Blaubeermuffins und Apfelkuchen - Predigt zu Mt 9,36-10,10 von Uwe Habenicht
9,35-10,10

(Predigttext wird im Zuge der Predigt gelesen.)

 

Wie viele von den Menschen, die in meiner Strasse wohnen, kenne ich eigentlich?

Diese Frage, liebe Gemeinde, stelle ich mir immer, wenn ich die Kolumne, "meine Straße“ in meiner Lieblingsstraßenzeitung lese. In dieser Kolumne schreiben Menschen über Ihre Straße und wie es sich dort lebt. 
Wie viele Menschen aus meiner Straße kenne ich und welche Geschichten könnte ich von meiner Straße erzählen? Und welche Geschichte würde ich gerne von meiner Straße erzählen können?

Vielleicht so eine:
Sie sprach nicht viel. Einige wenige Sätze, das Notwendige eben, sagte sie schon. Und dennoch oder vielleicht gerade deswegen wurden sie von allen in der Strasse so gemocht. Auf die Worte kam es gar nicht an. Es war mehr ihr Blick und ihre Aufmerksamkeit. Sie sah, was den anderen entging. Sie sah, wenn jemand etwas Schweres auf dem Herzen mit sich herum trug. Sie sah, wenn eine junge Frau schwanger war, noch bevor der Bauch sich wölbte. Sie sah es einfach, weil sie genau hinsah. Sie blickte den Menschen ins Gesicht und ins Herz. Sie bemerkte das Schwere und Leichte, das die Nachbarn mit sich trugen. Und dann setzte sie sich in ihrer Küche an den Küchentisch und überlegte sich: Was kann ich der jungen Frau, dem alten Mann, dem Jugendlichen Gutes tun? Sie wälzte ihre Koch- und Backbücher, sie blätterte in ihrer Erinnerung und dann fand sie immer genau das Richtige: Apfelkuchen mit Zimt oder Speckkuchen oder einen Blaubeermuffin. Sie kochte und buk und dann stand sie plötzlich vor der Tür und klingelte. Ich hab dir etwas gebacken, sagte sie dann und alle wussten, dass sie wieder etwas bemerkt hatte. Die Nachbarn setzten sich mit ihr in die Küche oder auf den Balkon. Sie musste gar nicht viel sagen, setzte sich einfach und hörte zu. Hatte Zeit, die ganze Geschichte zu hören, Geduld sich das Gewirr der Gefühle anzusehen. Irgenwann stand sie einfach auf und sagte: Na, dann, alles Gute. Wer die Tür hinter ihr schloss, war erleichtert und wie verwandelt. Dass Blaubeermuffins heilende Kraft haben, daran glaubte man dann irgendwie schon, weil man es eben erfahren hatte. Als sie neu in die Straße gezogen war, fanden die Nachbarn sie merkwürdig, weil sie so schweigsam und nur mit ganz wenigen Dingen eingezogen war. Bei ihren ersten Besuchen blieben manche Türen zu. Und der Apfelkuchen stand mit einem Zettel vor der Tür. „Wollte nur kurz sehen, wie es dir geht“ – stand darauf. Aber schon nach wenigen Monaten öffneten sich die Türen und die Nachbarn erzählten einander von diesen wunderbaren Besuchen, die immer gerade zur rechten Zeit kamen. Wie macht sie das nur, fragte der alte mürrische Mann aus dem Erdgeschoss in Haus Nr. 5. Und die hübsche Frau aus Haus Nr. 15 sagte: Ich glaube, sie nimmt sich Zeit, uns zuzuschauen. Sie ist die einzige, die sich auf die Bank unter der Eiche vor dem Haus setzt und nichts tut außer zuzuschauen, was in der Straße geschieht. Als wäre sie nur für uns da …

Liebe Gemeinde,
würden Sie auch gern in so einer Straße leben, einer Straße, in der plötzlich jemand mit etwas Selbstgebackenem vor der Tür steht und Zeit für einen hat? Die Strasse, in der ich lebe, ist leider ganz anders. Einmal hat es Monate gedauert bis ich bemerkt habe, dass ein Nachbar seit Monaten nicht zu sehen ist, weil er im Krankenhaus liegt. Das hat mich erschreckt. Dass man so nah beieinander wohnen kann und es nicht auffällt, wenn jemand fehlt. 
Sehen wir eigentlich , was um uns herum geschieht? Sehen wir die Menschen in unserem Quartier, in unserer Straße? Oder übersehen wir das Meiste, das uns umgibt, weil wir mit den Gedanken und vor allem mit den Augen anderswo sind – uns in die Ferne träumen oder uns zu Tode über Dinge informieren, die wir nicht brauchen, oder uns einfach nur ablenken lassen wollen?
Es gibt eine kurze Beschreibung von Jesus, die davon erzählt, wie er auf den Straßen und in den Dörfern und Orten Galiläas unterwegs war. Vielleicht fällt euch auch diese besondere Art und Weise auf, mit der Jesus auf die Menschen blickt, die ihn umgeben:

Ich lese aus Matthäus 9, 35 -38:
35 Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. 36 Und als er das Volk sah, befiehl ihn Erbarmen; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. 37 Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. 38 Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.

In nur drei Versen gelingt es Matthäus hier, das Besondere, das Außerordentliche, das diesen jüdischen Rabbi aus Nazareth ausmacht, zusammenzufügen. Wenn also jemand fragen würde, wer war dieser Jesus von Nazereth, dann könnte man diese drei Verse vorlesen und es wäre fast alles gesagt. Jesus zieht umher. Er wartet nicht darauf, dass die Menschen zu ihm kommen, er geht zu ihnen, sucht sie an den Orten auf, an denen sich ihr Leben abspielt: Auf den Straßen und Plätzen, an den Gemeinschaftsorten, wie der Synagoge, in der man zusammen kam und diskutierte und Alltagsfragen klärte. Jesus sitzt nicht irgendwo und wartet darauf, gefunden zu werden, sondern zieht umher. Er erzählt davon, wie sich das Leben verändert, wenn wir darauf vertrauen, dass Gott auf uns zukommt. Reich Gottes nennt Jesus dieses Auf-Uns-Zu-Kommen Gottes, das jetzt schon den Alltag in ein neues Licht taucht. Und dann nimmt sich Jesus der Gekrümmten und Besessenen, der Blinden und Lahmen an. Kurz: all derer, die nicht klarkommen, die an den Rand geraten sind, die das Gleichgewicht verloren haben. Wir könnten auch sagen: Er nimmt sich unserer blinden Flecken, unserer Schwermut, unserer Hilflosigkeit, unserer Müdigkeit an. Und das Schönste an allem: Jesus sieht die Menschen, die ihm begegnen, und lässt sich von ihrem Schicksal bewegen. Wörtlich übersetzt könnte es heißen: Es überfällt ihn Erbarmen oder er fühlte mit ihnen mit, weil sie orientierungslos oder isoliert waren.
Jenny Odell, eine amerikanische junge Schriftstellerin, hat in einem eindrucksvollen Buch beschrieben, wie sie vor einigen Jahren begann, in einem Rosengarten, der in ihrer Straße liegt, Zeit zu verbringen und aufmerksam hinzuschauen, was alles um sie herum geschieht. Was geschieht, wenn wir nicht wie üblich versuchen, möglichst schnell und ungesehen in unsere Wohnungen und Häuser zu kommen, sondern an dem Ort, an dem wir leben, aufmerksam zu sein für die Menschen und Dinge um uns herum? Jenny Odell beschreibt, wie sie anfängt, die Menschen vor Ort kennen zu lernen und sich ihnen trotz aller Verschiedenheit verbunden fühlt. Für mich sind das die beiden wichtigsten Beschreibungen Jesu: Er ist aufmerksam für die Menschen um sich herum und das, was er sieht, löst Mitgefühl und Erbarmen aus. 

Ich sehe dich. Und ich frage mich, was macht dich schwer? Was beschwingt dich?
Ich sehe dich. Und ich frage mich, was fehlt dir? Welche Freude können wir teilen? 
Ich sehe dich. Und ich suche nach dem, was wir gemeinsam mit Freude tun könnten?
Oder brauchst du ein offenes Ohr? Ein aufmunterndes Wort? Ein kurzes Gespräch zwischendurch?
Einen Blaubeermuffin? Oder einen Apfelkuchen, den wir gemeinsam essen können?

Liebe Gemeinde,
der Evangelist Matthäus bleibt nicht bei der Beschreibung Jesu und der Art und Weise wie er unterwegs war, stehen. Matthäus ist nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein Filmregisseur, der mit harten Schnitten und Kameraschwenks arbeitet. Schnitt.
Auf einmal steht nämlich nicht mehr Jesus im Fokus, sondern wir. Hört bzw. seht selbst:

1 Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. 2 Die Namen aber der zwölf Apostel sind diese: zuerst Simon, genannt Petrus, und Andreas, sein Bruder; Jakobus, der Sohn des Zebedäus, und Johannes, sein Bruder; 3 Philippus und Bartholomäus; Thomas und Matthäus, der Zöllner; Jakobus, der Sohn des Alphäus, und Thaddäus; 4 Simon Kananäus und Judas Iskariot, der ihn verriet.
5 Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, 6 sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. 7 Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. 8 Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch. 9 Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, 10 auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert. 

Und? Habt Ihr bemerkt, wie sich die Kamera auf euch gerichtet hat? 
Die Namen der 12 Jünger könnten wir durch 12 Namen aus unserer Mitte ersetzen. Dann klingt es etwa so: 

Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen. 2 Die Namen aber der zwölf sind diese: … (spontan werden 12 Menschen aus der Gemeinde mit Namen benannt: Hilde und Heinz, Klaus, Herr Meyer usw.)

Ich glaube, jetzt habt Ihr gespürt, wie es ist, wenn eine Filmkamera auf einen gerichtet ist. Damals waren es die Zwölf, die mit Jesus mitzogen und in seinem Namen taten, was er tat. Und heute seid Ihr es. Ihr Zwölf, die ich genannt habe, und natürlich wir anderen mit euch zusammen. Damals beschränkte Jesus den Wirkkreis derer, die ihm nachfolgten: geht nicht zu den Heiden, also geht nicht zu denen, die keine Juden sind, und auch nicht zu den Samaritern, sondern beschränkt Euch auf alle, die zu Israel gehören. Später dann nach seiner Auferstehung wird Jesus seine Jüngerinnen und Jünger in alle Welt schicken: Gehet hin zu allen Völkern…
Jetzt aber, ist es für diese universale Mission noch zu früh. Darum schickt Jesus seine Jünger nur zu den Angehörigen Israels. Vielleicht ist das heute manchmal eine unserer Schwachstellen, dass wir allzu schnell eine globale Perspektive einnehmen und dabei die vergessen, die direkt um uns herum leben. Darum gefällt es mir, unsere Namen für die Namen der Jünger einzusetzen und unseren Wirkungskreis bewusst auf unsere direkte Umgebung zu beschränken. Wie anders sähe es aus, wenn wir sehr konkret auf die Menschen schauen würde, die direkt mit uns und um uns herum leben. Längst umgibt uns die Welt in unserem direkten Umfeld. Von unseren Nachbarn, die aus so vielen verschiedenen Ländern und Regionen kommen, könnten wir hören, wie es dort ist und was es  vielleicht heißt, von dort geflüchtet zu sein oder mit Verwandten, die dort immer noch leben, in Kontakt zu sein. Wenn ich beim Deutschunterricht mit anderen ins Gespräch komme und sie mir davon erzählen, dann kommt mir die große Welt sehr schnell durch das Gesicht meiner Gesprächspartnerin zu mir. Darum können wir gleich vor unserer Haustür mit unserer Aufmerksamkeit beginnen: 

Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus.

Das klingt, wenn man es so hört, unmöglich, oder? Wie. Sollten wir Kranke gesund machen, Tote aufwecken, oder Dämonen austreiben? Und dabei wissen wir doch, wie viele krank werden, weil sie einsam sind, wie viele sich wie tot fühlen, weil sie den Kontakt zu anderen verloren haben, wie viele wie Aussätzige gemieden werden, weil sie anders denken oder anders leben.
Ich glaube, dass wir als Gemeinschaft die Kraft und die Möglichkeiten haben, zu vollbringen, was Jesus uns aufgetragen hat. Vielleicht weniger spektakulär, weniger Aufsehen erregend, aber doch so, dass Menschen es spüren und wir etwas beitragen können zu Gesundung, zum Wohlbefinden und zum Wohlsein von anderen. Gerade erst haben wissenschaftliche Studien nachgewiesen, dass gerade alltägliche Kontakte, das Leben von Menschen deutlich verbessern. Und jetzt stellt euch vor, wie sehr Blaubeermuffins verbunden mit einem Besuch zum Wohlbefinden beitragen könnten.
Das Himmelreich ist nahe herbei gekommen, verkündete Jesus damals. Gott kommt freundlich und warmherzig auf uns zu. Aus dieser Gewissheit können wir noch immer leben – und handeln. Im Großen und vor allem direkt vor unserer Haustür. Und wenn Ihr lieber Apfelkuchen backt statt Blaubeermuffins ist das ganz sicher auch mehr als in Ordnung…

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Uwe Habenicht

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der  Sommer wird die Kirchenbänke lichten. Die im Juli in den Gottesdienst kommen, sind die Hochverbundenen. Sie zu würdigen und aufzuzeigen, welche Wirkung sie in ihrem Umfeld haben können, ist Ziel der Predigt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Jenny Odell: Nichts tun

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie gelingt es uns, die Lebensgeschichten der Mitfeiernden in die biblischen Geschichten hineinzutragen und umgekehrt? Das ist die Frage, die sich in dieser Predigt mit dem Eintragen der Namen beantworten lässt. Wäre gespannt, ob es darauf Reaktionen nach der Predigt gab und wie es auch sonst gelingen könnte.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Anfangsgeschichte hat durch das Coaching eine neue Rahmung bekommen, die der Geschichte und ihrem Charakter ganz sicher gut tut, weil der Abstand zum Alltagserleben so besser zur Geltung kommt.

Perikope
20.07.2025
9,35-10,10