(Als Lesung wird zuvor Lk 15, 11-18 gelesen!)
I. Überschwängliche Freude
Du meinst wirklich mich?
Das fragte mich der große junge Mann, als ich ihm auf dem CSD vor 4 Wochen ein Regenbogenband um sein Handgelenk legte. Darauf stand: „Ich bin wunderbar gemacht.“ Du meinst das wirklich, dass ich wunderbar gemacht bin? Bisher habe ich von Christen immer was anderes gehört. Dass ich ein Sünder sei. Dass das nicht richtig ist, dass ich einen Mann liebe. Und jetzt segnest du mich?
Ja, jetzt segne ich dich, sagte ich zu ihm. Denn du bist ein geliebtes Kind Gottes.
Er schaute mich ungläubig an. Und dann umarmte er mich. Und ich dachte nur: Was für eine Gnade, dass ich das erlebt habe!
Ich hab mich bestimmt verhört, wird der jüngere Sohn in der Geschichte denken, die wir eben gehört haben. Das kann doch nicht sein. Mein Vater meint bestimmt nicht mich. Nach allem, was ich ihm angetan habe?
Aber er hat sich nicht verhört. Sein Vater meint ihn. Und nur für ihn fährt er alles auf, was er in dem Moment bieten kann. Nur um ihm das eine zu sagen und zeigen: du bist mein Sohn. Du bist das Kind, das ich lieb habe. Und du lebst. Das ist Grund genug zu feiern – und zwar dass es kracht! Gnade pur.
Damit hat der jüngere Sohn nicht gerechnet. Und sein älterer Bruder auch nicht. Beide Brüder sind schlicht überfordert von der Großzügigkeit ihres Vaters. Der eine, weil er sich nicht für würdig genug hält. Der andere, weil er immer noch denkt, dass er keinen Anteil hat.
II. Gottes weites Herz
Jesus erzählt diese Familiengeschichte. Und in beiden Brüdern erkenne ich mich wieder. Auch ich rechne oft nicht damit, dass Gottes Herz so groß und so weit ist, dass ich darin Platz habe. Ich mit meinen Fehlern, meinen Unzulänglichkeiten. Ich, wenn ich mich verstrickt habe in meine Wut. Oder meine Angst. Wenn ich mich messe mit denen, die alles schaffen, und ich mal wieder nicht. Wenn ich mich selber klein mache und für wertlos halte. Warum sollte mich dann Gott mögen, wenn ich mich noch nicht mal selber mag?
Jesus erzählt und lebt was anderes. Gottes Herz ist riesengroß. Weiter als jedes Meer. Weiter als Himmel und Erde zusammen. Dort ist Platz für mich und für dich. Für alle Lebenswege und alle Irrwege. Der jüngere Sohn, der alles verprasst, hat dort Platz, und der ältere Sohn, der sich von Neid zerfressen lässt auch. Aber gilt das auch für die bösen Menschen? Die Verächter und Zerstörer? Die Lieblosen und die, die über Leichen gehen?
Jede Faser meines Gerechtigkeitssinns sträubt sich dagegen.
III. Gott ist freundlich gegenüber Paulus
Nun erzählt nicht nur Jesus von Gottes grenzenloser Liebe, sondern auch Paulus hat das erfahren: diese Freundlichkeit Gottes – und das gerade nicht, weil er alles „richtig“ macht, sondern im Gegenteil: Er war selber sehr unfreundlich zu allem, was christlich war. Und trotzdem hat Gott ihn ins Herz geschlossen. Ich hab das nicht verdient, weiß Paulus. Und trotzdem ist es passiert.
Das Ganze ist aber keine Wohlfühlgeschichte, sondern hat schmerzhafte Folgen für ihn. Denn von nun an lebt er in der Spannung zwischen den Gegensätzen seines Lebens: Jude und Römer, Jude und Christ, Bewahren und Erneuern, Festhalten und Loslassen, Freiheit und Bindung. Diese Pole lösen sich ja jetzt nicht einfach auf. Es gibt kein Davor oder Danach, sondern ein Davor UND Danach. Und das, was ihm vorher wichtig war, ist ja immer noch Teil seiner Geschichte. Aber sein Blick darauf hat sich verändert. Sein Herz ist weiter geworden – auch gegen sich selbst –, weil Gott ihn freundlich anschaut. Und diese Herzensweite wünscht er sich auch von den Gemeinden, an die er seine Briefe schreibt.
IV. Paulus als Vorbild
Paulus hat damit Maßstäbe gesetzt. Seine Wende-Geschichte findet rund 20 Jahre später Eingang in die Apostelgeschichte. Paulus wird zum Beispiel für einen gottlosen Frevler, der sich zum redegewandten erfolgreichen Missionar wandelte. Und so entstehen in den folgenden Jahrzehnten weitere Texte und Schriften, die an diesen Paulus und seine Wende-Geschichte erinnern.
Ich lese Worte aus dem ersten Brief an Timotheus:
Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, der mir die nötige Kraft gegeben hat.
Denn er hat mir sein Vertrauen geschenkt und mich in seinen Dienst genommen.
Dabei habe ich ihn früher verhöhnt und verfolgt und mich voll Überheblichkeit gegen ihn gestellt. Aber er hat mir sein Erbarmen geschenkt. Denn ungläubig, wie ich war, wusste ich nicht, was ich tat.
Ja, unser Herr schenkte uns Gnade über alle Maßen. Mit ihr schenkte er uns den Glauben und die Liebe, die aus der Verbundenheit mit Christus Jesus erwachsen.
Auf das Wort, das ich dir nun sage, kannst du dich verlassen. Es ist wert, von allen angenommen zu werden: Christus Jesus ist in diese Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Und ich selbst bin der erste unter ihnen.
Aber gerade deshalb hat er mir sein Erbarmen geschenkt. Denn Christus Jesus wollte an mir als Erstem beispielhaft seine ganze Geduld zeigen. Sie gilt allen, die künftig zum Glauben an ihn kommen und dadurch das ewige Leben empfangen.
Dem ewigen König, dem unvergänglichen, unsichtbaren und einzigen Gott gebührt die Ehre. Er regiert in Herrlichkeit für immer und ewig. Amen!
Gnade über alle Maßen! Das steht am Anfang eines Schreibens, das sich mit vielen Regeln für die wachsenden Kirche im 1.Jahrhundert beschäftigt: Gnade über alle Maßen. Es erinnert an Paulus und tritt in seine Fußstapfen. Es legt ihm Worte in den Mund, wie es damals üblich war, und denkt das, was Paulus erlebt hat, weiter.
V. Wende-Geschichte
Vielleicht, so denkt er, braucht es doch den richtigen Bruch mit dem vorherigen Leben? Vorher Gewalt und Frevel und Unwissenheit, jetzt Liebe und inniger Glauben. Das Danach soll mit dem Davor nichts mehr zu tun haben.
Und das verstehe ich gut. Es gibt ja viele Gründe, warum einer mit seinem früheren Ich nichts mehr zu tun haben möchte.
Michael, ein Freund von mir, war als junger Mann bei der NPD. Er ist da hineingeraten, weil er in der Schule gemobbt wurde. Die NPD hat ihn wie eine Familie aufgenommen. Dort war er was wert und sein Verstand, seine Schlagfertigkeit wurden sehr geschätzt. Gott sei Dank gab es Menschen in seiner Nähe, die nicht locker ließen: Das ist doch nicht dein Ernst! So viel Menschenverachtung passt doch nicht zu dir. Und schau dir doch an, wohin das führt: eine homogene Gesellschaft, die kein Erbarmen kennt. Das kannst du doch nicht wirklich wollen. Sie appellierten an seinen Verstand, an sein Mitgefühl, an sein Herz. Und irgendwann – nach 9 Jahren! – erkannte er: so will ich nicht sein – und er stieg aus. Ein Bruch mit seiner Vergangenheit.
Aber wie Paulus, weiß er auch, dass er sein früheres Ich nicht leugnen kann. Es gehört zu seiner Geschichte und macht ihn zu dem, was er heute ist. Er ist immer noch sehr schlagfertig, oft zynisch, sehr direkt – und lässt an all diesen rechten Menschenverächtern kein gutes Haar. Aber er weiß, wie es sich anfühlt, einer von ihnen zu sein. Sie haben ihn damals gerettet als er gemobbt wurde, sagt er heute. Das war gefährlich. Und dann haben ihn andere gerettet. Die, die wirklich menschlich sind. Und das ist Gnade.
VI. Gnade über alle Maßen
Mein Freund Michael ist kein Christ geworden und dennoch für mich ein Vorbild, denn er hat etwas gelernt und zieht die Konsequenzen daraus. So wie Paulus. So wie die beiden Söhne, die die Freundlichkeit ihres Vaters nicht begreifen können. Ja, auch der ältere Sohn ist ein Beispiel für mich, denn auch er ist ein Lernender. Er sagt, was ihn verletzt, und will verstehen. Ob er sich am Ende mitfreuen kann, erfahre ich nicht. Aber wenn es ihm noch nicht gleich gelingt, dann irgendwann später vielleicht.
Denn Gott ist freundlich auch zu ihm, der sich erstmal nicht mitfreuen kann. Dem Verletzten und Vernachlässigten. Gott breitet ihre Arme aus und wirbt um Verständnis. Denn Gott weiß, dass ihre Freundlichkeit ganz schön unverschämt ist. Sie mutet mir zu, dass ich mein Herz noch weiter mache. Und dass ich mir und anderen zutraue, dass wir uns ändern können.
Ich gestehe, das fällt mir bei einigen schwer. Zu groß mein Entsetzen. Zu groß die Angst, was sie alles anrichten können. Ein Trump, der sein Land gerade zu einer Zone der Angst macht. Ein Putin, der keine Skrupel kennt. Eine Hamas-Terrorgruppe, die ihre eigene Bevölkerung opfert und Juden und Jüdinnen auslöschen will. Und ja, die sind so faszinierend für die jungen gedemütigten Michaels dieser Welt, die mit den Sprengstoffgürteln und den Schlagstöcken – dort sind sie wer. Und das ist so fies von diesen Trumps, Putins und Hamas dieser Welt.
Und du hast vielleicht deine ganz eigene Geschichte, mit Menschen, die dich verletzt oder gedemütigt haben. Und vielleicht bezweifelst du aus guten Gründen, dass sie sich ändern können. Vielleicht ist es dir sogar egal?
Das ist alles in Ordnung. Du musst ihnen nicht verzeihen. Du musst sie auch nicht ändern. Aber vielleicht kann Gott das tun?
Gnade für mich – das heißt: Gott möge mich freundlich anschauen, auch wenn mein Herz gerade ganz klein ist. Gnade für alle, die sich mit den beiden Brüdern aus der Jesusgeschichte mitfreuen können und für die, die noch Zeit brauchen. Gnade für alle, die kein Verständnis mit den Gnadenlosen aufbringen können.
Gnade über alle Maßen: sie gilt auch für alle die, von denen wir uns wünschen, dass sie das nie getan hätten, was sie getan haben oder tun. Gnade für die, die ungnädig sind. Vielleicht sogar für den Amokschützen von Graz oder die Neonazis, die uns als Kirche in die Hölle wünschen, weil wir eine Regenbogenflagge flattern lassen und queere Menschen segnen.
Gnade.
Gnade für sie – das heißt: Gott möge ihr Herz wenden und sie zu neuen Menschen machen.
Gnade über alle Maßen: das gilt erst mal für dich. Gott schaut dich freundlich an – mit deiner Vorgeschichte, deiner Wende-Geschichte, deinem Jetzt.
Und dann – ja vielleicht dann geschieht in allen von uns eine Wende im Herzen.
Das Davor ist Teil unserer Geschichte. Und das danach auch. Und alles das schaut Gott freundlich an. Und nimmt uns dann in ihre Arme.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Aufgrund der beschriebenen „Wende-Biografie“ im Predigttext fiel mir ein Mensch ein, der eine besonders krasse Wende in seinem Leben erfahren hat.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hinter den „pathetischen“ Sätzen im Predigttext stehen Erfahrungen. Mir hat geholfen, die Worte vom Timotheusbrief mit dem Gleichnis von den verlorenen Söhnen zu verschränken, das an diesem Sonntag auch Evangeliumstext ist. Dadurch bekommen die Sätze des Timotheus mehr Geschichte.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die wissenschaftliche Einordung, dass der Timotheusbrief kein „echter“ Paulusbrief ist, sorgt für eine Predigt für Unruhe: tu ich so, als ob es doch von Paulus ist, oder erkläre ich, was dahinter steckt? Aber verwirre ich damit nicht mehr, als dass ich das Evangelium predige? Mir hat die Entdeckung geholfen, dass es ja um ein Weitererzählen von Gnaden-Erfahrungen geht. Auf einmal entsteht eine Reihe: Jesus (Gleichnis), Paulus, Schüler von Paulus, ich, mein Freund Michael usw.! Und das macht die Gnade wirklich maßlos!
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mich dazu gebracht, den Anfang noch umzuarbeiten und damit gleich mit einer eigenen Erfahrung einzusteigen. Danke fürs wohlwollend-kritische Feedback. Ich bin einfach froh, diese Möglichkeit des Feedbacks zu haben!