Ich sitze in einem Wohnzimmer, in einem Dorf im Herzen von Sachsen-Anhalt. Er hat mir geschrieben, ob ich einmal für ein Gespräch vorbeischauen könnte. Sie bietet mir Kaffee an und entschuldigt sich, dass es keinen Kuchen gibt. Dann erzählt sie mir von all dem, was sie davon abgehalten hat zu backen. Alltägliches, mit lauter werdenden Spuren von Lebensschmerz. Sie haben im fortgeschrittenen Alter ein Kind bekommen, das mit einer schweren Behinderung auf die Welt gekommen ist. Sie fragen sich, was wird, wenn sie sich nicht mehr kümmern können. Ich spüre, wie dringend sie brauchen, dass jemand zuhört.
Sie hat aus Liebe zu ihm ihre osteuropäische Heimat verlassen. Das ist lange her, trotzdem erlebe ich, wie sie darum ringt sich auszudrücken. In einer anderen Sprache verliert man angeblich bis zu 80 % seiner Persönlichkeit. Wen ich nicht verstehe, die bleibt mir fremd. Wie gern würde ich jetzt in ihre Muttersprache mit ihr sprechen können, um wirklich da zu sein für sie und ihren Schmerz. Doch da nimmt das Gespräch eine andere Wendung.
Diese zwei, die sich als belastet erleben und es unzweifelhaft sind, fühlen sich ungerecht behandelt. Das Haus, in dem sie leben, ihr kleiner Wohlstand, das hätten sie sich hart erarbeiten müssen. Andere täten das nicht, sagen sie. Und damit meinen sie nicht: Erb:innen von großen Vermögen. Sie meinen: Menschen, die aus anderen Ländern nach Deutschland kommen. Vor allem jene, die flüchten.
Sie spüren sofort, dass ich nicht ihrer Meinung bin. Sie erwarten das sogar von mir. Klar, die Kirche, da wäre man ja immer für Nächstenliebe. Aber man müsse auch realistisch sein. Und real ist für die beiden: Alle kommen nach Deutschland und machen sich hier ein gutes Leben – auf ihre Kosten.
Ihre Informationen beziehen sie aus Kanälen, die ich nicht kenne. Dort wird verbreitet, dass Menschen nach Europa kommen, weil sie zu faul sind, um in ihrer Heimat anzupacken, dass Luxushotels für die Unterbringung von Geflüchteten genutzt werden und dass die meisten Muslime Terroristen sind.
Was sie dort nicht sehen und hören: Wie Menschen sich aus ihrer Heimat aufmachen, weil dort so viel Gewalt und Kriminalität um sich greift, dass sie nicht mehr sicher sein können, morgens aufzuwachen. Wie Minderjährige ohne das Wissen ihrer Eltern aufbrechen, um in Europa Geld zu verdienen, weil sie nur diesen Weg sehen, um das Überleben ihrer Familie zu sichern.
Wie 32 Menschen auf einem Pickup-Truck durch die Wüste transportiert werden, dicht gedrängt, ohne Schutz vor der segnenden Sonne. Und wie Menschen während der Fahrt tot vom Truck fallen, weil ihre Körper das nicht aushalten. Das Auto hält nicht einmal an.
Wie instabile Gummiboote, mit denen wir hier nicht einmal auf einen Teich fahren würden, zur Überquerung des Mittelmeers genutzt werden, dicht bepackt mit Menschen, von denen die meisten nicht schwimmen können.
Wie in Europa, sofern sie dort ankommen, nicht die »soziale Hängematte« wartet, sondern – in den meisten Fällen – unerträgliche Zustände in den Erstunterkünften, kein Zugang zum Arbeitsmarkt, Anfeindungen und Misstrauen der Einheimischen.
Menschen, die fliehen, sind nicht naiv. Sie wissen um die Gefahren. Sie fliehen trotzdem und begeben sich nicht selten in Lebensgefahr. Ob da ein Rettungsschiff auf dem Mittelmeer ist oder nicht, macht keinen Unterschied für ihr Aufbrechen. Sie sehen keinen anderen Weg, als ihre Heimat zu verlassen.
Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit sind ein grausamer Normalfall. So ist es heute, so war es in biblischen Zeiten. Auch das zweite Buch Samuel erzählt davon:
Als Isch-Boschet, der Sohn Sauls, hörte, dass Abner in Hebron umgekommen war, wurden seine Hände schlaff, und ganz Israel verlor den Mut. Nun waren bei dem Sohn Sauls zwei Männer, Anführer von Streifscharen. Der eine hieß Baana und der andere Rechab, Söhne Rimmons, des Beërotiters, aus Benjamin – denn auch Beërot wird zu Benjamin gerechnet. Die Einwohner Beërots flohen aber nach Gittajim und blieben dort als Fremde bis auf den heutigen Tag. Jonatan, der Sohn Sauls, hatte einen Sohn, der war an den Beinen gelähmt. Er war fünf Jahre alt, als die Nachricht von Saul und Jonatan aus Jesreël kam. Da nahm ihn seine Amme und floh. Doch bei ihrer überstürzten Flucht geschah es, dass er herunterfiel und lahm wurde. Sein Name ist Mefi-Boschet.
David ist auf dem Weg, die Macht zu erobern, in den ganzen Gebieten Juda und Israel, und dazu gehört, dass die alte Machtelite aus dem Weg geräumt werden muss. König Saul ist schon tot, viele seiner Söhne und der Heerführer Abner ebenfalls. Und nun stirbt auch Isch-Boschet, der für kurze Zeit auf dem Thron Israels saß, ermordet von seinen eigenen Gefolgsleuten, die sich damit Davids Wohlwollen sichern wollen. David aber zeichnet sich dabei dadurch aus, dass er dem von JHWH eingesetzten Königtum Respekt entgegenbringt. Deshalb geht er selbst hart gegen Isch-Boschets Mörder vor und lässt sie töten.
Zeiten politischer Unruhen sind Zeiten der Gewalteskalation. Da sind Raubzüge zur Finanzierung von Kriegen, Gebiete sind umkämpft, Loyalitäten wechseln, territoriale Ansprüche werden erhoben und bestritten. Viele Player, viele Interessen, viele Konflikte und offene Rechnungen. Alles am Ende zu kompliziert, um es mal eben so zu beenden. Gefährliche Zeiten für alle Machthabenden. Aber auch gefährliche Zeiten für alle mit wenig Macht und Einfluss.
»Die Einwohner Beërots flohen aber nach Gittajim und blieben dort als Fremde bis auf den heutigen Tag.« Ein Satz für viele Schicksale. Keine Namen, keine Zahlenangaben, keine Beschreibungen. Nichts, woran mein Mitgefühl sich klammern könnte. Der Satz rauscht vorbei an meinen Ohren und meinen Augen. Nur einem räumt die Geschichte ein wenig mehr Raum ein. Ein kleiner Junge wird auf der Flucht verletzt und ist fortan mobilitätseingeschränkt. So weit, so alltäglich. Aber Mefi-Boschet gehört zur Königsfamilie. David holt ihn später an den Hof, aus alter Verbundenheit mit dessen Vater Jonathan. Mefi-Boschet ist ein Mensch, mit einer Geschichte, einer Herkunft, einer Zukunft. Mit ihm kann ich Mitleid empfinden – obwohl seine Geschichte verhältnismäßig gut ausgeht. Mit den Einwohner:innen Beërots aber nicht. Wie viele von ihnen haben ihr Leben verloren auf dem unsicheren Weg, wurden beraubt, bedroht, vergewaltigt, sind, erkrankt, verletzt, verhungert, traumatisiert? Und hatten sie eine Chance am neuen Ort, haben sie dort Wohnung und Arbeit finden können und wurde ihnen ein guter Platz in der neuen Gemeinschaft eingeräumt? Ich will sie mir vorstellen und ihre Schicksale – und scheitere doch daran. Sie bleiben namen- und gesichtslos.
Noch jemand ist merklich abwesend in dieser Geschichte: Gott. Anders als in vielen biblischen Geschichten, gerade in den alttestamentlichen Geschichtsbüchern, meldet Gott sich nicht selbst zu Wort. Auch wenn es derartige Erzählungen zweifellos in der Bibel gibt: Hier gibt Gott nicht die Befehle, zu töten und zu vertreiben. Vielleicht ist diese Geschichte darin theologisch ehrlich. Sie kann Gott nicht reden lassen, weil sie sich nicht da abspielt, wo Gott ist: bei den namenlosen Fremden, deren Schutz JHWH immer wieder von seinem Volk einfordert. Gott ist Liebe, nicht Gewalt; Gerechtigkeit, nicht Unrecht.
Wo ist Gott dann, in diesen Geschichten? An der Seite derer, die untergehen in den Interessenskonflikten der weltlichen Mächte, und in allen Versuchen, die vermeintlich unausweichlichen Dynamiken der Gewalt zu durchbrechen. In jeder Hand, die einem anderen Brot gibt, obwohl er fremd ist. In den Augen, die Menschen in den Flüchtenden und Fremden sehen. Und in den Stimmen, die Klage erheben über das Unrecht und gegen die Gleichgültigkeit.
Es sind Gottes Geschöpfe, die flüchten und im Mittelmeer ertrinken. Das gerät erschreckend schnell aus dem Blick. Für unser Denken und Fühlen reichen bloße Zahlen eben nicht aus. Wir brauchten Gesichter und Geschichten, um empathisch zu agieren. In der Passionskirche in Berlin wurde am Weltflüchtlingstag Menschen gedacht, die auf der Flucht ihr Leben verloren haben. 32 Stunden lang wurden ihre Namen verlesen. Doch so wichtig das ist: Meine Gesprächspartner aus dem Wohnzimmer werden nichts davon gehört haben.
Lange habe ich damals bei ihnen gesessen. Ich glaube nicht, dass ich ihre Meinung geändert habe. Zumindest habe ich ihren üblichen Informationskanälen etwas entgegengesetzt. Ich hoffe, dass davon etwas bleibt. Aber ich weiß auch, dass es nicht reicht. Ich wünschte, es wäre nicht »politisch«, für die Rettung von Menschenleben zu sein, aber das ist es leider. Weil viele daran arbeiten, Hierarchien zwischen Menschen aufzubauen. Menschen einzureden, dass sie das, was ihnen teuer ist, nur erhalten können, indem sie auf andere treten. Wenn Menschen glauben, dass gutes Leben immer nur für sehr wenige möglich sein wird, dann wird aus bedrohten Menschen, die auf der Flucht ihr Leben riskieren und Gewalt erleiden, eine bedrohliche Masse.
Egal wie sehr sich der politische Wind gerade dreht: Wir dürfen nicht auf die hören, die behaupten, dass Abschottung und Entsolidarisierung die einzigen vernünftigen oder gar gottgewollten Wege sind, mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen. Unser kleines Glück ist nicht bedroht von den Menschen, die versuchen, sich zu retten. Unser Glück ist bedroht durch die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und gesellschaftliche Ungerechtigkeit. Und unser Glück ist bedroht durch den wachsenden Mangel an Empathie. Denn wenn uns Menschenleben immer weniger wert sind, werden wir unsere Menschlichkeit verlieren.