Wie wollen wir leben? Wie das Heilige achten, das in allem Lebendigem wirkt? Phoebe und Paulus schreiben ihre Überlegungen an ihre Geschwister, die in Rom, im Herzen des Imperiums leben. Wie können wir gemeinsam blühen und befreiter leben?
Auch bell hooks fragt das Thich Nhat Hanh: Wie können Gemeinschaften der Liebe entstehen?
Und er: Wir sollten uns fragen: Können wir uns selbst lieben? Achten wir unseren Körper – mit dem was wir essen, trinken, wie arbeiten wir? Behandeln wir ihn mit Freude und Zärtlichkeit und Frieden? Es gibt keine wirkliche Trennung zwischen dem Selbst und dem Nicht-selbst. Was du für dich tust, das tust du auch für die Gesellschaft. Und was du für die Gesellschaft tust, das tust du auch für dich.
Liebt einander wie Geschwister. Der Text erinnert an das Doppelgebot der Liebe: Liebe Gott und deine*n Nächste*n wie dich selbst. Es hängt zusammen. Aber in unserem Wirtschaftssystem profitieren Unternehmen und Regierungen davon, dass genau das nicht geschieht. Profit wächst, wenn sich die Geschöpfe spalten lassen und sich selbst nicht achten können. Die Idee der Freiheit und des guten Lebens für alles was lebt verkümmert und beschränkt sich auf Eigenheim und erfolgreichen Job. Liebe Gott und deine Nächsten wie dich selbst zeigt dagegen: Das Leben ist unendlich kostbar, niemandes Zukunft soll versperrt sein, wir sind alle zur Freiheit bestimmt. Nächstenliebe ist daher auch nicht völkisch gemeint. Die Nächsten sind die Nahen, die Fernen und auch die mir feindselig gegenüber sind. Lieben ist nicht sentimental gemeint. Liebe soll befreiend und heilend wirkend und sie verlangt nach Strukturen, die ihr entsprechen. Die Briefschreibenden spitzen das noch zu: Es ist Gottesdienst Strukturen aufzubauen und zu pflegen, die sich an den Schwächsten orientieren. Liebt einander wie Geschwister. Das ist Gottesdienst (Röm 12,1). Das ist bemerkenswert, denn es zeigt wie wichtig ihnen das Lieben ist. Der Gottesdienst beschränkt sich nicht auf alte Rituale und Liturgien, sondern er vollzieht sich im Leben. Friedensfähigen, schöpfungsfreundlichen Gemeinwesen ein Willkommen zu bereiten ist Gottesdienst.
Wie das aussehen kann? Das versuchen sie dazulegen. Und ja, wie Ratgeberliteratur ist auch dieser biblische Text mit ungehörig vielen Imperativen bespickt. Ein wenig erschlagend wirkt der Anforderungskatalog. Aber er soll uns nicht entmutigen, klein machen, noch soll er autoritär befolgt werden. Alles was einst aufgeschrieben wurde, wurde verfasst, damit wir daraus lernen. (Röm 15,4) Und lernen heißt eben nicht unkritisch nachahmen. Prüft es und das Gute behaltet (1 Thess 5,21).
Ich denke Phoebe und Paulus wurzeln in dem Vertrauen auf die Fülle der Schöpfung. Auf das Wunder des Genügens. Und so lädt der Brief ein: Teilt das was ihr habt. Unterschiedlich ist das Brot verteilt und die Würde geachtet. Das schmerzt, also teilt. Teilt, schreiben sie. Statt tauscht. Vielleicht weil das Teilen attraktiver ist als das Tauschen – gib du mir dies, dann gebe ich dir das? Wirkt der profitorientierte Tausch nicht kleinlich gegen das bedürfnisorientierte „Nimm was du brauchst, ich nehme, was ich brauche“? Denn es ist doch genug für alle da.
Eine besondere Art zu teilen ist die Gastfreundschaft. Seid jederzeit gastfreundlich, schreibt Paulus. Die wohl ältesten Gebote der Bibel, weit älter als die 10 Gebote, sind die der Gastfreundschaft und das Asylrecht. Selten ist die Bibel ethisch so einmütig wie in diesem: Bietet Zuflucht wie ein Schatten, der in der Mittagshitze schützt wie die Nacht. Versteckt die Vertriebenen, verratet die Geflüchteten nicht! (Jesaja 16,3)
Also: Seid gastfreundlich. Auch gegen den Willen der Herrschenden. Seid es auf dem Festland im Kirchenasyl oder auf den Schiffen der Solidarität in stürmischer See.
Denn ohne die Gastfreundschaft und das Asylrecht bleibt Bewegungsfreiheit immer ein Privileg der Reichen. Bewegungsfreiheit aber ist elementar für alles was lebt. Wie könnten wir ohne das Wissen, wir wären in anderen, weit entfernten Gesellschaften willkommen, über die Autoritäten lachen? Wie den Kriegsdienst verweigern? Wie Gemeinwesen wirklich mitgestalten?
Es sind migrationspolitisch erbärmliche Zeiten. Nicht erst seit der „Migrationswende“. In der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, in der ich als Seelsorgerin mit meiner muslimischen Kollegin arbeite, nehme ich die Menschen wahr, die Zuflucht, Neuanfang und Sicherheit suchen. Ja, sie werden aufgenommen und erstmal versorgt. Aber schnell wird ihnen deutlich gemacht: Ihr seid hier alles andere als erwünscht. Tief einsickern soll die Angst vor Abschiebungen in die Seelen und Körper. Tägliche Anwesenheitskontrollen, Residenzpflicht und später die erniedrigende Bezahlkarte prägen den Alltag. Manchen von ihnen soll nur noch Bett, Brot und Seife zugestanden werden. Wie erbärmlich!
Es braucht Mut, dem Rechtsruck zu widerstehen. Und viel Kraft darin zu überleben und Wege aus dieser Trostlosigkeit zu finden. Es braucht Gemeinschaften, die egal aus welcher atheistischen oder religiösen Ecke sie kommen, alles daran setzen dem Morden an den Grenzen und der gezielten Verwahrlosung in den Flüchtlingslagern und Armenvierteln dieser Erde ein Ende zu setzen.
Nennt das Böse beim Namen und werft euch dem Guten in die Arme. Gewalt wahrnehmen und benennen ist spirituelle Arbeit. Es ist die Aufgabe von Christ*innen und ihren Kirchen, die gewaltsamen Tode an der europäischen Außengrenze zu betrauern und die Gewalt zu skandalisieren – bis die tödlichen Grenzen abgeschafft sind. Ziel dieser spirituellen Praxis des Benennens ist nicht zu beschämen oder sich selbst moralisch über andere zu erheben. Es ist Mitarbeit an freieren, offeneren und solidarischeren Gemeinwesen. Friedensfähigen, schöpfungsfreundlichen Gemeinwesen ein Willkommen zu bereiten ist Gottesdienst.
Gegen die erlebte Gewalt und die vielen Tode mag manch Rachefantasie trösten. Und Trost braucht es. Heißt es nicht auch im 5. Buch Mose 27,19: Verflucht diejenigen, die das 'Recht der Fremden, Waisen und Witwen beugen!'. Trauer und Wut darf sich aber wandeln. Wir brauchen uns nicht in Rachefantasien verlieren. So verstehe ich den Brief. Auch die scheinbar gerechteste Gewalt trägt die Samen zukünftiger Gewalt in sich. „Unsere Waffe ist es, keine zu haben“, schreibt Martin Luther King (King, 1974, 32). Also: Nennt das Böse beim Namen und werft euch dem Guten in die Arme. United for Rescue tut genau das – auf hoher See, mit dem Einsatz der Crew, einem riesigen Netzwerk an solidarischen Menschen auf dem Festland, den Öffentlichkeitsarbeitenden, den Schiffshandwerker*innen, den Spender*innen aus den muslimischen, jüdischen und christlichen Gemeinden, aus den Gewerkschaften und so vielen mehr. Sie alle ziehen an einem Strang und richten sich dabei nicht an den Mächtigen aus, sondern an den Erniedrigten.
We shall overcome ist eine der Grundmelodien der Bibel. Menschen entkamen den Sklavenhäusern dieser Welt, Herrschende wurden von den Thronen gestürzt, Menschen wurden aus dem Meer gerettet, wurden bewahrt von dem Verhungern und Verdursten in der Wüste.
Es sind migrationspolitisch erbärmliche Zeiten. Aber „das von Gott“, wie die Quäker*innen es nennen, schläft in allem was lebt. Auch in uns. Und es wartet darauf frei und sichtbar zu werden.
Wie wollen wir leben? - Predigt zu Röm 12,9-20 von Josephine Furian
12,9-20