„Komm Ruth“, ruft die Mutter ihre Tochter, die reisefertig an der Haustür steht. „Wir wollen los, der Weg ist weit, es dauert bis wir in Jerusalem sind. „Ich komme“ hört die Mutter die Stimme ihrer Tochter aus dem oberen Geschoss. Ruth greift nach ihrem Umhang, klemmt sich den Beutel unter dem Arm und rennt nach unten. Vater und Mutter stehen bereit zum Aufbruch, ebenso Joses und Michal, ihre Brüder. Die Familie geht auf Wallfahrt. In Jerusalem wird das Passahfest gefeiert. Es ist gut, rechtzeitig da zu sein, die Familie möchte eine Herberge ergattern und nicht unter freien Himmel schlafen. Ruth darf in diesem Jahr das erste Mal mitgehen. Sie ist alt genug, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Sie weiß Bescheid über die religiösen Bräuche. Die haben ihr Vater und Mutter erzählt. Aber es ist etwas anderes, über die Bräuche Bescheid zu wissen oder sie selbst mitzuerleben. Sie ist furchtbar aufgeregt und freut sich riesig. Sie ist noch nie in Jerusalem gewesen, überhaupt noch nicht in einer Stadt. Sie kennt ihr Dorf, die beiden Äcker, die ihren Eltern gehören und auf denen sie bei der Ernte mithilft. Sie kennt die Weidegründe, wo sie die Schafe und Ziegen zum Grasen hintreiben muss. Sie kennt Nachbarn und Nachbarskinder, Leute, die am anderen Ende des Dorfes wohnen, die genauso leben wie ihre Familie, aber eine Stadt, in der feine Leute wohnen, wo Händler Waren anpreisen, wo Wasserverkäufer durch die Straßen ziehen, wo es vornehme Häuser gibt und einen prächtigen Tempel, in dem Priester den Tempeldienst verrichten, das kennt sie nicht.
„Los Ruth, beeil dich“, treiben Joses und Michal sie an. Typisch ihre Brüder, die zappelig und ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfen. Der Vater kontrolliert die Fenster, ob sie zu sind, schließt die Haustür ab. Während ihrer Abwesenheit wird Gad, der Mann aus der Nachbarschaft ein Auge aufs Haus haben und nach den Tieren sehen. Gad ist zu alt, um an der Wallfahrt teilzunehmen. Er hat Ruth‘s Eltern von seinem Bäumen Datteln und Orangen mitgegeben, damit sie die Früchte für ihn opfern. Auch Vater und Mutter sind in Vorfreude auf das Passahfest, auf den Tempel und die herausgeputzte Stadt, ebenso die Brüder. Joses durfte im vorletzten Jahr mit, Michal im letzten. Die Familie zieht los.
Nachbarn schließen sich an. Die Gruppe wird größer, weitere Nachbarn und Freunde kommen hinzu. Da sind ihre Freundinnen Susanna und Rabea mit ihren Familien. Susanna und Rabea haben Ruth von weitem entdeckt und winken ihr zu. Einige Männer führen Esel für die Lasten mit, die sie tragen. Sie müssen Wasservorräte mitnehmen, unterwegs sind nicht alle Brunnen gefüllt. Die Menschen sind frohgestimmt und freuen sich auf das Passahfest, aufgeregtes Lachen und Geschnatter begleitet die Reisenden. Das Dorf liegt hinter ihnen. Bald wird es still, jede/r hängt seinen/ ihren Gedanken nach. Ruth ist gespannt wie ein Flitzebogen. Sie wiederholt im Geiste die Frage, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt während den Feierlichkeiten stellen muss „Was ist es, was diese Nacht von den anderen unterscheidet?“ Sie hat sie tausendmal in der letzten Zeit vor sich hin gesprochen. Als jüngstes Kind hat sie das Vorrecht, diese Frage an den Vater zu richten. Der würde mit der Geschichte vom Auszug aus Ägypten beim Passahfest antworten: wie ihre Vorfahren in der Nacht aufgebrochen sind, um vor dem Pharao zu fliehen. In aller Eile hatten sie das Brot gebacken und eingesteckt. Es reichte nur für ungesäuerte Brote, die Zeit drängte. Jeder kennt die Geschichte, trotzdem wird sie immer wieder von Neuem erzählt. Sie darf nicht vergessen werden. Die Israeliten sollen sich erinnern, dass Gott hilft. Ruth findet es großartig, die Geschichte zu hören. Sie gibt dem Leben ein stabiles Fundament und erinnert daran, dass Gott aus Unterdrückung und Unfreiheit herausführt, sagt ihr Vater.
Die Sonne hat den höchsten Stand überschritten und hat nicht mehr so viel Kraft. Es ist angenehm zu laufen. Zwei Pausen haben sie unterwegs eingelegt. Ruth durfte ein kleines Brot essen und kühles Wasser aus dem Wasserschlauch trinken. Die Esel sind brave Tiere, sie trotten klaglos vor sich hin. Mit jedem Schluck Wasser wird die Last für sie ein wenig leichter. Der Nachmittag bricht an, alle sind müde vom Laufen, es wird Zeit, sich einen Platz für die Nacht zu suchen. Ruth und ihre beiden Freundinnen Susanna und Rabea wählen einen Baum, unter dem sie schlafen möchten. Ihre Familien lagern sich neben sie. Die anderen Familien bereiten sich ebenfalls auf die Nacht vor, einige schlagen ihre Zelte auf. Ruth hat sich eng an Susanna und Rabea gekuschelt, über ihnen der Sternenhimmel. Es ist wunderbar, die körperliche Nähe der Freundinnen zu spüren. Erschöpft und zufrieden schläft sie ein und träumt von der Wallfahrt nach Jerusalem.
„Temon“ flüstert Ada ihrem Mann zu und dreht sich auf ihrer Schlafmatte ihm zu „schläfst du schon?“ Nein“ antwortet er und drückt sie sanft an sich. Die Sterne leuchten in der Dunkelheit, manche flackern, als ob sie verlöschen wollen. „Der Tag war heute schön, die Kinder sind gut gelaufen, sie schlafen jetzt fest. Der Sternenhimmel strahlt Ruhe und Geborgenheit aus, wenn es doch auch in Juda so friedlich zuginge“ sagt Ada besorgt. „Du machst dir Gedanken“, nimmt Temon den Faden auf. „Ja, wer weiß wie lange wir noch in Freiheit sind, Sanherib, der assyrische König, hat die Macht übernommen, er wird uns nicht mehr lange zugestehen, dass wir unbehelligt unser Leben führen können. Er wird nach jüdischen Häusern, Land und Besitz greifen. Möglicherweise werden wir gar umgesiedelt.“ „Er hält sich zurück“, beruhigt Temon seine Frau. „Jerusalem steht noch, den Tempel rührt er nicht an, wir dürfen ungehindert nach Jerusalem wallfahren.“ „Ja“, sagt sie. Sie will nur zu gern glauben, dass ihrem Volk nichts passiert. Undenkbar, wenn ihren Kindern etwas zustoßen sollte, undenkbar, wenn ihr Mann nicht an ihrer Seite wäre. Sie schmiegt sich fest an ihren Mann. Seine Worte, sein liebevolles Kuscheln, der Sternenhimmel, wiegen sie in einen wenn auch unruhigen Schlaf. Erst in den frühen Morgenstunden verfällt sie in einen erholsamen Schlaf.
In der zweiten Nacht hat Ada einen ungewöhnlichen Traum. Sie träumt: Alle Völker der Erden ziehen gen Zion. Sie kommen aus allen Himmelsrichtungen: aus Norden und Süden, aus Osten und Westen. Sie haben alle das gleiche Ziel: sie wollen auf den heiligen Berg zum Haus Gottes. Von Jerusalem geht Weisung aus für die Welt. Alle Völker sehnen sich nach Frieden und suchen nach Recht. Der Gott Israels spricht Recht unter den Völkern. Jeder Mensch erweist dem anderen Respekt, Schwerter werden zu Pflugscharen geschmiedet, mit denen der Acker gepflügt wird, Spieße wandeln sich zu Sicheln, mit denen das Korn geschnitten wird. Alle Welt preist Gottes Gerechtigkeit. Das Kriegshandwerk lernt keiner mehr. Die Völker sind fröhlich und wandeln im Licht Gottes. Israel wird zum leuchtenden Vorbild für die Völker Welt.
Wie ein Schleier verschwindet das Bild, als Ada erwacht. Noch nicht ganz wach, aber auch nicht mehr schlafend, spürt Ada dem Erlebten nach. Langsam und etwas verwirrt öffnet sie die Augen. Sie hätte gerne in dieser wunderbaren friedlichen Welt länger verweilt. Unwillig löst sie sich von ihren Traumbildern, erhebt sich und schüttelt ihre Schlafmatte aus.
Heute ist dritte Tag der Wallfahrt. Heute werden sie Jerusalem erreichen. Ada weckt die Kinder, Temon setzt Wasser auf für den Tee. Die Familie nimmt ein einfaches Frühstück ein, dann macht sie sich auf den Weg. Die wallfahrenden Menschen werden von Tag zu Tag mehr. In Scharen pilgern sie nach Jerusalem zum Passahfest. Und dann sehen sie die Stadt mit dem prächtigen Tempel, der plötzlich hinter den Hügeln auftaucht. Hoch oben steht der Tempel auf einen Berg, unzählige große und kleine Häuser aus Lehm schmiegen sich um ihn herum. Majestätisch glänzt der Tempel in der Morgensonne. Er ist schon von weitem zu sehen.
Die Augen der Alten beginnen zu leuchten, auch Ada und Temon sind jedes Jahr von neuem berührt, Ruth erlebt den Anblick das erste Mal. Mit offenem Mund starrt sie auf den Tempel, Susanna und Rabea stockt der Atem, alle drei Mädchen sind überwältigt von so viel Erhabenheit und Schönheit. Die Jungs machen sich über das ehrfurchtsvolle Staunen der Mädchen lustig. „Mund zu“ neckt Joses seine Schwester, „Luft holen“, setzt Michal nach und zieht Susanna lachend an den Haaren. Dass auch sie ins Staunen geraten sind ob so viel Macht und Glanz geben sie nicht zu. Sie verstecken sich hinter Witzeleien. Ein paar Stunden, dann werden sie die Heilige Stadt erreichen.
Die Sonne schickt ihre volle Kraft. Jeder hat mit sich selbst zu tun. „Ich hatte heute Nacht einen merkwürdigen Traum“ offenbart Ada sich ihrem Mann. „Was hast du geträumt“, fragt er teilnehmend. „ Ich träumte von einer Welt, in der es keinen Krieg gibt. Ich träumte, alle Menschen lebten in Frieden, jeder suche das Wohl des anderen, die Völker wallfahrten in großen Scharen zum Zion, stellten sich freiwillig unter Gottes Wort, wollten begierig seine weisenden Worte hören, sehnten sich nach Recht und Gerechtigkeit. Allen voran zogen die Israeliten zum Heiligen Berg in Zion. Der Traum war eigentlich kein Traum, er wirkte irgendwie real.“
Stille, nichts, kein Wort, Temon hat fasziniert zugehört. Vom Friedensreich hat sie geträumt, von Bildern allumfassenden Glücks, Bilder, die der Seele gut tun. Er kann und möchte nicht sprechen, jedes Wort hätte den Zauber zerstört. Er blickt sie liebevoll an und drückt zärtlich ihre Hand. Schweigend laufen sie weiter bis sie Jerusalem erreichen. Die Stadt ist laut und geschäftig, übertönt den Zauber der Vision, wegwischen kann der Stadtlärm sie nicht. Die Vision hat sich in ihre Herzen eingebrannt.
Die Kinder wuseln aufgeregt hin und her, machen sich gegenseitig auf noch nie gesehene Besonderheiten aufmerksam: „Guck mal, Säcke voller Granatäpfel“ „Und hier, die bunten Gewürze“ „ Wie es hier duftet“, ruft Susanna und zieht genussvoll den Duft nach Salbei und Thymian über die Nase ein. Temon und Ada schauen sich nach einer Herberge um, wo sie das Passahfest feiern können. Ruth wird ihre Frage zur rechten Zeit stellen: „Warum ist diese Nacht anders als die anderen Nächte.“ Temon wird die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählen. Ruth wird aufmerksam zuhören als hörte sie sie zum ersten Mal, selbst die Jungen werden still sein und dem Vater lauschen. Nach dem Fest spricht Temon zu seiner Frau: „Dein Traum erinnert mich an die alte Vision unseres Volkes: die Völker ziehen am Ende der Tage zum Berg Zion, Gott ist Richter und spricht Recht. Alle Völker wandeln in seinen Licht.“ „Jeder Mensch träumt von Frieden“, fährt Temon fort, „jeder Mensch möchte in Freiheit leben, jeder Mensch sehnt sich nach Gerechtigkeit.
Ich stelle mir das so vor: Die Wallfahrt, die wir alljährlich machen ist ein Abglanz der großen Wallfahrt. Indem wir uns auf die kleine begeben, üben wir die große ein. Der König von Assur Sahnherib mag uns drangsalieren, unserer Wurzeln berauben und ins Exil schicken. Die eigentlichen Wurzeln sind tiefer, sie reichen weit in die Vergangenheit, in unseren Glauben an einen Gott, der wirkt und sein Friedenreich aufrichtet. Der Glaube an die endgültige Wallfahrt gibt Kraft, mit schlimmen Ereignissen leichter umzugehen. Das glaube ich fest.“ „Das glaube ich auch“, bekräftigt Ada ihren Mann und schließt ihn in den Arm. Es tut so gut, ihm zuzuhören. Sie haben sich, sie haben die Kinder, Nachbarn und Freunde. „Mama, wann gehen wir wieder nach Hause?“ fragt Ruth ihre Mutter. „Heute, mein Schatz“ lächelt Ada beglückt und wickelt das Schultertuch um ihre Tochter. Zufrieden und beseelt machen sie sich gemeinsam mit anderen Familien auf den Rückweg. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Kirchengemeinde, der ich angehöre, steht mir vor Augen. Die Kirche ist aus dem 12. Jahrhundert mit wundervoller Ausstrahlung. Die Kronleuchter sind an auch wenn die Sonne scheint. Das erhöht die Festlichkeit, die aus dem Alltag heraushebt. Der Gottesdienstbesuch ist eher zurückhaltend an einem Sonntag im Sommer, an dem kein besonderer Anlass begangen wird.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Vision selbst
3. Welche Entdeckung wird Sie begleiten?
Wir dürfen/müssen an Visionen festhalten, gerade in schwieriger politischer und/oder in schwieriger persönlicher Situation wie z.B. Martin Luther King: Ich habe einen Traum….
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir hilfreiche Vorschläge unterbreitet, die die Predigt an einigen Stellen flüssiger oder klarer gemacht hat. Ich bin dankbar für das qualifizierte Feedback, das ich sonst kaum bekomme.