Maßlose Gnade - Predigt zu 1.Tim 1,12-17 von Christiane Quincke
(Als Lesung wird zuvor Lk 15, 11-18 gelesen!)
I. Überschwängliche Freude
Du meinst wirklich mich?
Das fragte mich der große junge Mann, als ich ihm auf dem CSD vor 4 Wochen ein Regenbogenband um sein Handgelenk legte. Darauf stand: „Ich bin wunderbar gemacht.“ Du meinst das wirklich, dass ich wunderbar gemacht bin? Bisher habe ich von Christen immer was anderes gehört. Dass ich ein Sünder sei. Dass das nicht richtig ist, dass ich einen Mann liebe. Und jetzt segnest du mich?
Ja, jetzt segne ich dich, sagte ich zu ihm. Denn du bist ein geliebtes Kind Gottes.
Er schaute mich ungläubig an. Und dann umarmte er mich. Und ich dachte nur: Was für eine Gnade, dass ich das erlebt habe!
Ich hab mich bestimmt verhört, wird der jüngere Sohn in der Geschichte denken, die wir eben gehört haben. Das kann doch nicht sein. Mein Vater meint bestimmt nicht mich. Nach allem, was ich ihm angetan habe?
Aber er hat sich nicht verhört. Sein Vater meint ihn. Und nur für ihn fährt er alles auf, was er in dem Moment bieten kann. Nur um ihm das eine zu sagen und zeigen: du bist mein Sohn. Du bist das Kind, das ich lieb habe. Und du lebst. Das ist Grund genug zu feiern – und zwar dass es kracht! Gnade pur.
Damit hat der jüngere Sohn nicht gerechnet. Und sein älterer Bruder auch nicht. Beide Brüder sind schlicht überfordert von der Großzügigkeit ihres Vaters. Der eine, weil er sich nicht für würdig genug hält. Der andere, weil er immer noch denkt, dass er keinen Anteil hat.
II. Gottes weites Herz
Jesus erzählt diese Familiengeschichte. Und in beiden Brüdern erkenne ich mich wieder. Auch ich rechne oft nicht damit, dass Gottes Herz so groß und so weit ist, dass ich darin Platz habe. Ich mit meinen Fehlern, meinen Unzulänglichkeiten. Ich, wenn ich mich verstrickt habe in meine Wut. Oder meine Angst. Wenn ich mich messe mit denen, die alles schaffen, und ich mal wieder nicht. Wenn ich mich selber klein mache und für wertlos halte. Warum sollte mich dann Gott mögen, wenn ich mich noch nicht mal selber mag?
Jesus erzählt und lebt was anderes. Gottes Herz ist riesengroß. Weiter als jedes Meer. Weiter als Himmel und Erde zusammen. Dort ist Platz für mich und für dich. Für alle Lebenswege und alle Irrwege. Der jüngere Sohn, der alles verprasst, hat dort Platz, und der ältere Sohn, der sich von Neid zerfressen lässt auch. Aber gilt das auch für die bösen Menschen? Die Verächter und Zerstörer? Die Lieblosen und die, die über Leichen gehen?
Jede Faser meines Gerechtigkeitssinns sträubt sich dagegen.
III. Gott ist freundlich gegenüber Paulus
Nun erzählt nicht nur Jesus von Gottes grenzenloser Liebe, sondern auch Paulus hat das erfahren: diese Freundlichkeit Gottes – und das gerade nicht, weil er alles „richtig“ macht, sondern im Gegenteil: Er war selber sehr unfreundlich zu allem, was christlich war. Und trotzdem hat Gott ihn ins Herz geschlossen. Ich hab das nicht verdient, weiß Paulus. Und trotzdem ist es passiert.
Das Ganze ist aber keine Wohlfühlgeschichte, sondern hat schmerzhafte Folgen für ihn. Denn von nun an lebt er in der Spannung zwischen den Gegensätzen seines Lebens: Jude und Römer, Jude und Christ, Bewahren und Erneuern, Festhalten und Loslassen, Freiheit und Bindung. Diese Pole lösen sich ja jetzt nicht einfach auf. Es gibt kein Davor oder Danach, sondern ein Davor UND Danach. Und das, was ihm vorher wichtig war, ist ja immer noch Teil seiner Geschichte. Aber sein Blick darauf hat sich verändert. Sein Herz ist weiter geworden – auch gegen sich selbst –, weil Gott ihn freundlich anschaut. Und diese Herzensweite wünscht er sich auch von den Gemeinden, an die er seine Briefe schreibt.
IV. Paulus als Vorbild
Paulus hat damit Maßstäbe gesetzt. Seine Wende-Geschichte findet rund 20 Jahre später Eingang in die Apostelgeschichte. Paulus wird zum Beispiel für einen gottlosen Frevler, der sich zum redegewandten erfolgreichen Missionar wandelte. Und so entstehen in den folgenden Jahrzehnten weitere Texte und Schriften, die an diesen Paulus und seine Wende-Geschichte erinnern.
Ich lese Worte aus dem ersten Brief an Timotheus:
Ich danke Christus Jesus, unserem Herrn, der mir die nötige Kraft gegeben hat.
Denn er hat mir sein Vertrauen geschenkt und mich in seinen Dienst genommen.
Dabei habe ich ihn früher verhöhnt und verfolgt und mich voll Überheblichkeit gegen ihn gestellt. Aber er hat mir sein Erbarmen geschenkt. Denn ungläubig, wie ich war, wusste ich nicht, was ich tat.
Ja, unser Herr schenkte uns Gnade über alle Maßen. Mit ihr schenkte er uns den Glauben und die Liebe, die aus der Verbundenheit mit Christus Jesus erwachsen.
Auf das Wort, das ich dir nun sage, kannst du dich verlassen. Es ist wert, von allen angenommen zu werden: Christus Jesus ist in diese Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Und ich selbst bin der erste unter ihnen.
Aber gerade deshalb hat er mir sein Erbarmen geschenkt. Denn Christus Jesus wollte an mir als Erstem beispielhaft seine ganze Geduld zeigen. Sie gilt allen, die künftig zum Glauben an ihn kommen und dadurch das ewige Leben empfangen.
Dem ewigen König, dem unvergänglichen, unsichtbaren und einzigen Gott gebührt die Ehre. Er regiert in Herrlichkeit für immer und ewig. Amen!
Gnade über alle Maßen! Das steht am Anfang eines Schreibens, das sich mit vielen Regeln für die wachsenden Kirche im 1.Jahrhundert beschäftigt: Gnade über alle Maßen. Es erinnert an Paulus und tritt in seine Fußstapfen. Es legt ihm Worte in den Mund, wie es damals üblich war, und denkt das, was Paulus erlebt hat, weiter.
V. Wende-Geschichte
Vielleicht, so denkt er, braucht es doch den richtigen Bruch mit dem vorherigen Leben? Vorher Gewalt und Frevel und Unwissenheit, jetzt Liebe und inniger Glauben. Das Danach soll mit dem Davor nichts mehr zu tun haben.
Und das verstehe ich gut. Es gibt ja viele Gründe, warum einer mit seinem früheren Ich nichts mehr zu tun haben möchte.
Michael, ein Freund von mir, war als junger Mann bei der NPD. Er ist da hineingeraten, weil er in der Schule gemobbt wurde. Die NPD hat ihn wie eine Familie aufgenommen. Dort war er was wert und sein Verstand, seine Schlagfertigkeit wurden sehr geschätzt. Gott sei Dank gab es Menschen in seiner Nähe, die nicht locker ließen: Das ist doch nicht dein Ernst! So viel Menschenverachtung passt doch nicht zu dir. Und schau dir doch an, wohin das führt: eine homogene Gesellschaft, die kein Erbarmen kennt. Das kannst du doch nicht wirklich wollen. Sie appellierten an seinen Verstand, an sein Mitgefühl, an sein Herz. Und irgendwann – nach 9 Jahren! – erkannte er: so will ich nicht sein – und er stieg aus. Ein Bruch mit seiner Vergangenheit.
Aber wie Paulus, weiß er auch, dass er sein früheres Ich nicht leugnen kann. Es gehört zu seiner Geschichte und macht ihn zu dem, was er heute ist. Er ist immer noch sehr schlagfertig, oft zynisch, sehr direkt – und lässt an all diesen rechten Menschenverächtern kein gutes Haar. Aber er weiß, wie es sich anfühlt, einer von ihnen zu sein. Sie haben ihn damals gerettet als er gemobbt wurde, sagt er heute. Das war gefährlich. Und dann haben ihn andere gerettet. Die, die wirklich menschlich sind. Und das ist Gnade.
VI. Gnade über alle Maßen
Mein Freund Michael ist kein Christ geworden und dennoch für mich ein Vorbild, denn er hat etwas gelernt und zieht die Konsequenzen daraus. So wie Paulus. So wie die beiden Söhne, die die Freundlichkeit ihres Vaters nicht begreifen können. Ja, auch der ältere Sohn ist ein Beispiel für mich, denn auch er ist ein Lernender. Er sagt, was ihn verletzt, und will verstehen. Ob er sich am Ende mitfreuen kann, erfahre ich nicht. Aber wenn es ihm noch nicht gleich gelingt, dann irgendwann später vielleicht.
Denn Gott ist freundlich auch zu ihm, der sich erstmal nicht mitfreuen kann. Dem Verletzten und Vernachlässigten. Gott breitet ihre Arme aus und wirbt um Verständnis. Denn Gott weiß, dass ihre Freundlichkeit ganz schön unverschämt ist. Sie mutet mir zu, dass ich mein Herz noch weiter mache. Und dass ich mir und anderen zutraue, dass wir uns ändern können.
Ich gestehe, das fällt mir bei einigen schwer. Zu groß mein Entsetzen. Zu groß die Angst, was sie alles anrichten können. Ein Trump, der sein Land gerade zu einer Zone der Angst macht. Ein Putin, der keine Skrupel kennt. Eine Hamas-Terrorgruppe, die ihre eigene Bevölkerung opfert und Juden und Jüdinnen auslöschen will. Und ja, die sind so faszinierend für die jungen gedemütigten Michaels dieser Welt, die mit den Sprengstoffgürteln und den Schlagstöcken – dort sind sie wer. Und das ist so fies von diesen Trumps, Putins und Hamas dieser Welt.
Und du hast vielleicht deine ganz eigene Geschichte, mit Menschen, die dich verletzt oder gedemütigt haben. Und vielleicht bezweifelst du aus guten Gründen, dass sie sich ändern können. Vielleicht ist es dir sogar egal?
Das ist alles in Ordnung. Du musst ihnen nicht verzeihen. Du musst sie auch nicht ändern. Aber vielleicht kann Gott das tun?
Gnade für mich – das heißt: Gott möge mich freundlich anschauen, auch wenn mein Herz gerade ganz klein ist. Gnade für alle, die sich mit den beiden Brüdern aus der Jesusgeschichte mitfreuen können und für die, die noch Zeit brauchen. Gnade für alle, die kein Verständnis mit den Gnadenlosen aufbringen können.
Gnade über alle Maßen: sie gilt auch für alle die, von denen wir uns wünschen, dass sie das nie getan hätten, was sie getan haben oder tun. Gnade für die, die ungnädig sind. Vielleicht sogar für den Amokschützen von Graz oder die Neonazis, die uns als Kirche in die Hölle wünschen, weil wir eine Regenbogenflagge flattern lassen und queere Menschen segnen.
Gnade.
Gnade für sie – das heißt: Gott möge ihr Herz wenden und sie zu neuen Menschen machen.
Gnade über alle Maßen: das gilt erst mal für dich. Gott schaut dich freundlich an – mit deiner Vorgeschichte, deiner Wende-Geschichte, deinem Jetzt.
Und dann – ja vielleicht dann geschieht in allen von uns eine Wende im Herzen.
Das Davor ist Teil unserer Geschichte. Und das danach auch. Und alles das schaut Gott freundlich an. Und nimmt uns dann in ihre Arme.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Aufgrund der beschriebenen „Wende-Biografie“ im Predigttext fiel mir ein Mensch ein, der eine besonders krasse Wende in seinem Leben erfahren hat.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Hinter den „pathetischen“ Sätzen im Predigttext stehen Erfahrungen. Mir hat geholfen, die Worte vom Timotheusbrief mit dem Gleichnis von den verlorenen Söhnen zu verschränken, das an diesem Sonntag auch Evangeliumstext ist. Dadurch bekommen die Sätze des Timotheus mehr Geschichte.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die wissenschaftliche Einordung, dass der Timotheusbrief kein „echter“ Paulusbrief ist, sorgt für eine Predigt für Unruhe: tu ich so, als ob es doch von Paulus ist, oder erkläre ich, was dahinter steckt? Aber verwirre ich damit nicht mehr, als dass ich das Evangelium predige? Mir hat die Entdeckung geholfen, dass es ja um ein Weitererzählen von Gnaden-Erfahrungen geht. Auf einmal entsteht eine Reihe: Jesus (Gleichnis), Paulus, Schüler von Paulus, ich, mein Freund Michael usw.! Und das macht die Gnade wirklich maßlos!
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mich dazu gebracht, den Anfang noch umzuarbeiten und damit gleich mit einer eigenen Erfahrung einzusteigen. Danke fürs wohlwollend-kritische Feedback. Ich bin einfach froh, diese Möglichkeit des Feedbacks zu haben!
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06.07.2025 - 3. Sonntag nach Trinitatis
Der Botschaft von Weihnachten Glauben schenken - Predigt zu 1Tim 3,16 von Christiane Borchers
Nach dem Urteil aller ist das Geheimnis der Gottesfurcht groß,
geoffenbart im Fleisch,
gerechtfertigt durch den Heiligen Geist,
gesehen von den Engeln,
verkündet den Völkern,
geglaubt in der Welt,
aufgenommen in die Herrlichkeit.
Liebe Gemeinde!
Nun ist sie da, die stille heilige Nacht.
Wir haben uns darauf vorbereitet.
Gott kommt in die Welt,
Die Mutter Gottes gebiert das göttliche Kind, gibt ihm Gestalt.
Engel verkündigen: Euch ist heute der Heiland geboren.
Himmel und Erde berühren sich. Das Wunder der Heiligen Nacht erschließt sich glaubenden Menschen. Das Geheimnis der Gottesfurcht ist groß. Nichts von dem Kind in der Krippe, nichts von Maria und Josef, nichts von den Hirten auf den Feldern, nichts von den Engel, die den Heiland verkünden, nichts von dem Stern, der die Weisen führt, erst recht nichts von Ochs und Esel. Bei einer Krippe sind Heu und Stroh, Ochs und Esel nicht weit.
Der Timotheusbrief beschreibt das Ereignis der Heiligen Nacht in dichter poetischer Sprache.
Geoffenbart im Fleisch – Gott nimmt menschliche Gestalt an.
Gerechtfertigt durch den Heiligen Geist. – Gott bestätigt durch seinen Geist die Gottheit der zwei Naturen. Jesus Christus ist Gott und Mensch zugleich. Der Tod am Kreuz ist nicht das Ende. Der Heilige Geist zeugt davon, dass der Gekreuzigte auferweckt worden ist.
Gesehen von den Engeln – Niemand hat die Auferstehung gesehen, außer Gottes Engel.
Verkündet unter den Völkern. – Von Engeln gesehen, aber von Menschen in die Welt getragen.
Geglaubt in der Welt – Von frommen Menschen angenommen und als Wahrheit anerkannt.
Aufgenommen in die Herrlichkeit – Gott nimmt ihn auf den in Glanz seiner ewigen Gegenwart.
Gott ist der Alleinagierende, Engel und Menschen sind beteiligt. Der Timotheusbrief stellt Fleisch und Geist gegenüber, Völker und Engel, Welt und Herrlichkeit, stellt den Heiligen Abend universal in den gesamten Kosmos.
Der Sohn ist Abdruck und Abglanz seiner Herrlichkeit. Gott hat ihn erhöht und zu seiner Rechten gesetzt. Diese Worte erinnern an einen frühchristlichen Hymnus, wie Paulus ihn z.B. in Philipper 2 beschreibt. Paulus formuliert:
„Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich…….., Gott hat ihn erhöht … beugen sollen sich aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden sind. Alle Zeugen sollen bekennen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes“ (vgl. Phil 2,7-11).
Was der Evangelist Lukas in Bildern malt, beschreibt der 1. Timotheusbrief in poetischer hymnischer Sprache. Der Brief richtet sich an die christliche Gemeinde in Ephesus, mahnt und ermutigt, an Jesus Christus als dem Sohn Gottes festzuhalten. Die kleine im Glauben noch unsichere Gemeinde in Ephesus braucht diese Vergewisserung, denn in Ephesus wird Artemis, die große Mutter, verehrt. Da ist es schwer, gegen die Umwelt fest zu bleiben. Und so versammeln sie sich in den Häuser, beten, haben Gemeinschaft, stärken sich im Glauben.
Groß ist das Geheimnis des Glaubens, groß die Gottesfurcht. Die christliche Botschaft lässt sich nicht beweisen, sie will mit dem Herzen erkannt werden.
Mitten in der dunklen Nacht scheint ein Licht. Mitten in der Finsternis das Engelswort, mitten in der Nacht verbreiten die Hirten die Botschaft: Euch ist heute der Heiland geboren. Gott kommt auf die Erde, er besucht die Menschen. Der langersehnte Gast stellt sich in dieser Nacht ein. Der Herr der Herrlichkeit ist da. Sei uns willkommen, du werter Gast, du bist der Erlöser der Welt.
Wir sehnen uns nach Heilung und Ganzwerdung.
Wir sehnen uns nach Frieden unter den Menschen,
wir sehnen uns nach Geborgenheit und Glück.
Du hebst die Trennung auf, wir sind mit dir verbunden.
Der Glaube bleibt immer im Lichtschein trotz Dunkelheit.
Christus kommt besonders zu den Menschen, die zerrissen sind,
die mit sich kämpfen, die zweifeln, zu wen sie gehören.
Er kommt in die Herzen derer, die sich wünschen, dass sie einen Menschen haben, der sie liebt.
Er kommt zu denen, die keine Heimat und keine Obdach haben,
weil Krieg herrscht,
er kommt zu denen, die sich ausgeliefert fühlen,
er kommt zu den Einsamen, die keinen Menschen haben,
er kommt zu denen, die sich nach Frieden und Wärme sehnen.
Jesus ist unser Heiland.
Er heilt zerbrochene Herzen, sucht das Verlorene,
Verirrtes bringt er zurück,
geht zu den Mühseligen und Beladenen.
Geknicktes Rohr zerbricht er nicht, glimmenden Docht löscht er nicht aus.
Gottes Liebe bricht sich Bahn,
schwemmt Geröll und Schmutz hinweg.
Sei uns willkommen, verehrter Gast,
sende dein Licht und deine Klarheit,
deinen Frieden und deine Wahrheit.
Wir müssen der Botschaft von Weihnachten Glauben schenken,
damit sie in unseren Herzen wahr werden kann und unsere Seele berührt.
Eine Krippe ist hier vorne aufgebaut. Der Schein von Bethlehem leuchtet in die Welt. In die Dunkelheit fällt Licht, es bringt Hoffnung, Glanz und Wärme.
Gibt es einen Menschen, dem Sie heute besonders das Licht von der Krippe wünschen? Braucht ein lieber Mensch Hoffnung? Braucht ein lieber Mensch Frieden? Ist jemand unglücklich? Bedarf jemand Trost?
Welchen Menschen wünschen Sie in dieser Heiligen Nacht das Licht von der Krippe? Während die Orgel spielt, denken Sie darüber nach. Fällt Ihnen jemand ein? Wenn Sie sich für einen Menschen entschieden haben, kommen Sie nach vorne, zünden ein Teelicht an, denken liebevoll an diesen Menschen, bewegen ihn in Ihrem Herzen und bringen das Licht zur Krippe. Christi Licht scheint.
Aktion: Wer mag, kann jetzt kommen. Licht entzünden und an der Krippe ablegen.
Gebet
Barmherziger Gott,
wir haben dir einen Menschen anbefohlen,
wir sind zur Krippe gegangen und haben ein Licht angezündet,
damit ihm das Licht von Weihnachten leuchtet.
Wir sind vielleicht nicht zur Krippe gegangen,
haben in der Stille an einen Menschen gedacht,
dem wir besonders das Licht von Weihnachten wünschen.
Möge es für alle Menschen Weihnachten werden,
die sich nach Liebe, Licht und Leben sehnen.
Mögen sie von Christus berührt werden,
dass ihr Leben hell und freundlich werde. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe die Kirchengemeinde vor Augen, der ich angehöre. Es ist eine dörfliche Gemeinde mit historischer Kirche aus dem 12. Jahrhundert. Weihnachten leuchtet der Herrenhuter Stern, neben der Kanzel steht ein mit Strohsternen geschmückter Weihnachtsbaum. Heilig Abend zur Christnacht ist die Kirche gut besucht, aber nicht überfüllt. Ich halte die Predigt auf der Kanzel im Dunkeln, nur der Weihnachtsbaum und der Christstern leuchten. Gut sichtbar ist eine Krippe mit Krippenfiguren auf einem entsprechend großen Tisch aufgestellt, sodass genügend Platz für Teelichter vorhanden ist. In einem Korb daneben liegen Teelichter bereit.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Erkenntnis, dass 1. Tim 3,16 möglicherweise auf einen frühen Christushymnus zurück geht, hat mich beflügelt.
Die Besucher*innen in der Christnacht kommen mit einer Erwartung. Sie haben den Wunsch und die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden und möchten einen Hauch von der Heiligen Nacht spüren. Der Kasus hat Gewicht und steht von im Vordergrund.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
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4. Was verdankt die Predigt der abschließenden Bearbeitung?
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Ohne Brot keine Gerechtigkeit, ohne Gerechtigkeit kein Brot - Predigt zu 1Tim 4,4-5 von Anne-Kathrin Kruse
I. Für Herz und alle Sinne ein Fest
Erntedank - ein Fest fürs Leben.
Sonnenblumen und dicke Kürbisse in leuchtendem Orange.
Die Pflaumen platzen fast vor Süße
und verbreiten einen verführerischen Duft.
Gelbe Butterbirnen und fein säuerlich duftende Cox-Orange
sorgen für Augenweide, Nasenkitzel und Gaumenfreuden.
Paprika, Tomaten, Porree leuchten um die Wette.
Herr, mein Gott, Du bist sehr herrlich!
Du bist schön und prächtig geschmückt.
Licht ist Dein Kleid, das Du anhast.
Trauben und Ähren und ein riesiger frischgebackener Brotlaib
mit einem Kreuz heute auf dem Altar.
Dass Du Brot aus der Erde hervorbringst,
dass der Wein erfreue des Menschen Herz.
Gott schafft und schafft.
Jeden Morgen neu
lässt er das Licht gegen die Finsternis aufscheinen.
Du breitest den Himmel aus wie einen Teppich.
Ringsum spiegelt er sich in den Flüssen und Seen.
Du lässt Gras wachsen für das Vieh
und Saat zu Nutz den Menschen,
Rinder, Schweine, Ziegen, Schafe und Geflügel –
Lebewesen mit eigener Würde,
am selben Tag wie die Menschheit erschaffen und von Gott freundlich angesehen.
Du kommst daher auf den Fittichen des Windes.
Kleingärten mit Kraut, blau, grün und weiß.
Zwiebeln und Kartoffeln in brauner Erde.
Gartenzäune, die die Blumenpracht ordnen.
Ich reibe mir die Augen bei so viel Schönheit.
Herr, wie sind Deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet.
Musik dringt ins Ohr.
Kinderlachen geht darin auf.
Menschen aus aller Herren Länder feiern.
Gott, Du hast so unendlich viel Phantasie!
Und Du liebst sie alle.
Ich danke dir, dass ich – wie sie – wunderbar gemacht bin,
wunderbar sind deine Werke.
Dein Herz muss riesig sein.
Gerne würde ich sie alle mit Deinen Augen sehen.
Sehen – staunen – sich über diese Pracht Gottes freuen – und dafür danken.
Der Predigttext für heute klingt fast wie eine Gebrauchsanweisung dafür:
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.
Der Brief an Timotheus führt uns ganz an den Anfang der Bibel.
Ein Loblied erklingt da auf Gottes Schöpfung
Mit dem Refrain, dass sie gut war, ja sogar sehr gut.
Heilig ist die Schöpfung, weil sie ganz und gar Gott gehört.
Kein übelgelaunter Tyrann,
der seinen Geschöpfen alles verbietet, was Spaß macht.
Gott ist sich nicht zu groß,
um sich für alles auf seiner Erde leidenschaftlich einzusetzen,
dass alle ein gutes Leben haben sollen.
II. Ohne Gerechtigkeit kein Brot
Wie begehen wir den Dank für die Ernte 2024?
Im Frühjahr blockierten Zugmaschinen zu Hunderten die Autobahnen
und dröhnten nachts mit Aufblendlicht in die Hauptstadt.
„Ist der Bauer ruiniert, wird dein Essen importiert!“
prangt auf den Kühlern der Traktoren.
Die Landwirte und Landwirtinnen sind wütend,
fühlen sich und ihre Not nicht wahrgenommen.
„Was nützt die größte Leidenschaft, wenn man davon nicht leben kann.“,
klagt eine Winzerin.
Wachse oder weiche!
Mit den Höfen sterben Handwerksbetriebe,
Gastwirtschaften und Lebensmittelläden auf dem Land.
Die Dörfer veröden.
Die Entfremdung zwischen Stadt und Land wächst.
Es ist nicht alles gut. Manches ist verwerflich.
Die schweren Unwetter und Überschwemmungen,
zugleich die Verödung ganzer Landschaften –
die Wissenschaftler werden nicht müde zu warnen:
das alles ist nicht Gottes Werk.
Es ist menschengemacht –
und trifft zuallererst die Unschuldigen.
Von der jüdischen Tradition lässt sich lernen:
„Ohne Brot keine Gerechtigkeit – ohne Gerechtigkeit kein Brot“.
Zum jüdischen Erntefest wird die Gerechtigkeit großgeschrieben:
Weil Gott seinem Volk ein gutes Leben geschenkt hat,
sollen alle an diesen Tagen feiern und fröhlich sein können,
auch die Schwächsten in der Gesellschaft.
Wenn die Landwirte ihre Felder, die Gott ihnen geschenkt hat, abernten,
dann sollen die, die kein eigenes Land besitzen,
einen Anteil an der Ernte bekommen.
Kein Almosen – einen Anspruch haben sie auf Gerechtigkeit.
Denn Hunger ist kein Schicksal, er ist menschengemacht.
III. Atemholen
Das große Sehnsuchtslied, mit dem die Bibel eröffnet,
es besingt die große Vision vom Frieden, von Gerechtigkeit, vom Shalom,
von einem gemeinschaftlichen Leben für alle Kreaturen.
„Krone der Schöpfung“ ist nicht die Menschheit.
Für ihre Schöpfung ist nicht einmal ein eigener Tag reserviert.
„Krone der Schöpfung“ ist der Schabbat, der siebte Tag.
An diesem Tag vollendet Gott sein Schöpfungswerk:
Er selbst schöpft Atem.
Er schöpft, er ruht
und er macht dieses Atem-Schöpfen den Menschen zum Geschenk.
Ein Festtag für Leib und Seele,
mit Zeit zum In-die-Sonne-Blinzeln und Nichtstun,
mit endlosem guten Essen, mit Wein und guten Gesprächen.
Alle bringen etwas mit und teilen,
Brot und Wein,
Freude und Schmerz.
Tröstende Worte und heilende Worte –
sie gehen ins Herz und in die Seele.
Da, wo sie gebraucht werden.
Das Herz wird satt.
Und die Seele verdurstet nicht.
Was für ein schöner Tag!
Und das jede Woche –
danke für dieses große Geschenk der Freiheit!
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird.
Gott segnet das Unterlassen, das Aufhören-können.
Vorbild für ein Leben, das im Machen nicht aufgeht.
Das Glück dieser Erde als Geschenk annehmen und genießen,
eher Gärtnerin und Gärtner sein denn Herrenmenschen.
Dafür sorgen, dass alle etwas davon haben und zu ihrem Recht kommen.
Schabbat – das lerne ich für den Sonntag –
das ist der „Palast in der Zeit“, das eigentliche Heiligtum,
der Ort, wo Gott ganz nahe ist.
Wo alle – Mensch und Tier – Atem holen dürfen
und davon kosten können, was es heißt, frei zu sein.
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich,
was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.
IV. Lebensernte
Wie immer saß der alte Herr in seinem Sessel am Fenster.
Fast ein ganzes Jahrhundert durfte er alt werden.
„Ich habe eben viel Glück gehabt.“ Sagte er immer wieder.
Brot der Güte.
Ein Liebespaar waren er und seine Frau bis zuletzt.
Ein Leib, eine Seele, durch dick und dünn.
Brot der Liebe.
Brot der Tränen, wenn eine Hälfte nach 62 Jahren fehlt.
Brot der Tränen um den Bruder, der 18jährig im Krieg starb.
Ein wacher, kritischer Geist – das war er.
Poltern konnte er, besonders gegen missliebige Politiker und Kirchenleute.
Brot des Zorns.
Und doch lernte er nach Jahrzehnten in politischer Verantwortung
im hohen Alter das Brot des Glücks zu essen.
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Die wundersame Fähigkeit,
sich an den kleinen Dingen zu freuen und dankbar zu sein.
Vielleicht, weil er so gute Augen hatte.
Nicht nur die Vögel am Ende des Parks konnte er sehen.
Auch all die Güte, der er sein Leben zu verdanken hatte.
Brot des Lebens.
Als sei sein ganzes Leben in den Dank für dieses Brot eingeschlossen,
auch da, wo es schwer und kaum zu tragen ist.
V. Gute Augen
Noch einmal:
Was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt
durch das Wort Gottes und das Gebet.
„Danksagung“ – das ist mehr als ein blasses, sattes „Danke für die Blumen“.
Nicht schön-reden und rosa drübermalen.
Vielmehr meint es „Gutheißen“.
Diese Welt segnen, ja, sie ist gut trotz aller Zerstörung.
Einander segnen, ja auch die Brüller und Hasser,
mit finsterem Blick, voller Wut
und ganz ohne Dankbarkeit.
Aber nicht als Hasser sind sie geboren.
Gut von Gott geschaffen,
Fähig zum Guten.
(Und angesichts des morgigen Jahrestages des Terroranschlages der Hamas
und des darauffolgenden Gaza-Krieges
erscheint diese Vorstellung fast unmenschlich-übermenschlich.)
Diese Welt gutheißen, heißt: um sie zu ringen,
sie zu lieben und zu erhalten.
Dieses Ringen hat Albert Schweitzer gut gekannt:
„Wenn es euch besonders schwer und sorgenvoll ums Herz wird,
dann fangt an, Gott zu danken…
Euer Herz wird fragen: Warum, wofür denn danken?
Es wird gleich mit den Klagen und Sorgen bei der Hand sein.
Lasst es nicht zu Worte kommen…
Fangt beim Gewöhnlichsten und Alleralltäglichsten an…
Dann werdet ihr die Zauberkraft des Dankens erfahren…
Das Herz, welches durch das Danken hindurchgeht,
dem werden die Augen aufgetan
und es erkennt in allem Gottes Fügung, auch im Leid und in der Trübsal…
Danksagen, gutheißen, Segen sprechen über die Welt,
über das Brot, über unser Leben,
über das Glück und die Tränen,
die Liebe und den Zorn,
ja, auch über die Schuld.
Ich will, dass gut wird,
was an Schuld, Trauer und Verderben am Brot haftet.
Ja sogar Gott selbst segnen.
Er weiß schon, was er tut.
Auch mit dem, was niemand verstehen kann.
Dafür braucht es gute Augen.
Mit offenem Blick durch die Welt gehen
und ihre Wunder entdecken.
Sich nicht blenden lassen
von Hass, Gier und Ungerechtigkeit gegen Mensch und Tier.
Die Wohltaten Gottes entdecken,
die Freiheit im Lassen,
nicht rund um die Uhr funktionieren müssen,
miteinander feiern.
Erntedank.
Amen.
[Wertvolle Anregungen verdanke ich den Erntedankpredigten von Michael Greßler.]
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt werde ich im Antrittsgottesdienst zu einer dreimonatigen Vakaturvertretung in einer Großstadtgemeinde halten, die ich noch nicht gut kenne. Die Gottesdienstteilnehmenden sind in i.d.R. gutsituiert, mit akademischem Hintergrund und kommen auch aus anderen Gemeinden zum Gottesdienst.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei diesem Kasus sehe ich (zumindest bei mir) die Gefahr des Moralisierens und der Imperative, sei es bezüglich Klimakrise, Umweltschutz, Nachhaltigkeit etc., was die Lust am Danken häufig im Keim erstickt. Statt über den Dank zu reden, wollte ich das Danken selbst stark machen, auch im Sinne eines Dennoch. Dass der Tag nach dem Erntedank auf den Jahrestag des 7. Oktober fällt, macht die Sache nicht einfacher. Beflügelt hat mich der Gedanke des Schabbat als „Palast in der Zeit“ (A. J. Heschel) als Vision einer gerechten Welt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Frieden geht nicht ohne Gerechtigkeit, sei es zwischen Mensch und Schöpfung, sei es zwischen den Völkern. Die Vision vom Schabbat als Sinnbild für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit spornt mich an, weg vom Funktionieren hin zu Dankbarkeit und zu Empathie zu kommen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach hat mich bestärkt, wo ich unsicher war, und mir wertvolle Hinweise gegeben auf unnötige Perspektivwechsel sowie Nebenthemen, die vom roten Faden ablenken. „In Zeitlupe sieht man mehr.“ Herzlichen Dank dafür!
Manche Übergänge habe ich etwas sanfter gestaltet.
Danke auch für die Anregung, die Zitate aus Ps 104 von einer anderen Person, evtl. auch von der Gemeinde sprechen zu lassen.
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Beten. Beten? Beten! - Predigt zu 1 Tim 2,1-6a von Karoline Läger-Reinbold
1. Timotheus 2
1So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, 2für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. 3Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, 4welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. 5Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, 6der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle.
Sehnsucht
„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“ So heißt ein Buch des Schauspielers Joachim Meyerhoff, in dem er von seiner Kindheit und Jugend erzählt. Inzwischen lief im Kino auch der Film, vielleicht hatten Sie Gelegenheit, ihn zu sehen. Als Sohn des Direktors einer großen Psychiatrie wird der Junge Joachim in den 60er und 70er Jahren auf dem Gelände dieser Anstalt groß. Die Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren speziellen Eigenschaften, ihren Ticks und Gewohnheiten gehören zum Alltag, wenn nicht zur Familie.
Sehr humorig und mit viel Liebe wird das alles erzählt; ein bisschen wehmütig und nostalgisch auch. Ich mochte das beim Lesen sehr. Wahrscheinlich liegt es am Alter. Diese Sehnsucht nach der Vergangenheit. Wenn wir genau hinsehen, wenn ich ganz ehrlich bin, war die Vergangenheit nicht annähernd so schön, so gut, so friedlich, wie ich sie betrachte. Da war viel Seltsames und Dunkles auch. In meinem Gedächtnis habe ich mir Einiges verklärt und vergoldet.
Aber – vielleicht geht Ihnen das auch so: Da ist gleichzeitig so ein Anspruch, den ich spüre, ein Anrecht darauf, dass es doch einmal alles besser war. Dass diese Welt, dass unser Leben doch insgesamt noch viel besser sein könnte. Entspannter, glücklicher, sorgloser als ich es heute empfinde.
Und vielleicht reicht dieser Anspruch in Wahrheit gar nicht in meine Vergangenheit, sondern vielmehr in die Zukunft. Ach, könnte es doch einmal wieder friedlicher, freundlicher, leichter sein. So, wie Gott es sich einmal gedacht haben wird. Damals. Am Anfang.
Der Blick in die Vergangenheit weckt in mir große Sehnsucht. Da ist ein tiefes Verlangen nach Frieden, nach Ganzheit, Geborgenheit. Große Worte, doch warum nicht endlich einmal groß denken? Wann wird es wieder so, wie es nie war? Vor Corona. Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Vor der Klimakrise, vor der Wirtschaftskrise und vor all diesen kruden Debatten in den sogenannten „sozialen Medien“?
Das sind Fragen wie ein lautes Seufzen. Wehmütige Wünsche, wie ich sie auch im Brief an Timotheus höre: Ach! Dass wir doch ein ruhiges und stilles Leben führen können. Dass alle Menschen gerettet werden, dass sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Das sind gute und fromme Wünsche und handfeste Anliegen für ein Gebet.
Beten bewegt
Vor einiger Zeit hatte ich das Glück, in Jerusalem zu sein. An einem sonnig-kalten Dienstagmorgen war ich auf dem Tempelberg und stand im Frauenabteil an der Klagemauer. Ich habe den uralten Sandstein berührt, Generationen von Betenden haben ihn ganz glatt gemacht.
Da stehen sie, jeden Tag, Männer und Frauen aus aller Welt, Menschen jüdischen Glaubens und natürlich auch anderer Religionen. Manche stecken kleine Zettel mit ihren Anliegen zwischen die Steine. Andere studieren ihr Gebetbuch und wiegen sich selbstvergessen hin und her. Jede und jeder, der hier betet, spürt die Besonderheit des Ortes und sucht die Verbindung zu Gott. Warum hast du Gott, zugelassen, dass ich oder ein geliebter Mensch an dieser Krankheit leide? Wieso ist da kein Frieden in diesem schönen, heiligen Land? Warum muss ich das hinnehmen, dass es den einen so schlecht, den anderen so unverschämt gut geht?
In den Psalmen haben sie mit Gott gestritten, haben geschrien, geweint und geklagt. Und sie haben getanzt, gelacht und gesungen, weil ihnen Gutes widerfahren ist. Das alles steckt im Gebet. Für mich ist es nichts anderes als ein Reden und Hören, ein Verhandeln und Streiten, ein Loben und Danken in Verbindung mit Gott.
Wer betet, gibt sich nicht zufrieden mit dem, was schon ist. Wer betet, träumt davon, etwas zu bewirken. Wer betet, geht davon aus, dass Gott sich etwas daraus macht, was wir denken, dass er sich vielleicht sogar beeindrucken lässt von unserer Klage, unserem Bitten, unserem Flehen.
Lässt Gott sich bewegen durch unser Gebet? Oder bewegt er vielmehr uns, die Betenden, die wir in Gedanken und Worten vor ihn bringen, was uns auf der Seele liegt? Zu dieser Frage ist viel gestritten und geschrieben worden. Meine Antwort als Theologin ist: Beten ist keine Einbahnstraße. Ich glaube, dass meine Bitte gehört wird und dass mein Gebet etwas ändern wird. Beten aber heißt nicht: „Wünsch-dir-Was“ – oft wird alles ganz anders, als ich es für möglich hielt. Beten bewegt und es macht was mit mir.
Der Blick geht nach oben
Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung – der Brief an Timotheus kennt eine Fülle von Optionen und verschiedenen Wegen. Zeige Gott, was du denkst, er wird dich verstehen.
Und auch für die Mächtigen sollen wir beten, für Könige, Despoten, dass sie zur Vernunft kommen. Für unsere Politikerinnen und Politiker, dass sie mit Weisheit und mit Empathie gesegnet seien. Für alle Mächtigen und die, die sie beraten, dass sie in Krisenzeiten einen klaren Verstand bewahren und das Vertrauen, das wir in sie setzen, hochhalten.
Wir, die wir hier unten sind, schauen in den Himmel, auf Gott, und setzen unsere Hoffnung auf Jesus, der nicht nur im Himmel, sondern auch auf der Erde zuhause ist. Jesus, der Auferstandene, der weiß, wie es sich anfühlt, auf den Tod zu warten. Er hat ihn hinter sich gelassen, er kam zurück in seines Vaters Haus. Jesus, der Menschensohn, der uns gezeigt hat, dass da ein Vater ist im Himmel, mit dem ich reden kann, einfach so.
Heute, am Sonntag Rogate, geht der Blick ganz nach oben. Im Gebet vertrauen wir uns Jesus an: Unsere Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, unsere Sehnsucht nach Heil und unsere kindliche Nostalgie, die fest daran glaubt, dass es eines Tages gut sein wird. So gut, wie es bei Gott am Anfang war – und am Ende sein wird. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In vielen Gemeinden werden in diesen Wochen Konfirmationen gefeiert. Gerade in diesem Kontext wird die Frage nach der Praxis des Glaubens immer wieder gestellt. Das Gebet ist für mich das Herzstück unserer Frömmigkeit und Liturgie. Darüber zu sprechen ist nicht nur zu Rogate eine gute Idee.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei allen Vorbehalten, die ich an die Inhalte der Pastoralbriefe formulieren könnte: Die Fürbitte für alle Menschen, besonders aber auch für die Mächtigen dieser Welt, ist hoch aktuell. Ich höre aus dem Text eine große Sehnsucht, die ich teilen kann – die Sehnsucht nach Rettung und Heil.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass alle Nostalgie, alles Träumen von einer besseren Vergangenheit, im Grunde die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist. Es gibt eine Reihe von Liedern, die diesen Gedanken vertiefen, z.B.: „Halte deine Träume fest“ (Durch Hohes und Tiefes 308), „Da wohnt ein Sehnen tief in uns“ (Durch Hohes und Tiefes 112).
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Über die Kraft des Gebets zu sprechen ist eine lohnende Aufgabe, auch unter Kolleg*innen im geistlichen Amt.
Link zur Online-Bibel
07.07.2019 - 3. So. nach Trinitatis
Christnacht - Predigt zu 1. Timotheus 3,16 von Bernd Vogel
Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens:
Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.
Johnny Augustus. Mit hochgerecktem Kinn stand Johnny er da und zeigte mit seinem rechten Arm in die fernen Enden seines Reiches. Unter ihm zwei andere Jungen, die je einen Aspekt des Kaisers Octavian, genannt ‚Augustus‘, der Erhabene, verkörperten. Der eine kniete vor Johnny und breitete wie zum Segen seine Arme über den Erdkreis aus. Der andere stand rechts von Johnny und zeigte seine angespannte rechte Faust. Man konnte sich ein römisches Kurzschwert dazu denken. Pax Romana, der ‚römische Friede‘, erzwungen durch die Gewalt der römischen Armeen.
Das in der Reihenfolge erste Standbild im Weihnachtsgottesdienst der 8. und 9. Klassen der Integrierten Gesamtschule Lüneburg. Es folgten weitere: Die Hirten auf dem Felde und die Engel, Maria und Josef und das Kind, die Hirten und Maria, die alle die Worte der Hirten in ihrem Herzen bewegte, ordentlich, aber eher allzu demutsvoll und darum auch etwas ironisch dargestellt von Elias.
Das kommt dabei heraus, wenn wir das Wort von der Heiligen Nacht in unsere tatsächlichen Seelen und Leiber fallen lassen, wenn das ‚Wort Gottes‘, wie es früher selbstverständlich hieß, sich in die Hände und Gesten von 14-Jährigen gibt.
Und wir? Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Junge und Altgewordene? Frauen und Männer und wer auch immer wir sind? Wie ist das bei uns, wenn die alten großen Worte, 2700 Jahre alt, millionenfach gelesen, gehört, verstanden, unverstanden, beherzigt, verworfen, für wahr und für Irrtum und Gewäsch gehalten, voller Tiefsinn oder unsinniger Utopie zu uns kommen durch die Lesung, durch die eigenen Augen und das Gehör, gelesen von einem Anderen für uns?
Wie geht uns das, wenn uns diese Worte erreichen, ereilen, ertappen? Was davon rührt in uns etwas an? Sind es einzelne Worte, Sprachbilder? Werden Erinnerungen wach? Psychologen, Philosophen und Literaturwissenschaftlerinnen wissen schon lange: Im Grunde verstehen wir nur neu, was wir einmal schon verstanden haben. Am besten verstehen wir Bilder. Dann kann es eine uns meistens unbewusste Verbindung geben zwischen den Bildern, die in den Worten stecken, und den Bildern der Seele, die in uns selber verborgen wohnen. Tief in unserem Hirn sind keine abstrakten Sätze abgespeichert wie etwa: „In Jesus ist Gott Mensch geworden“. Stattdessen geht unser uns selbst verborgenes ‚Ich‘, gehen wir dort in den Tiefen des Unbewussten durch einen Bildersaal. In ihm hängen an den Wänden die uns wichtigsten Bilder. Von frühester Zeit an, Forscher*innen und Theolog*innen sagen es mit unterschiedlichem Akzent beide: Schon im ‚Mutterleibe‘ sind wir bebildert, sind wir von Gott ‚gebildet‘ (Ps 139). Was wir sicher wissen können: Es wohnen in uns die Bilder, mit denen wir unser Leben so oder so bestehen. Was wir nicht naturwissenschaftlich beweisen, aber hoffen und glauben können: Indem wir ‚gebildet‘ wurden, hat sich uns der Schöpfer selbst eingebildet: Wir sind alle, jede und jeder auf eigene Art, ‚Ebenbild‘ Gottes. Das ist das entscheidende ‚Bild‘ in uns allen. Das sind wir selbst. Ebenbild Gottes.
Johnny z. B.: Könnte sein, dass er selten so stolz da stand wie jetzt als der erhabene Kaiser ‚Augustus‘. Johnny, auf den der Lehrer ein besonderes Auge haben soll, ihn fordern und vor allem fördern; denn eine IGS ist eine Schule für alle. Manchmal bis zur Erschöpfung muss da differenziert und gefördert und gesondert beurteilt werden. In diesem Moment aber war Johnny kein Förderkind, sondern der Kaiser Augustus; und niemand lachte.
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot ausging von dem Kaiser Augustus …“ Vielleicht nicht die wichtigsten Worte aus der lukanischen Weihnachtsgeschichte, aber die ersten, die eröffnenden – und für Johnny waren sie, vielleicht nur für Sekunden, aber immerhin, eine Erfahrung, die das Selbstbild in ihm wachrief, er wäre jemand mit Würde und Erhabenheit. So stellte er sich jedenfalls zu ihnen auf mit weit ausgerecktem Arm.
Wenn uns ein Wort eines anderen Menschen zu Herzen geht, dann nicht nur deshalb, weil wir Interesse an diesem Menschen haben, der es uns gesagt hat, weil wir einen Zweck damit verbinden, den er an uns erfüllt. Ein Wort, das uns wirklich unter die Haut geht, ins Herz fährt, in die Tiefen unserer Seele gelangt, dorthin, wo wir bewusst gar nicht sagen können, was da alles an Bildern hängt in jenem Saal … das trifft uns deshalb so tief, weil wir jenseits aller Zwecksetzungen unmittelbar spüren: Der Mensch meint ja MICH! Der hat ja wirklich MICH gesehen und erkannt. Der ist ja tatsächlich ganz MIR zugewandt. Der bestätigt ja gerade MIR, dass ich auf der Welt da bin, mit völligem Recht und so, wie ich bin, mit letztem Grund, weil und insofern ich das EBENBILD nicht irgendeines Menschen, auch nicht von Vater und Mutter, bei allen Ähnlichkeiten, bin, sondern das Ebenbild GOTTES!
Wenn uns das Wort eines anderen Menschen – etwa in einem Liebesbrief, einer Kurz-Nachricht, einem zugesandten Foto und dergleichen – derart erreicht und betrifft, dann sprechen Predigerinnen und Theologen davon, dies sei möglicherweise und möglicherweise ganz bestimmt das WORT GOTTES gewesen, das in uns gefallen ist und das diese Wirkung in uns entfacht hat wie ein auf’s Ende gesehen nie ausgehendes Feuer, dem wir also nur staunend und dann auch dankbar zustimmen können.
Das „Geheimnis des Glaubens“. Spätestens seit Immanuel Kant, seit über 200 Jahren, wissen nicht nur die sogenannten Gebildeten unter uns, sondern weiß es fast instinktiv jedes Schulkind in diesem Lande, dass wir von „Gott“, wenn überhaupt, dann nur in Anführungszeichen unten und oben sprechen können.
Bis zum Abitur habe ich in meinen Religionskursen mit der Schülerfrage zu tun: Was stimmt denn nun: Die Evolutionstheorie oder die Bibel, in der steht, dass Gott die Welt in sechs Tagen (die meisten sagen: 7, aber geschenkt) geschaffen habe. Da hilft es nicht so viel, wenn ich sage: Das eine handelt vom ‚Wie‘, das andere vom ‚Sinn‘ der Welt. Die Naturwissenschaftler erkunden die genauen Abläufe. Sie ahnen am Ende nur den ‚Anfang‘ und können gedanklich nicht vor den Anfang von Zeit und Raum denken. Was war vor dem ‚Urknall‘? Diese Frage kann kein Naturwissenschaftler sinnvoll beantworten. Die Theologen und Theologinnen, die Prediger und Predigerinnen etwa jetzt zu Weihnachten sprechen dagegen vom Sinn des Ganzen: Welchen Sinn hat es vielleicht, als Mensch auf dieser Erde ein paar Jahre zu leben und dann zu sterben, als wäre man nie gewesen? Meine Schüler und Schülerinnen nehmen eine solche Antwort mehr oder weniger respektvoll zur Kenntnis; aber – ich sehe es an ihren Gesichtern – es überzeugt sie kaum.
Es gibt viele Gründe, warum die Skepsis so tief sitzt. Ein fast schon eingefleischter, tagtäglich eintrainierter ‚Glaube‘ ‚an‘ die Künste der Naturwissenschaft und Technik spielt eine Rolle. Zugleich merken auch Jugendliche, die täglich stundenlang mit ihrem Handy beschäftigt sind, wie brüchig das Eis ist, auf dem wir alle stehen mit unserem fast blinden Vertrauen in unser Wissen und Können. Der Jahrhunderte lang gepflegte Hochmut vieler Prediger und Kirchenführer spielt auch eine Rolle. Viele Menschen nehmen den Theologen ihre Worte nicht mehr ab, weil so lange so viel Gerede darin war, so viel ‚fake‘-news, statt Ehrlichkeit und echten Zweifeln und echtem Glauben.
Ich denke aber, die Schwierigkeit zu glauben im 21. Jahrhundert liegt noch tiefer, auch jenseits von gemachten Fehlern seitens der Kirche und Irrglaube auf Seiten der sogenannt modernen Menschen. Es scheint das „Geheimnis des Glaubens“ noch nicht ansatzweise verstanden worden zu sein, so, wie wir versuchen könnten es zu verstehen. Um auch nur einen Hauch davon heute Abend zu verstehen, ist nach all den Gedanken und Worten noch eine letzte Vertiefung nötig, die uns allen einiges abverlangt.
Sehen Sie, seht ihr zu, ob ihr diesen gedanklichen Weg noch mitgehen wollt und könnt. Im Grunde steht alles in unserem Predigttext aus dem 1. Timotheus, den wir eingangs schon hörten:
Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.
Wenn uns das Wort eines anderen Menschen derart erreicht, dass wir bis in die Tiefe unserer Seele berührt und bewegt sind, wenn unsere Sehnsucht erwacht, wenn Tränen fließen, wenn wir am liebsten sofort einen Menschen umarmen möchten oder etwas Dringendes gerade rücken, wenn uns danach ist, dass an dieser oder jener Stelle unser Leben tatsächlich noch einmal neu und anders werden soll, einfach, weil das Leben nicht mehr zu uns passt, so, wie wir wirklich sind als Ebenbild Gottes, dann hat uns möglicherweise Gott mit Gottes Wort erreicht. Dann ist Jesus Christus in uns geboren, wie es in den Weihnachtsliedern heißen kann. „O lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden“ (Paul Gerhardt).
Das „Geheimnis des Glaubens“ ist „offenbart“ im „Fleisch“. Gemeint ist natürlich, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, dass das Kind in der Krippe GOTT ist … Gemeint ist das ‚natürlich‘ … was heißt denn das? Das kann doch kein Mensch verstehen, der bei gesundem Verstand ist! Ich meine das nicht rhetorisch und irgendwie ‚fromm‘, als hätte ich da eine gedankliche Lösung. Nein, der Gedanke, dass Gott Mensch wird, ob in einem Kaiser oder in einem Krippenkind, was die Angelegenheit vielleicht noch verschärft, ist für Menschen des 21. Jahrhunderts gedanklich nicht nachvollziehbar. Es ist aufgrund unserer Geistes- und Kulturgeschichte einfach nicht plausibel, dass die Geburt Jesu damals in Bethlehem genauso, wie Lukas es erzählt, abgelaufen sein könnte.
Warum z. B. sollte Gott nur damals einmal so wunderbar gehandelt haben, bis hin dazu, dass er den Kaiser Augustus einen Befehl erlassen lässt – ohne dass der weiß, dass er Werkzeug des einen Gottes Himmels und der Erden ist – aufgrund dessen Josef mit Maria aus Nazareth nach Bethlehem zieht, wo dann Jesus geboren wird als der Davidsohn in der Davidstadt? Warum scheint Gott heute nicht mehr so zu handeln, wo doch überall Not ist? Warum befiehlt Gott nicht dem Trump zurückzutreten und anderen Despoten nicht Demut und Vernunft für bessere Politik?
Die Geschichte, die die Hirten von den Engeln hören, ist genauso, wie sie ‚da‘ ‚steht‘, wahrscheinlich nicht geschehen. So denken wir heute einfach vom Ausgang der Kindheit an. Das ist unsere Kultur. Die üben wir jeden Tag auf’s Neue ein. Wir programmieren unsere Gehirne. Damit kann man, wenn man Glück hat, alt werden und, solange man auf der wohlhabenden Seite der Erde geboren ist, einigermaßen satt und manchmal auch glücklich leben, bis man eines Tages stirbt wie vor einem selbst die anderen, die es nicht so gut getroffen haben. Warum auch immer.
Das „Geheimnis des Glaubens“ ist nun in dieser Lage für uns im 21. Jahrhundert in Deutschland vielleicht das, dass wir durch diese dunklen Erkenntnisse hindurch müssen, um es Weihnachten werden zu lassen. Es ist uns verwehrt, das alles nicht zu wissen, was wir wissen. Wir sind herausgefallen aus der der Kindheit ungetrübter Hoffnungen und Träume. Wir wissen von der Geschichte und von uns selbst darin. Daraus erlöst uns direkt kein Gott und kein Götze. Man kann sich betrügen, einnebeln, abnabeln von der Welt. Man kann sich religiöse oder sonstige kleine Fluchten suchen und abtauchen in Scheinwelten, in Bilderfluten alltäglich. Das alles rettet uns nicht unsere Seele.
Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist. Im ‚Fleisch‘ unseres wirklichen Lebens IST offenbart der Sohn Gottes. In den ganzen Gefühlen und Gedanken IST Gott Mensch in uns. Das erkennen wir nicht anders als durch den und im GEIST. Das bedeutet hier „gerechtfertigt“ im Geist. Gottes Geist ist die einzige Macht, die uns unseren Glauben, unsere Hoffnung, unsere Liebe erweckt, erneuert und bewahrt, d. h. recht fertigt. Auf uns selbst gestellt, sind Zweifel, Stimmungen, Depressionen viel zu stark. Wir können unseren Glauben nicht begründen, weder intellektuell, noch psychisch.
Es geht hinunter in jenen Bildersaal der Seele. Dorthin können wir uns zumindest willentlich auf den Weg machen. Nichts erzwingen. Nichts sich selber einbilden. Nur die Sehnsucht wird uns leiten. Und dann halten wir Ausschau. Und hören.
erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.
Den Engeln ist Jesus als der Sohn Gottes, als der Sinn unseres Lebens, als unsere Hoffnung auf Erfüllung unserer Sehnsucht bereits „erschienen“. Das lässt sich nicht beweisen. Davon lässt sich erzählen. So wie Lukas von den Engeln auf den Feldern von Bethlehem erzählt, die wiederum den Hirten erzählen, was es mit dem Kinde auf sich hat, die wiederum Maria und Josef erzählen …, deren Nachfahren es den ‚Heiden‘, d. i. den Völkern der Welt ‚predigen‘. So wird Gott „geglaubt in der Welt“ und ist Jesus schon „aufgenommen in die Herrlichkeit“ Gottes, von woher seine Herrlichkeit, sein unendlicher Lichtglanz unsere finstreren Herzen und dumpfen Geister erhellt und erleuchtet.
Der Schweizer Theologe Karl Barth, dessen 50. Todestag wir dieses Jahr begehen, hat am Abend vor seinem Tod seinem Freund Eduard Thurneysen ins Telefon gesagt:
„Ja, die Welt ist dunkel. Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! – Es wird regiert.“1
1 I Zitiert nach K. Kupisch, Karl Barth in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Stuttgart 1977, 135.