belastet und bedrückt Sie, nimmt Ihnen die Luft zum Atmen. Denken Sie an David. Saul hatte ihm seinen Panzer angelegt. Den hat er aber gleich wieder abgelegt; der war ihm zu schwer. Du kommst zu mir, sagt er dann zu Goliath, mit Schwert und Speer; ich komme zu dir – nein, nicht bewaffnet mit paar Kieselsteinen, sondern mit dem Namen des Gottes Israels. Also: Legen Sie ab!
Wofür soll dieser Schutzmantel gut sein, wovor schützen? Er besteht aus lauter Abgrenzungen gegen Juden, Schlechtreden, Verleumden der Juden. Aus Lügen. Viele Jahrhunderte lang wurden sie von der Kirche dazu verwendet, Juden zu verteufeln. Doch nicht die Juden sind vom Teufel, sondern die Feindschaft gegen sie ist es.
Die aber war lange die Grundlage der Kirche und der Christen: ihres Selbstverständnisses – und ist es in vielen Kreisen auch noch heute: christlich ist, was nicht jüdisch ist; Evangelium ist, was nicht Gesetz ist. Die Kirche hat es nie oder nur selten geschafft, ihre Botschaft positiv zu verkünden, ohne Abgrenzung gegen Juden und Jüdisches. Sie war der Meinung, sie könne nur vor der dunklen Folie dessen, was angeblich jüdisch ist, das Evangelium strahlend zum Leuchten bringen. Und was wurde da nicht alles gelehrt und gepredigt: dass das Neue Testament die jüdische Bibel alt macht, veraltet, obsolet: das Neue das Alte überbietet; dass wir Christen dankbar von der freien Gnade Gottes leben, während die Juden unter dem Joch des Gesetzes ächzen; dass wir Christen darum auch selbst frei und geistbewegt, voll Liebe den Willen Gottes tun, die Juden hingegen in lächerlich penibler Gesetzlichkeit sich bei Gott lieb Kind machen wollen; dass die Juden seit Jesus nicht mehr Volk Gottes sind, sondern durch uns, die Kirche, abgelöst, ersetzt, beerbt. Das ist noch nicht vorbei. Das wird in großen Teilen der Christenheit bis heute gelehrt und geglaubt.
Die Kirche hat mit diesen Irrlehren, diesen Lügen das jüdische Volk in aller Welt verächtlich, verhasst gemacht. Damit hat sie den Weg bereitet, der zur Schoah führte: zum Massenmord an den Juden, dessen wir heute gedenken. Denn sie hat den Stoff geliefert für den nicht mehr christlichen Judenhass, das Gerücht über die Juden. Etwa die tiefsitzende Überzeugung, dass es den Juden im Unterschied zu uns anderen nicht um Geistiges geht, sondern um Materielles: um Geld. Das hatte die Kirche anhand von Judas und den Silberlingen behauptet. Aus Rufmord wurde Mord, aus der theologischen Rede vom Ende Israels die Endlösung.
Doch diese Judenfeindschaft passt nicht zu uns, steht uns nicht. Wir sind Mitglieder der Wohngemeinschaft des Gottes Israels mit seinem Volk geworden (2,19). Und wer sitzt, geht, steht in einer WG herum mit einem Panzer angetan? Wir sind nicht mehr fremd und fern den verheißungsvollen Bundesschlüssen Israels (2,12), sondern tätige Teilnehmer einer großen Geschichte, der Beziehungsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Die sieht zwar klein und unscheinbar aus im großen Weltgeschehen, ist aber heimlich, im Verborgenen der rote Faden der Weltgeschichte. Doch die Kirche hat alles getan, die Fremdheit und Ferne wiederherzustellen. Durch Lügen – die Methoden des Teufels. Wir sind nicht mehr hin- und hergetrieben von allerlei geistigen Strömungen (3,14), sondern versiegelt durch einen ganz anderen Geist: den heiligen Geist Gottes, der unsere Bundesgenossenschaft mit den Juden besiegelt. Doch der ist betrübt. Weil wir neben ihm und gegen ihn dem Teufel Judenfeindschaft in uns Raum geben, dem Gerücht über die Juden, den Lügen. Das macht ihm Kummer. Denn er ist der Geist des Gottes Israels.
Heute ist es achtzig Jahre her, dass die Rote Armee die wenigen Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreite, zwei Generationen. Haben wir dazugelernt, die Lügen abgelegt, sind wir umgekehrt? Ja, viele Kirchen und viele Christen haben inzwischen – oft unter Schmerzen, oft in Kämpfen – erkannt, dass es kirchliche Irrlehren, Lügen waren, die die Juden verächtlich und verhasst gemacht haben und damit beigetragen dazu, dass es zur Katastrophe kam, zur Hölle auf Erden. Viele haben daraufhin ganz neu die Bibel studiert, haben neue Entdeckungen gemacht, die nicht nur für Christen in Deutschland, nicht nur für die Nachkommen der Täter lebenswichtig sind, sondern für Christen in aller Welt: dass uns Jesus nicht zur Judenfeindschaft berufen hat, sondern zu treuen, verlässlichen Bundesgenossen seines Volkes. Es ist uns gut, es ist keine Kränkung, dass Gott sein Volk Israel neben der Kirche und gegen sie aufrechterhalten hat: ein Zeichen der Treue Gottes, der auch wir trauen. Es gehört darum zum Wesen der Kirche, Anteil zu nehmen am Weg des jüdischen Volkes. Wir sind dankbar dafür, dass Juden und Jüdinnen – nach allem, trotz allem, was geschehen ist – uns geholfen haben beim Lernen, mit uns zusammen Bibel studieren.
Mitglieder einer WG sind untereinander Glieder, miteinander solidarisch. Ein Glied, das vom lebendigen Organismus abgetrennt ist – oder sich, was freilich das Bild strapaziert, selbst abschneidet –, erstarrt, verfault, ist tot. Auch in der WG Gottes mit seinem Volk und uns Jesusjüngern aus den Völkern wird es Zornausbrüche geben zwischen allen drei Wohngenossen. Doch die sollten sich beilegen lassen, ehe es ganz finster wird. Der Grundzorn aber, der Groll darüber, dass Juden Jesus nicht als Messias Israels und Befreier der Welt betrachten, der soll ganz weg sein. Denn der bedeutet: Juden soll es nicht mehr geben – Quelle aller Bitterkeit, Wut und Lästerung: der Lügen.
Seit dem 7. Oktober 2023 schwappt eine Welle offenen Judenhasses durch unser Land und durch viele Länder. Als wäre ein Gullydeckel geöffnet worden – und nun sprudelt all das Gift hervor, das zuvor im Verborgenen gebrodelt hatte. Rasch wurde deutlich, dass es da nicht um Protest gegen die Regierung und die Armee des Staates Israel geht, sondern um Angriffe auf alle Juden. Juden soll es nicht mehr geben – nicht zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, aber auch nirgendwo sonst. Juden in unserer Stadt, in unserem Land sind bedroht und fühlen sich allein und im Stich gelassen. Und sie erleben, dass sie auch von bisherigen Freunden gemieden werden. Als wären ihr Leid, ihr Schmerz, ihr Entsetzen angesichts des Terrorangriffs der Hamas auf Israel – des größten Massenmords an Juden, weil sie Juden sind, seit 1945 – eine ansteckende Krankheit. In dieser Situation haben wir das neu Gelernte zu bewähren – im Beistand für Juden gegen ihre Hasser und deren Lügen.
Gegen Lügen hilft: die Wahrheit sagen. Und Wahrheit, das ist mehr als die Richtigstellung und Widerlegung von Falschaussagen, was aber auch schon was ist. Wahrheit – das ist Bewährung, Verlässlichkeit, Treue. Unser Reden soll nicht unsere Wiedergutwerdung erweisen, sondern Solidarität praktizieren: Worte, die brauchbar sind für die, die es brauchen. Martin Luther war zwar ein grässlicher Judenhasser, aber dennoch ein großartiger Bibelausleger. Das Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ bedeutet, schreibt er, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren. Er hat da gewiss nicht an die Juden gedacht. Doch gerade in unserer Beziehung zu ihnen, die von so viel Verrat, Verleumdung und Rufmord vergiftet ist, ist seine Auslegung hoch aktuell.
Zum Lügen kommt das Stehlen. Das betrifft nicht nur die Arisierungsgewinnler oder die Besitzer geraubter und erpresster Kunstwerke, sondern auch die Theologen und den Diebstahl des Namens Israel: die Kirche als neues Israel. Wer stiehlt, stehle nicht mehr, sondern soll Juden geben, was brauchbar ist, was sie brauchen. Es geht um unsere Brauchbarkeit – in unserem Reden wie im Materiellen. Sind wir noch brauchbar – nach allem, was geschehen ist? Das kann sich nur in der Praxis erweisen.
Auch der Kampf gegen Judenhass, gegen die Methoden des Teufels braucht gute Wehr und Waffen. Mit dem Namen des Gottes Israels bewaffnet zu sein, das bedeutet (6,10–17): gegürtet mit Wahrheit, mit Treue. Dieser Gürtel bindet uns an Gottes Volk Israel. Auch einen Panzer werden wir brauchen. Aber nicht wie bisher den Panzer der Selbstgerechtigkeit, die eine Selbstbelügung ist – den Panzer, der uns so unberührbar und unbeweglich macht. Sondern den Panzer der Gerechtigkeit Gottes. Gott hat in seinem Sohn bewirkt, dass wir ihm recht sind – trotz allem, was gegen uns spricht. Das schützt uns besser als unser Selbstschutz. Und beschuht mit der Bereitschaft, das Evangelium des Friedens zu verkünden – Jesus ist gekommen und hat das Evangelium des Friedens verkündet: uns, die fern waren, und Frieden denen, die nahe waren: Israel (2,17). Diese frohe Botschaft haben auch wir zu verkünden – unserem Volk und allen Völkern. Denn der Friede Israels inmitten der Völker ist die Voraussetzung für Weltfrieden. Doch diese Botschaft ist umstritten. Wir brauchen einen Schutzschild, den Schild des Glaubens, des Vertrauens zum Gott Israels, um bösartige Giftpfeile abzuwehren. Schutz vor den Methoden des Teufels braucht vor allem unser Kopf, unsere Vernunft, unser Verstand. Ein Helm ist nötig, der Helm der Befreiung: unser Denken soll geleitet sein von Gottes großer Befreiungsgeschichte. Das bewahrt uns vor Vernebelung und Verblendung. Doch es geht ja nicht nur um Abwehr und Schutz. Sondern um Kampf, um Angriff. Wir brauchen ein Schwert. Das kann verletzen, das kann aber vor allem die Geister scheiden, denn es ist das Schwert des Geistes – des Geistes, den wir so oft betrübt und damit unwirksam gemacht haben: das Wort des Gottes Israels.
Probieren Sie das alles mal an! Sie werden sehen: das passt. Und im Blick auf unsere Taufe, unseren Eintritt in die Bundesgeschichte des Gottes Israels mit seinem Volk, lässt sich sogar sagen: das passt wie angegossen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Abendgottesdienst, zu dem Menschen kommen, die dieser Tag und sein Thema aufwühlen; die an diesem Tag nicht allein sein wollen, sondern zusammenkommen; die erschüttert und zerrissen sind durch die Situation seit dem 7. Oktober 2023; die darum Orientierung suchen und Ermutigung.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Wunsch, die Aufforderungen und Ermahnungen des Predigttexts zu verbinden mit der frohen Botschaft des übrigen Epheserbriefs, die die Grundlage und Motivation dieser Aufforderungen ist.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wer die Lüge ablegt, steht nicht nackt und bloß, hilf- und wehrlos da, sondern bekommt was anderes zum Anziehen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Kürzungen. Straffung: mehr Haupt- als Nebensätze. Rhythmisierung. Doch wie fast immer blieb für die Endredaktion ein bisschen wenig Zeit.
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Lebt als Kinder des Lichts - Predigt zu Eph 5,8b-14 von Bert Hitzegrad
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Wir hören den Predigttext für den heutigen Sonntag, den 8. Sonntag nach Trinitatis. Er steht im Brief an die Epheser im 5. Kapitel:
8 Ihr ward damals Finsternis, doch jetzt im Herrn seid ihr Licht! So wandelt wie die Kinder des Lichtes. 9 Das Licht bringt seine Frucht in jederlei Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. 10 Prüft was dem Herrn gefällt 11 und beteiligt euch nicht an den fruchtlosen Werken der Finsternis – zieht diese vielmehr ans Licht! 12 Denn was durch diese Leute im Verborgenen geschieht, das ist schon auszusprechen schändlich. 13 Doch wenn dies alles ans Licht gebracht wird, wird es durch das Licht offenbar; 14 denn alles, was offenbar wird, ist Licht. Darum heißt es:
„Wach auf, du Schläfer!
Steh auf von den Toten!
So wird Christus über dir erstrahlen!“
Und Gott segnete dieses Sein Wort an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden!
Liebe Gemeinde!
Vor kurzem war ich im Bremervörder „Park der Sinne“ – dort gibt es ein „Dunkelhaus“. Man muss durch einen dunkeln Raum gehen und den Weg finden, entdecken, was es in dem Haus alles gibt. Manche Dinge sind leicht zu erkennen, andere sind etwas schwieriger. Ecken und Kanten können zur Stolperfalle werden und man nimmt wahr, dass manches im Dunkel gar nicht zu gebrauchen ist, wie zum Beispiel eine normale Armbanduhr. Eine Steigerung ist das Café „Dunkel“, dort wird im Dunkeln sogar serviert. Wo ist die Kaffeetasse? Wo liegt die Gabel? Was ist das für ein Kuchen? Im Dunkeln ist es schwierig. Als ich wieder draußen im Hellen war, war ich Gott sehr dankbar, dass ich sehen kann.
In Ephesus lebten viele Menschen, die Heiden waren und Christen geworden sind. Sie haben die Erfahrung gemacht, was es heißt im Dunkeln zu leben. Die Angst vor den Göttern, deren Verlangen nach Opfern, nach Unterwerfung und auch materiellen Gütern hat sie nur noch das Dunkel sehen lassen. Das muss eine Befreiung gewesen sein, als sie von Jesus Christus gehört haben. Von dem Mann, der mit seinen Jüngern – ganz „normalen“ Menschen, gegessen hat, gefeiert hat, mit ihnen zusammen war. Der gesagt hat, ich komme, um euch zu befreien, von allem wovor ihr Angst habt, ja sogar von dem, was belastet und krank macht, was die Bibel Sünde nennt. Als sie von Menschen gehört haben, die in einer ganz neuen Weise von einem Gott gesprochen haben, von einem Gott der liebt. Diesen Menschen ist ein Licht aufgegangen. Gott hat sich ihrer angenommen, sie haben sich taufen lassen. Und nun sagt Paulus: „Ihr seid jetzt im Herrn selbst Licht.“ Dieses Licht-werden ist schön zu sehen in der Osternacht, die wir hier in dieser Kirche feiern. Alle bekommen beim Eingang eine Kerze, aber die Kirche ist dunkel. Erst wenn in die dunkle Kirche die Osterkerze getragen wird und der Liedruf erklingt: „Christus ist das Licht!“ wird es heller. Dann wird das Licht von Kerze zu Kerze weitergegeben, bis die ganze Kirche erleuchtet ist.
Die Osterkerze brennt nun zu Taufgottesdiensten und erinnert an das Licht, von dem hier im Predigttext erzählt wird. Nun fordert Paulus auf, auch danach zu leben. Denn das Licht deckt ja auch Verborgenes auf.
Man kann im Dunkelhaus ein zweites Mal durchgehen, dann mit Licht. Es ist doch erstaunlich, was da – bei Licht betrachtet – auf einmal alles zu sehen ist: Die Fußangel ist ein Hocker, der Sessel scheußlich gemustert und in der Ecke liegen Fusseln. Zum Glück können wir das Licht anmachen, aber wir können dann auch sehen, was wir lieber nicht sehen wollen.
Paulus ruft dazu auf, das Licht anzumachen. Das Licht, das die Christen erleuchtet, dazu einzusetzen, auch Helligkeit zu schaffen. Er sagt, „das Licht bringt seine Frucht in jederlei Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn gefällt, und beteiligt euch nicht an den fruchtlosen Werken der Finsternis!“
Hier sind wir nicht mehr nur in Ephesus. Hier ruft Paulus diesen Satz uns selber zu: „Wandelt wie die Kinder des Lichts!“ Dumm wäre es, wenn man im Dunkelhaus die Augen zu macht, weil man weiß, dass jetzt das Licht an ist. Nein, wir sollen die Augen auf machen und auf das reagieren, was wir sehen. Der Hocker sollte zur Seite gestellt werden, damit keiner – und erst recht kein Blinder darüber stolpert, den Sessel kann man mit einem Tuch oder neuen Bezug versehen, dass er zu einer Augenweide wird und die Fusseln gehören in den Staubsauger. In so einem Haus ist das vielleicht ja noch einfach zu erledigen. Aber in unserem Leben? „Das Licht bringt seine Frucht in jederlei Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft was dem Herrn gefällt und beteiligt euch nicht an den fruchtlosen Werken der Finsternis – zieht diese vielmehr ans Licht! Denn wenn dies ans Licht gebracht wird, wird es durch das Licht offenbar; denn alles, was offenbar wird, ist Licht.“ schreibt Paulus. Das ist ja eigentlich ganz einfach.
Die Christen in Ephesus hatten es da einfach. Denn sie wussten, wie die Dunkelheit aussieht, sie wussten, wie es ist, wenn man die Dinge in einem neuen Licht sieht. Wissen wir das auch? Wir haben es nie erlebt, Heiden zu sein, von bösartigen, habgierigen Göttern abhängig zu sein. Ich bin schon als Kind getauft worden und mit der Vorstellung vom liebenden Gott groß geworden.
Vielleicht ist es deshalb so schwer zu sehen, wie gut wir es haben. Doch bösartige und habgierige Götter, sind sie uns wirklich unbekannt? Laufen wir ihnen nicht doch nach? Die Götter, die uns die Zeit stehlen, zur Ruhe zu kommen oder uns um unsere Mitmenschen zu kümmern? Da sitzen wir stundenlang vor dem Fernseher, am Smartphone oder spielen Sudoku. Ich jedenfalls erwische mich dabei – nicht dass das grundsätzlich verkehrt ist, nicht dass es unbedingt Werke der Finsternis sind, aber wenn es mein Leben einengt, wenn da Abhängigkeiten, ja sogar Süchte entstehen? Wenn meine Kontakte zu anderen Menschen dadurch abbrechen, wenn ich die Nöte oder Freuden meiner Mitmenschen oder auch meine eigenen nicht mehr wahrnehme? Wenn die Ferne und Exotik meines Urlaubes wichtiger ist, als die Erholung. Wenn ich mich nur darum kümmere, was die Anderen sagen und nicht mehr danach frage, was für mich wichtig ist oder auch was für den Anderen gut ist? Wenn ich mich verstecke hinter einer Fassade der Fröhlichkeit, um nicht gefragt zu werden, wie es mir geht oder ich damit signalisiere, dass mich nichts und keiner interessiert? Oder die Dunkelheit, die in Ablehnung oder gar Hass gegenüber anderen Menschen erscheint. Sind wir davor wirklich verschont? Wir sind zwar im Licht, wir sind in Christus getauft, wir glauben an einen Gott, der es gut mit uns meint. Und doch sind wir auf dieser Welt, wo es die Dunkelheit auch gibt. Auch die Christen in Ephesus waren nicht davor gefeit, deshalb wurde ja auch dieser Brief verfasst, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Dunkelheit nicht weg ist. So soll aber der Brief auch uns heute Mut machen, das Licht zu sehen, das uns von Gott her leuchtet. Das in der Ewigkeit Gottes immer leuchtet und uns frei macht von allem Schweren. Das glauben wir und deshalb können wir auch in unserer Trauer um geliebte Menschen Licht sehen.
Als meine Großmutter verstarb, ich war gerade 13, da habe ich diese Dunkelheit gespürt. Es war das erste Mal, dass ich bewusst erlebt habe, dass der Tod mir einen lieben Menschen nimmt. Meine Großmutter hat mir viel von ihrem Glauben weitergegeben, sie hat mit mir gebetet, sie hat mich, als ich Konfirmand war, zu den Gottesdiensten begleitet, sie war es auch, die mir den Weg in das Theologiestudium zeigte… Der Verlust stimmt mich noch immer traurig, doch mit der Dankbarkeit leuchtet jedes Mal ein helles Licht auf in meinem Leben.
Es wird Zeit, dass Gott uns die Augen öffnet und wir dieses Licht sehen, dass wir die Stolpersteine, die traurigen, die hässlichen Dinge und den Dreck in unserem persönlichen Dunkelhaus sehen und dass wir etwas ändern, nicht weil es von uns verlangt wird, sondern weil wir es sehen. Weil Gott uns die Augen öffnet für das Schöne, das hinter dem Dunkel liegt. Dass wir entdecken, dass Jesus mit anderen Maßstäben misst, dass Gott auch uns im Licht seiner Liebe sieht, dann können wir vielleicht leichter loslassen was uns bedrängt oder woran wir meinten uns festhalten zu müssen.
Wenn wir in unserem Dunkelhaus Licht machen, dann können auch die anderen sehen, denn das Licht leuchtet auch denen, die mit uns im Haus sind. Dazu gebe uns Gott uns das Licht seiner Liebe. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe eine ganz normale „Trinitatisgemeinde“, das bedeutet, eine Gemeinde im Sommerloch, recht ausgedünnt, die Kerngemeinde, die nicht im Sommerurlaub ist… Vielleicht hat sich der eine oder andere Urlauber in unseren Gottesdienst verirrt – die Urlauberseelsorge findet allerdings an anderen Orten statt. Die Gemeinde kommt mit den Dunkelheiten dieser Tage in den Gottesdienst, Kriegsberichte aus der Ukraine und aus Israel, Aufrüsten in Russland und bei der NATO, Gewalt statt demokratische Auseinandersetzung in den USA bei der Vorbereitung der Präsidentschaftswahl. Viele Menschen suchen ein Licht am Ende dieses Tunnels, ein Licht der Zuversicht und Hoffnung…
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Gegensätze hell-dunkel, Licht-Finsternis sind anschaulich und reizen mit ihnen zu spielen. Bei der Vorbereitung erinnerte ich mich, dass ich einmal im „Park der Sinne“ in Bremervörde war. Dort gibt es einen Dunkel-Raum und ein „Café Dunkel“, wo ganz anschaulich die Erfahrung von Dunkelheit und Blindheit in der Finsternis gemacht werden kann. Davon ausgehend möchte ich die erhellende Erfahrung weitergeben, wenn etwas ins rechte Licht gerückt wird oder die Schatten der Dunkelheit verliert.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Symbolkraft des Lichtes ist natürlich unübertroffen. In der Osternacht wird die Osterkerze entzündet, bei Taufen reichen wir die Taufkerzen weiter, um auf dieses Licht, das Christus selbst ist, hinzuweisen. Der Verfasser des Epheserbriefes macht aber ganz deutlich, dass es nicht reicht, dieses Licht zu empfangen, sondern wir zu Lichtträgern werden, um das Licht weiter zu reichen und um mit der eigenen Zuversicht und Hoffnung andere Menschen aus der Dunkelheit zu holen. Christus ist das Licht, das die Kraft und die Energie dazu gibt.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Zunächst eine wohltuende und wohlwollende Rückmeldung und eine Analyse, die dem Prediger und der Predigt mit ihrem Anliegen völlig gerecht wurde. Hilfreich ist der Hinweis, stärker die eigene Person des Predigers zu Wort kommen zu lassen. Nicht Verallgemeinerungen zu nennen, sondern von konkreten Erfahrungen zu berichten. Diese Impulse werden über die konkrete Predigtarbeit hinaus bleiben. DANKE!
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Damit aus Fremden Freunde werden! - Predigt zu Eph 2,17-22 von Elke Markmann
Lied vor der Predigt: EG 674 (EG RWL)
1. Menschen aus der Ferne und Menschen aus der Nähe – wer ist was?
Damit aus Fremden Freunde werden – so haben wir gerade gesungen. Wer sind eigentlich Fremde?
Wer meine Freunde sind, kann ich relativ leicht beantworten. Aber wer ist für mich fremd? Warum sind Menschen fremd?
(Vielleicht ist es möglich, während der Predigt ins Gespräch zu kommen. Diese Frage nicht nur rhetorisch, sondern wirklich zu stellen und auf Antworten warten, wäre hier eine gute Gelegenheit.)
Fremde kenne ich nicht – das ist die einfachste Erklärung. Aber Fremde sind auch welche, die irgendwie aus der Gruppe heraus auffallen. In einer Gruppe Frauen wirkt ein Mann eher schon mal fremd. Wenn ein Merkmal anders ist als bei den anderen, kann das fremd wirken: Menschen, die eine andere Sprache sprechen. Oder solche, die sich anders verhalten oder anders kleiden oder anderes essen. Eine Vegetarierin kann sich an einem Grillabend sehr fremd fühlen!
Unser Predigttext für heute unterscheidet nicht Fremde und Freunde, sondern redet von „Menschen aus der Ferne“ und „Menschen aus der Nähe“. Die Menschen mit jüdischen Wurzeln kennen die Speisevorschriften und die Verhaltensnormen. Dies sind die Menschen aus der Nähe. Sie sind nah an den jüdischen Traditionen. Die Menschen aus der Ferne sind die, die nicht aus den jüdischen Gemeinden oder aus dem Volk Israel stammen. Denen sind manche Regeln sehr fremd.
Beide Gruppen fanden sich in den jungen neuen Gemeinden, in denen sich Menschen trafen, die von Jesus Christus fasziniert waren. Jesus selbst war Jude. Ihm folgten Menschen aus dem Judentum. Aber eben auch darüber hinaus. Besonders in Ephesus, weit entfernt von Israel, gehörten oft nicht-jüdische Menschen zu den Gemeinden.
Wenn aber doch Jesus ein Jude war und die Bewegung sich von Jerusalem aus in die Welt verbreitete, stellte sich eine Frage: Müssen dann nicht alle „Fremden“ auch die jüdischen Gesetze einhalten? Mussten sie nicht die Speisegebote einhalten und sich beschneiden lassen, um dazugehören zu können? Menschen, die dem Judentum nahe standen, und Menschen, die dem Judentum sehr fern waren, kamen zusammen. Wie sollten die Gemeinden damit umgehen? Die jüdischen Regeln hatten für die einen einen hohen Stellenwert. Für die anderen waren sie egal. Das konnte zu Spannungen führen.
Wir hören den Predigttext aus dem Brief an die Gemeinde in Ephesus:
17Jesus kam und verkündete Frieden:
Frieden für euch in der Ferne
und Frieden für die in der Nähe.
18Denn durch ihn haben wir beide
in ein und demselben Geist Zugang zum Vater.
19Ihr seid also nicht mehr Fremde
und ohne Rechte in Israel.
Ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen
und Mitglieder von Gottes Hausgemeinschaft.
20Ihr seid gegründet
auf dem Fundament der Apostel und Propheten,
dessen Grundstein Christus Jesus ist.
21Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten.
So wächst er zu einem heiligen Tempel empor,
der dem Herrn gehört.
22Weil ihr zum Herrn gehört, werdet auch ihr
als Bausteine in diesen Tempel eingefügt.
Gott wohnt darin durch den Heiligen Geist.
(Eph 2, 17-22, Basisbibel)
2. Jesus kam und verkündete Frieden
Wie sollten die Gemeinden mit dieser Herausforderung umgehen? Die Antwort ist klar und einfach: Jesus kam nicht nur für die Menschen in Israel. Er kam nicht nur zum jüdischen Volk. Jesus machte keine Unterschiede. Wer ihm folgte, gehörte dazu. Egal, wer das war. Er saß immer wieder mit anderen Menschen zusammen, unterhielt sich mit völlig Fremden oder kehrte bei Menschen ein, die in der Gesellschaft nicht so gut angesehen waren.
Wer zu ihm kam, wer ihm zuhörte und ihm folgte, musste keine Gesetze beachten, sondern wurde durch Jesus in die Gemeinschaft aufgenommen.
3. Keine Unterschiede in der Nachfolge!
Im Brief an die Gemeinde in Ephesus steht klar und deutlich: Es gibt keine Unterschiede in den christlichen Gemeinden. Ganz deutlich steht es da in diesem Brief an die Gemeinde in Ephesus:
18Denn durch ihn haben wir beide
in ein und demselben Geist Zugang zum Vater.
19Ihr seid also nicht mehr Fremde
und ohne Rechte in Israel.
Ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen
und Mitglieder von Gottes Hausgemeinschaft.
Die Unterscheidung in Ferne und Nahe ist nichtig und überflüssig. Alle sind Gottes Hausgemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist gegründet auf dem Glauben an Jesus Christus, nicht auf Speisevorschriften oder anderen Unterschieden.
4. Menschen aus der Ferne und aus der Nähe damals und heute
Ich kann mir vorstellen, dass das in der Praxis trotzdem schwer blieb in Ephesus und anderswo. Wenn die einen gerne Schweinefleisch essen und die anderen sich das überhaupt nicht vorstellen können, kann das bei gemeinsamen Mahlzeiten schwierig werden. Dann sitzen vielleicht doch an dem einen Tisch die einen und an dem anderen Tisch die anderen. Sicherlich konnten auch nicht alle akzeptieren, dass keine Beschneidung notwendig ist. Die alten Traditionen aus der jüdischen Religion sind dem einen oder der anderen wahrscheinlich sehr wichtig gewesen.
Wie ist das eigentlich bei uns heute? Sind bei uns alle willkommen?
Wir haben in unseren Gottesdiensten viele Regeln und Sitten, die fremd wirken, wenn jemand sie zum ersten Mal erlebt. Das fällt den damit Vertrauten gar nicht auf. Wer in Dortmund in den Gottesdienst geht, findet in München ähnliche Gebete und Gesänge und findet sich schnell zurecht. Wer aber Gottesdienst-unerfahren ist, ist oft genug verwirrt, wenn die Gemeinde plötzlich laut und auswendig Gott lobt und preist oder um Erbarmen bittet.
Neulich kamen Angehörige nach der Beerdigung einer Angehörigen in die Kirche. Sie gehören zu den Kirchen-Fernen. Als die Gemeinde auswendig sang, blieben sie stumm. Aber sie blätterten in ihren Gesangbüchern und fanden nicht, was gerade passierte.
So geht es Euch Konfis auch oft genug, wenn Ihr noch nicht so richtig geübt seid.
Wir möchten gerne offen sein für Menschen aus der Nähe und aus der Ferne. Bei uns sind alle willkommen. Aber fühlen das auch alle?
Bei Taufgottesdiensten nehme ich gerne ein anderes Glaubensbekenntnis als das apostolische, das viele von uns auswendig können. Wenn aber ungeübte Eltern und Patinnen und Paten im Gottesdienst ein Glaubensbekenntnis sprechen sollen – was können sie tun? Schließlich werden sie gefragt, ob sie wollen, dass ihr Kind auf den Namen dieses Gottes getauft werden soll! Sie zeigen ihr Fremdsein sofort, wenn sie dann das Gesangbuch aufschlagen, während andere auswendig sprechen. Wenn aber alle ein anderes Glaubensbekenntnis sprechen, müssen alle ablesen. Und so stehen wir doch wieder alle gleich da.
Sie kennen wahrscheinlich ähnliche Beispiele.
In unseren Gruppen und Kreisen ist es ähnlich. Wie gehen wir mit Fremden und Neuen in unseren Gemeinden um? Wenn ich irgendwo neu bin, freue ich mich, wenn mich jemand persönlich begrüßt und mich einweist oder vorstellt. Dann spüre ich: Ich bin willkommen! Aus einem Chor kenne ich eine Art „Patenmodell“. Wenn jemand neu kommt, setzt sich eine oder einer neben die Neuen und erklärt alles, was notwendig ist. So kann es auch in anderen Gruppen sein.
Welche Ideen haben Sie? Wie können wir für Menschen aus der Ferne offener werden? Nur so können wir eine Gemeinschaft werden oder sein. Eine Gemeinschaft in unseren Gemeinden, offen für Nahe und Ferne.
5. Durch Christus verbunden.
Im Brief an die Gemeinde in Ephesus wird an das Verbindende erinnert. Es geht um das, was Jesus von Gottes Liebe und Gerechtigkeit erzählte. Die Werte, die Jesus vertrat und predigte, verbanden die Menschen miteinander.
Das Fundament für das gemeinsame Haus wird beschrieben:
20Ihr seid gegründet
auf dem Fundament der Apostel und Propheten,
dessen Grundstein Christus Jesus ist.
21Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten.
So wächst er zu einem heiligen Tempel empor,
der dem Herrn gehört.
22Weil ihr zum Herrn gehört, werdet auch ihr
als Bausteine in diesen Tempel eingefügt.
Gott wohnt darin durch den Heiligen Geist.
Die Tradition spielt schon eine Rolle. Aber nicht die Tradition der äußeren Regeln, sondern die Apostel und Propheten, also die Inhalte. Jesus stellte sich in die Tradition der Propheten. Er kannte sich gut aus in den biblischen Schriften. Er wusste, wie Gottes Gerechtigkeit auf der Erde aussehen könnte. Er wusste, was Gott für die Menschen möchte: Frieden!
Frieden für euch in der Ferne
und Frieden für die in der Nähe.
18Denn durch Jesus haben wir beide
in ein und demselben Geist Zugang zum Vater.
Wer diese Werte teilt, gehört zusammen: Gerechtigkeit und Frieden sind das Fundament. Wer darauf gründet, kann an Gottes Haus, an Gottes Reich mitbauen. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich aus Israel komme oder aus Deutschland, aus Hamburg oder Leipzig. Dabei spielt es keine Rolle, was ich esse oder mit welcher Hand ich schreibe, welche Augen- oder Haarfarbe ich habe. All die Unterschiede, die wir Menschen machen, sind bei Gott unwichtig. Das lehrte und lebte Jesus. Das gilt für die Gemeinden, die ihm nachfolgen. Damals und heute.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich bin immer wieder in anderen Gemeinden unterwegs. Diese Predigt werde ich in einer Kirche in einem Unnaer Vorort halten. Die Gemeinde, die ich vor Augen habe, besteht zum großen Teil aus älteren Menschen (60+), die sich der Gemeinde verbunden wissen. Außerdem werden einige Konfis im Gottesdienst sitzen, die ich aber nicht selbst in ihrer Konfizeit begleite.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke an die Fernen und die Nahen setzte bei mir sofort viele Assoziationen frei. Schnell sah ich vor mir Trauernde, die im Gottesdienst waren, nachdem ihre Angehörigen beerdigt waren. Ich hatte sie eingeladen, weil wir im Gottesdienst für die Verstorbenen beten würden. Ich spürte an vielen Stellen deren Verunsicherung, weil sie im Gesangbuch blätterten, als die Gemeinde die liturgischen Stücke sang. Ich stand vorne und schämte mich für unsere fehlende Gastfreundschaft.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie können wir offen und einladend sein als Kirche? Ich habe das Gefühl, dass wir viele Regeln haben, die den „Fremden“ oder „Fernen“ das Ankommen schwer machen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
In meiner Predigt hatte ich unterschiedliche Themenbereiche angesprochen. Durch die Kommentare der Predigtcoach konnte ich an manchen Stellen konkretisieren oder entfalten. Ich fürchte aber auch, dass die Predigt dadurch etwas lang geworden ist. Wer sie nutzt, kann vielleicht hier oder da kürzen. Oder zu einer Ideenwerkstatt einladen und anderes kürzen.
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21.07.2024 - 8. Sonntag nach Trinitatis
09.06.2024 - 2. Sonntag nach Trinitatis
Himmel pflücken - Predigt zu Eph 5,15-20 von Matthias Storck
Vom Einüben in die Weisheit
Manchmal hing der Himmel meiner Kindheit zum Greifen nah über der Wiese. Dann klaubte ich mir die besten Wörter, Namen und Gestalten aus dem Blau und türmte mir unter den Wolkenbergen neue Geschichten zusammen. Zuerst die, die gern mal den Himmel kopfstehen lassen oder für einen Anflug von Ratlosigkeit sorgen: Mose, der vor lauter ungebremster Wut die nagelneuen Gebotstafeln Gottes zertrümmert. Der verlorene Sohn, der den halben Hof und (fast) den ganzen Himmel verprasst und trotzdem geliebt wird. Oder der ungläubige Thomas, der Gott erst anfassen muss, um glauben zu können. Da ist die sprechende Eselin und ihr liebenswürdig störrischer Reiter Bileam. Oder Jona, der Prophet, der ein ganz falsches Schiff bucht, um Gottes lästigen Aufträgen zu entkommen. Ich bewunderte Rebekka, die ihrem Schoßkind Jakob listig zu einem Segen verhalf, der seinem Zwillingsbruder versprochen war. Alles unter den Augen Gottes. Manchmal besuchte ich den Träumer Joseph, der seinen Träumen mehr traute als den verzweifelten Bosheiten seiner Brüder. Der lehrte mich, nicht alles zu glauben, was vor Augen ist. Mit der Weisheit seines Herzens bewahrte er ganz Ägypten vor der Hungersnot. Und schließlich: Von Sara lernte ich, dass ich von Herzen über die Engel Gottes lachen darf.
Meine aufsässigen Weisen haben alle Gott auf dem Herzen. Leidenschaftlich und immer angefochten fragen sie sich durch die Welt, wenn es sein muss, bis zu Gott. Alle haben ein unbeirrbares kindliches Herz. Leicht zu erkennen, denn so ein Herz hört niemals auf zu fragen.
„Begreift, was der Herr von euch will!“ heißt es im Text (V.17). So lange ein Mensch danach fragt, ist er unterwegs zu Gott.
In meinem kindlichen Herzen sorgte ich deshalb immer gern für aufregende Nachbarschaftshilfe. Pünktchen und Anton durften an die Krippe, Pippi Langstrumpf in Abrahams Schoß und Timm Thaler wusste möglicherweise am besten, wann man die Zeit besser nicht „auskauft“. Alle zusammen sahen zu, wie ernst es werden kann, wenn die Weisheit kämpfen muss: Don Quijote jagte mal wieder eine Gruppe Soldaten in die Flucht, die auch von ferne nicht harmlos aussahen – wie etwa Schafe oder Windmühlen. Der unbestechliche Bilderbuchritter ließ sich von niemandem etwas vormachen. Von ihm lernte ich, wie man die Erde lesen muss, wenn man den Himmel pflücken will. Dabei achtete er nicht auf berühmte Zaungäste. Schon gar nicht hörte er auf seinen neunmalklugen Freund Sancho, der mit seinem sachlichen Scharfblick die wirkliche Welt und erst recht den Himmel fast immer verfehlte.
Ob es um Weisheit geht oder um Glaubensdinge, ich habe meine himmlischen Lehrerinnen und Berater fast immer und überall bei mir. Sie bewohnen meinen „Himmel zum Mitnehmen“ bis auf den heutigen Tag. Mühsam habe ich gelernt, sorgsam auf sie zu hören. Ich lernte auch, dass so ein Himmel allezeit von neuem gefügt werden muss: mal zu einem Mosaik aus tausend Scherben, mal zu einem Wort aus tausend Wörtern. Mein liebes blaues Puzzle weiß in allen erdenklichen Farben zu leuchten. Aber es bleibt ein Himmel auf Abruf. Dennoch habe ich nicht verlernt, ihn überall zu „pflücken“, wie einen Strauß Wiesenblumen.
Was aber, wenn dieser Himmel eines Tages schließt? Wenn wir neu leben lernen müssten in einer mündigen Welt, „als ob es Gott nicht gäbe“? So jedenfalls hat es Dietrich Bonhoeffer in einer überaus „bösen Zeit“ formuliert. Hält unser Glaube auch das noch aus?
Stell dir vor, du legst dich schlafen zu deiner Zeit und erwachst in der
Haut- und Knochenzeit
So jedenfalls erging es Leonhard Auberg, dem Ich-Erzähler in dem Roman „Atemschaukel“ von Herta Müller.
Sein heiterer Himmel war mit einem Schlag rabenschwarz geworden, als er am 17. Januar 1945 nachts um drei aus dem Schlaf gerissen und von einer Patrouille abgeholt wird. Als Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien wird er, kaum siebzehn Jahre alt, in ein Arbeitslager im Donbass deportiert.
In seiner Erinnerung weinte die Mutter ihm noch lange nach. Aber die Großmutter sprach ihm auf dem Hausflur eine Gewissheit ins Herz: „ICH WEIß, DU KOMMST WIEDER“. An diese fünf Worte wird er sich klammern. Denn schon während des wochenlangen Transports im Viehwagen bleiben viele teuer bezahlte Wahrheiten auf der Strecke und türmen sich zwischen den Bahngleisen zu „böser Zeit“.
„Kaufet die Zeit aus“, sagt der Predigttext. Aber im Lager ist die Zeit umstellt und bewacht von scharfen Wächtern: „Trübsal, Angst, Hunger, Kälte, Blöße, Gefahr und Krieg“ (Römer 8).
Schon bei der Ankunft haben viele Alltagsworte abgelaufene Schuhe. Auch ewige Gewissheiten verstummen langsam. Und Gott selbst scheint betreten zu schweigen. Die meisten Worte sind todmüde. Die meisten Menschen auch.
Immer wieder dreht sich der Zeitkreisel, droht der „Hungerengel“.
Phantomschmerzen der Kuckucksuhr
Das „Auskaufen der Zeit“ wird im Lager mit Seelengeld bezahlt. Das belegt eine Kuckucksuhr, die plötzlich in der Baracke am Nagel über dem Blecheimer hing und die böse Zeit hütete. Niemand wusste, woher sie gekommen war. Niemand wollte sie haben. Denn “… sie belästigte uns alle zusammen und jeden einzeln. Im leeren Nachmittag horchte das Ticken, ob man kam, ging, in seinem Bett schlief. Oder nur dalag, in sich selbst gekehrt oder abwartend, weil man zu hungrig zum Einschlafen und zum Aufstehen zu matt war. Aber nach dem Abwarten kam nichts, außer dem Ticken im Gaumenzäpfchen verdoppelt vom Ticken der Uhr. Eigentlich gehörte die Kuckucksuhr dem Hungerengel. Es ging hier im Lager doch gar nicht um unsere Zeit, nur um die Frage: Kuckuck, wie lang leb ich noch?“
Bis einer den Kuckuck von der Wand schlug. Aber der Phantomschmerz blieb lange.
Beschriftete Schätze
In Herta Müllers Buch gibt Leonhard Auberg nach fünf Jahren Zwangsarbeit Auskunft über sein wunderbares Überleben. Was er bewahrt, und vor allem, was ihn bewahrt hat, erzählt er mit ganz ungewohnten Worten. Meinen Weisheitshimmel kannte er ja nicht. Er hat ganz anders lernen müssen, seine Zeit abzusuchen und auszukaufen. Fünf Jahre. Tag für Tag. Pausenlos. Allerböseste Zeit. Was er nach der Haft nach Hause bringt, lässt aufhorchen:
„Kleine Schätze sind die, auf denen steht: Da bin ich. Größere Schätze sind die, auf denen steht: Weißt du noch?.
Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird: Da war ich.“
„Da bin ich“
Überlebensschätze liegen nicht auf der Straße. Stehen sie in der Bibel? Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Auberg musste sie jedenfalls mitten im Lager einsammeln, verstecken und behüten, wenn zwischen Alltagsangst oder Sonntagsenge die Zeit zuzuschlagen drohte:
Der graue Putz auf der Barackenwand macht Ernst mit einem Sonnenstrahl. Später tanzt der Mai durch die Brennnesseln. Eine Linde verborgt ihren Schatten an einen kurzen Sommertag. In einer Fensterzeile macht der alte Himmel ein paar Minuten Kopfstand.
Man lernt, ein helles Rechteck auf der weißen Wand des Wachturms lieb zu gewinnen. Das ist eine gute Übung. Alle Schätze fangen unten an.
„Weißt du noch?“
steht auf den größeren Schätzen. Aber wie Mehltau legt sich flüchtiges Heimweh darauf. Es stört und stöbert. Begegnungen, Erzählungen, sogar Umarmungen werden durchkämmt.
Die meisten Menschen hängen mit ihren Erinnerungen an einer Landschaft fest. An einem Gebirge, einem Fluss, einem Stadtviertel, einer Straße von früher. Manchen genügt ein Treppenhaus, ein Lichtmuster auf dem Asphalt, die untrügliche Farbe des Ginsters. Dann kommt zutage, „was allen in die Kindheit scheint“. Das erste buchstabierte Wort, sogar ein Brief an den lieben Gott. Auf allem steht: Weißt du noch?
Herzhimmel
Der schönste Himmel kann auf einmal leer sein, auch außerhalb aller Lager. Überall, wo das Diktat der bösen Zeit die Oberhand gewinnt, erscheint das Vertrauteste schnell fremd: Gott. Erst recht der Heilige Geist. Und alle Engel.
In einen fremden Himmel hängt niemand Geigen.
Zuerst vergeht einem das Singen. Dann das Beten. Zuletzt die Verheißungen. Aber der Geist weht, wo er will, fremd oder nicht, in der besten und in der bösesten Zeit.
Deshalb sind die schönsten Schätze die, auf denen stehen wird: Da war ich.
Sie klingen nach in einem Wiegenlied oder in einem Wind in den Weidenbäumen. Sie werden sichtbar in einer schnellen Schrift am Rand einer Buchseite. Oder in einem heimlichen Freudentanz nach der Heimkehr.
Da stößt der Erzähler am Ende des Romans noch einmal auf den Predigttext. Weltlich, aber treffsicher:
„Ich habe Zeit… Wenn der Uhrturm halb drei schlägt, fällt die Sonne ins Zimmer. Auf dem Fußboden ist der Schatten meines Tischchens ein Grammophonkoffer. Er spielt mir das Lied vom Seidelbast oder die plissiert getanzte Paloma. Ich hole das Kissen vom Sofa und tanze in meinen plumpen Nachmittag.“
Seither sind seine Lieder in meinem Herzhimmel aufgeschrieben.
Der Himmel hat eine große Weite.
Für Lieder. Für Gebete. Für Erinnerungen. Für Wunder. Für alle Nähe und für alles Ferne. Für Gott und für den Heiligen Geist. Und für seine schönsten Schätze:
Abrahams Schoß und Saras Lächeln. Moses Körbchen und Miriams Trommeln. Sogar Posaunen von Jericho. Eine Sprosse von Jakobs Leiter, ein Muster von Josephs Rock. Eine Saite von Davids Harfe und Salomonis Seide.
Im Herzhimmel gibt es kein einziges Haus aus fremdem Lehm.
Überall wird draufstehen: Da war ich.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist für eine Stadtteilgemeinde geschrieben, die eine rege, gut gemischte Zuhörerschaft erwarten lässt. Durch die Pandemie und vor allem vor dem anhaltenden Hintergrund des Krieges ist die Gemeinde hellhörig geworden und fragt: „Halten unsere Gewissheiten besser stand als unsere Gewohnheiten?“
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Buch „Atemschaukel“ von Herta Müller. Darin wird die Aufforderung des Predigttextes, „die Zeit auszukaufen“, dem Härtetest eines Gefangenenlagers ausgesetzt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass es kindliche Gewissheiten gibt, die tröstlicher sind als alle erwachsenen Weisheiten zusammen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich habe mit der Predigtcoach einen sehr lebendigen Dialog geführt. Ihre behutsamen Hinweise haben mich bestärkt, meinen Entwurf sehr verbessert und – sogar lang gehegte Denkgewohnheiten korrigiert.