Schafft Recht! Klagen - Beklagen - Anklagen - Predigt zu Psalm 82,1-4 von Florence Häneke
82,1-4

Psalm 82 (Bibel in gerechter Sprache)

Ein Psalm. Von Asaf
Gott steht in der Götterversammlung,
inmitten der Gottheiten richtet er.
„Wie lange wollt ihr ungerecht richten
und Verbrecher begünstigen?
Schafft Recht dem Geringen und der Waise,
der Gebeugten und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren!
Lasst den Geringen und die Arme entkommen,
entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen!“
 

Gericht

Wir befinden uns in einem Gerichtssaal. Bis auf Eine sitzen alle Beteiligten auf Stühlen. Die Stehende spricht. Sie trägt eine Anklage vor: Die geschehene Zurückweisung einer Minderjährigen aus Somalia am 9. Mai an der deutsch-polnischen Grenze in Frankfurt/Oder, einer europäischen Binnengrenze, sei ein Verstoß gegen geltendes Recht, die vorgebrachte Rechtsgrundlage sei nicht einschlägig und für den EU-Binnenraum nicht anzuwenden. Die ebenfalls vorgebrachte Argumentation, dass es sich um eine Gefahr für Öffentlichkeit und Sicherheit des Landes handele, sei nicht haltbar. Weiter: Die Minderjährige sei zum Zeitpunkt des Aufgreifens schwer verletzt gewesen und habe Schmerzen an den Füßen geäußert. Sie habe einen klaren Ort angeben können, wo sie hinreisen möchte und angegeben Schutz zu suchen, da sie einer bedrohten Minderheit angehört.
So hier bei uns auf Erden.
Und im Himmel?
Psalm 82 nimmt uns mit in eine Versammlung, auch hier eine Gerichtsszene:
"Gott steht in der Götterversammlung,
inmitten der Gottheiten richtet er."
Gott steht und Gott richtet.
Bei genauem Hinsehen ist dieser erste Vers sehr aufschlussreich. Die beiden Verben, Stehen und Richten, zeigen nämlich zwei verschiedene Rollen an. So werden Richtende im altorientialischen Weltbild sitzend dargestellt; doch die Gottesrede, die unmittelbar folgt ist eine Anklage. Gott steht – Anklage erhebend. Und zugleich: Gott richtet.
Im Himmel. Wie auf Erden. 
Himmel und Erde, die sind aufeinander bezogen.
Die Anklage lautet: "Wie lange wollt ihr ungerecht richten – und Verbrecher begünstigen?"
 

Wie lange?

Die Lage drängt. Die Klage für die Somalierin war ein sogenannter „Eilantrag“. Die Klage im Psalm wird ebenfalls drängend vorgetragen. Wie lange?
Wie lange werden sie uns hier festhalten? Wie lange tragen meine schmerzenden Füße mich noch? 
Wie lange liegt das Seenotrettungsboot im Hafen, weil die Mittel fehlen? Wie lange ist der Weg über eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, das Mittelmeer?
"Wie lange wollt ihr ungerecht richten – und Verbrecher begünstigen?"
 

Schafft Recht! 

Nach der Anklage kommt im Psalm die Forderung, ebenso klar und direkt:
„Schafft Recht dem Geringen und der Waise, der Gebeugten und dem Bedürftigen lasst Gerechtigkeit widerfahren! 
Lasst den Geringen und die Arme entkommen, entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen!“
Der Alttestamentler Erich Zenger macht eine wichtige Beobachtung zu diesen Versen: es gehe nicht allein um die klassischen Bedürftigen, die sprichwörtlichen „Witwen und Waisen“. Sondern indem der Psalm verschiedene Paare der Bedürftigen kombiniere, erweitere sich diese Forderung auf alle Menschen, die nicht zur Schicht der Großgrundbesitzer und Machthaber gehören. Die Geringen, das sind also nicht nur die Bettler:innen, sondern auch die Kleinbauern und die Arbeiterinnen. Kurz: die, die nicht in pervertiertem Reichtum leben. Man muss nicht erst ums pure Überleben kämpfen, um bei Gott Ansehen und Recht zu finden. Es geht ums gute Leben, nicht allein ums Überleben. In der Diskussion um Flucht und Fluchtursachen scheint mir das nicht unerheblich.
Wie lange also bis zum guten Leben für Alle?
Die Verse der Forderung noch einmal verknappt: Schafft Recht, verschafft Gerechtigkeit. Befreit und entreißt.
 

Lasst Gerechtigkeit widerfahren! 

Zurück zum Berliner Gericht: Hier beantragte die Antragstellerin, der Minderjährigen die Einreise zu ermöglichen sodass sie in Deutschland einen Asylantrag stellen kann.
Nach biblischem Verständnis ist Recht dazu da, die Schwächsten zu schützen. Wer in die biblischen Rechtsschriften sieht, merkt das schnell: es geht darum, Schwächere davor zu schützen ausgenutzt, übervorteilt und ausgenommen zu werden.
Im Fall der Somalierin wurde das aktuell geltende Recht als solcher Schutz in Anspruch genommen. Hier wird ein Mensch in einer Notlage geschützt vor den Ängsten einer Bevölkerung und deren politischer Instrumentalisierung. Die Zurückweisung an den Grenzen geschah ja auf Anweisung des Bundesinnenministers und die Umgehung des geltenden europäischen Rechts unter anderem unter Rückgriff auf „die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“. Dieser Beisatz steht im europäischen Recht, um in Notlagen als Land autonom handeln zu können. Es kann durchaus Notlagen geben und Zeiten, in denen von Notlage-Gesetzen Gebrauch gemacht werden muss. Wie vorsichtig man damit allerdings sein sollte, sollte nicht nur Deutschen klar sein... 
Dass an der deutsch-polnischen Grenze – die immer noch eine Binnengrenze ist - aktuell entgegen geltendem Recht Menschen, die eindeutig Schutz suchen die Einreise verwehrt wird, weil es angeblich eine Notlage für die innere Sicherheit gebe, ist genau das: Pervertierung des Rechts. So hat schließlich auch das Verwaltungsgericht entschieden, nämlich dass für die Gültigkeit dieses Rechtsartikels eine tatsächliche, erhebliche Gefahr für das Land vorliegen müsse und eine solche sei nicht hinreichend belegt.
 

Lasst den Geringen entkommen!

Gerechtigkeit und Recht stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander.
Zur Gerechtigkeit kann es nötig sein, die Spielräume des geltenden Rechts zu nutzen. Jeder gute Richter weiß das. Manchmal werden Menschen frei gesprochen – auch wenn es möglich gewesen wäre, sie zu verurteilen – weil der Richter menschlich urteilte und wusste: wenn ein Hungernder Essen stiehlt, dann wird ihn Strafe nicht davon abhalten. Gerecht Richtende lassen mitunter Angeklagte im Rahmen des Rechts entkommen.
"Lasst den Geringen und die Arme entkommen,
entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen!"
Lasst sie entkommen: Haltet sie nicht fest.
Wer auf der Suche nach einem Ort für sich und seine Familie ist, an dem er – gut – leben kann, der hat entweder das Glück in einem wohlhabenden Land mit ruhiger politischer Lage geboren zu sein – oder er macht sich auf den Weg in ein solches Land. Das war in Zeiten der Bibel so, das ist auch heute so.
Und zu oft wird nicht der Großgrundbesitzer angeklagt, der das System für seine eigene Bereicherung ausnutzt, sondern der Arbeiter festgenommen, der versucht über die Grenze zu kommen. Von ihm wird erwartet, dass er sich geduldig in die Schlange stelle und warte ob er aufgenommen wird und nicht zu mucken, wenn er abgewiesen wird.
Dabei gibt es ein Recht auf Bewegungsfreiheit, es gibt ein Menschenrecht auf Asyl und es gibt ein Recht auf Schutz. Dieses Recht hat jeder Mensch – völlig egal, wo dieser geboren ist, ob er einen Ausweis hat oder nicht. Es ist vor allem auch völlig egal, welche Hautfarbe und Religion dieser Mensch hat. So zumindest das Recht.
Die Zurückweisung der Somalierin und zwei weiterer wurde vom Gericht für rechtswidrig erklärt. Derartige Zurückweisungen seien mit dem EU-Recht grundsätzlich nicht vereinbar. Übrigens genau so wenig, wie Menschen in der Wüste auszusetzen. Das Recht ist da klar und keineswegs uneindeutig.
In der Praxis werden weiter Taten geschaffen und Menschen abgewiesen.
In der Praxis werden die Mittel für Seenotrettung auf dem Mittelmeer gestrichten, weil entschieden wird, dass es nicht zum Zuständigkeitsbereich gehöre.
Derartige Zustände klagt auch bereits der Psalm an – Amtsmissbrauch nennt das die Auslegungsliteratur zum Psalm.
Verschafft ihnen Recht, das heißt im Falle von Flucht und Asyl: Erinnert laut – anklagend – an das Recht. Zeigt den Rechtsbruch auf. Das hat im Fall der Somalierin die Hilfsorganisation Pro Asyl gemacht, die von rechten Kräften gerne als Teil der Asyllobby bezeichnet wird. Diese Lobby, das sind Menschen, die Fliehende aktiv aufsuchen. An den Binnengrenzen, ebenso wie im Mittelmeer.
Die Forderung Gottes im Psalm „Lasst den Geringen und die Arme entkommen“ ließe sich übertragen zu „Lasst die Fliehenden entkommen“. Und wenn diese bedroht sind in ihrem Überleben auch zu: sucht sie und rettet sie auf ihren Fluchtwegen. Sie sollen schließlich nicht in Elend oder Tod entkommen. Sondern ins gute Leben.
 

Entreißt sie der Hand derer, die Verbrechen begehen

Im Beschluss des Verwaltungsgerichtes zum geschilderten Fall heißt es kurz und knapp: „Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin den Grenzübertritt in den Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin zu gestatten und ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für das Asylverfahren einzuleiten."
Erfolgreich entrissen – vorerst.
Es wäre zu einfach, in der Hand derer, die Verbrechen begehen nur die Regierenden oder die Hand der Küstenwache oder der Bundespolizei zu sehen. Es ist ja vielschichtiger. Es sind schließlich viele Menschen, die die Seenotrettung im Mittelmeer nicht finanzieren wollen, die an den Grenzen gegen geltendes Recht zurückweisen wollen. Mitunter werden dann Verfahren wie das Geschilderte mit dem Zusatz versehen, dass Richter:innen eben nicht immer Recht hätten. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht ist umkämpft.
Das Entreißen aus der Hand derer, die Verbrechen begehen ist doch auch das Entreißen aus unserer – aus meiner – ganz eigenen Hand scheint mir. Aus meiner Hand, die rumdruckst. Die denkt, man müsse eben abwägen, doch noch einmal für und wider ansehen. So klar, wie im Psalm sei die Welt eben nicht.
Aber ich fürchte – doch. Doch, die Welt ist so klar.
 

Wie lange wollt ihr ungerecht richten und Verbrecher begünstigen?

Ich habe an manchen Tagen aktuell das Gefühl, es regieren mehr Verbrecher als Gerechte in der Welt – und ich bin mit diesem Gefühl nicht allein. Wenn Menschen Recht brechen – wissend, dass sie Recht brechen – ohne Furcht, dass sie gerichtet werden, weil es keine weitreichende Empörung darüber gibt. Das ist nichts anderes, als Verbrecher zu begünstigen.
Wenn ich die Klarheit des Psalms als Richt-Wert nehme, dann ist völlig unfraglich: Gott steht hundertprozentig auf der Seite derer, die nicht Großgrundbesitz und Macht haben. Im Psalm 82 wird diese Gerechtigkeit sogar fundamental zu Gottes Wesen und das Ziel ist hier, ebenso wie in der christlichen Hoffnung: das gute Leben für Alle, nicht das gute Leben für Einige.
Die Geringen und Bedürftigen haben daher seit jeher ihre Lobby auch in der Kirche. Ich wünsche mir, dass wir diese Lobbyarbeit mit Stolz erfüllen. Nicht zögernd und vorsichtig. Nicht immer auf Verständnis bedacht. Sondern mit Stolz sagen: ich bin nicht Fürsprecherin des Reichtums und des Machterhalts. Ich bin Fürsprecherin der Entrechteten. Derer, die unrechtmäßig an den Grenzen abgewiesen werden. Ohne Verfahren. Mit fadenscheinigen Verfahren. Derer, die Menschen auf dem Mittelmeer von Schlauchbooten retten. Ich bin nicht Fürsprecherin derer, die die Grenzen zum Erhalt der eigenen Macht und des eigenen Reichtums „sicherer“ wollen.
Fürsprache halten kann auch überheblich sein. Wir dürfen als Menschen in der Kirche nicht immer und für alle fraglos Fürsprecher:innen werden – es wird sonst unbalanciert. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass nicht gehört werden und nicht reden können zwei verschiedene Dinge sind und Geflüchtete sehr wohl selbst reden. Aber in diesem Fall sind wir gefragt als Fürsprecher:innen an den entscheidenden Stellen – weil es um unsere Gesellschaft geht. Es geht um unsere Werte und das Recht – das Recht noch etwas gilt.
Vor diesem Hintergrund können wir dann als Kirche und Menschen in der Kirche mit Stolz das tun, was unser christlicher Auftrag ist: Recht verschaffen!
Wir, die Kirche, wir sind Lobbyarbeitende der Geringen und damit sind wir auch Teil der Lobby der Geflüchteten! United4Rescue. Wer mag, kann das auch Asyllobby nennen. Asyl ist eine wichtige Errungenschaft, Menschen vor dem Ertrinken zu retten ist unverhandelbar. Dafür zu kämpfen ist nicht verächtlich oder peinlich. Das ist hoch angesehen. Im Himmel, wie auf Erden.
Schafft Recht. Verschafft Gerechtigkeit. Befreit und entreißt.
Das heißt nicht, wie nun Manche vielleicht vermuten: die Geringen, die schon im eigenen Land sind, zu übersehen. Bei weitem nicht. Es heißt Un-Recht zu sehen. Hier und dort. Und Menschen zu sehen. Menschen die zu uns wollen, weil sie Not leiden und wir Not lindern können. 
Oder die einfach ein gutes Leben wollen. 
Und das ist ihr gutes Recht.

Amen.