Kennst du den Fremden in der Mitte? Predigt zu Ex 1,1-10 von Bruder Andreas Knapp
1,1-10

Du bist Ägypten. 
Und auf dem Thron deines Herzens residiert ein Pharao.
Aber …  er hat Angst!

Liebe Schwestern und Brüder,
wovor fürchtet sich unser Pharao? Er hat Angst vor dem Fremden. Er zittert um seine Identität. Er befürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Eine Überfremdung, so seine Furcht, würde sein Selbstbild und seine Macht gefährden. 

Und woher kommt diese Angst?
Weil er etwas vergessen hat: „Es kam ein neuer Pharao, der von Josef nichts mehr wusste.“
Wir erinnern uns: 
Josef war von seinen eigenen Brüdern nach Ägypten verkauft worden. Dort freilich macht er Karriere. Durch seine Umsicht trägt er zu einer klugen Verwaltung bei, so dass Ägypten Vorsorge gegen Notzeiten trifft. Und als eine große Hungersnot hereinbricht, ist man vorbereitet. 
Als auch Josefs Brüder in Not geraten, da sinnt er nicht auf Rache, sondern zeigt sich großzügig. Sie und ihre Familien finden Aufnahme in Ägypten und müssen nicht Hunger leiden. Sie lassen sich in ihrer neuen Heimat nieder und tragen durch ihre Arbeit zum Aufbau des Landes bei. So hat das Volk Israel in Ägypten die Erfahrung von Gastfreundschaft gemacht – und Ägypten hatte durch Josef und sein Volk Rettung und Bereicherung erfahren.
Die Jahre gehen ins Land…  Es gerät in Vergessenheit, was Josef einst für Ägypten getan hat. Und dass es ein Fremder war, der das Land aus einer bedrohlichen Situation gerettet hat. Der neue Pharao weiß nichts mehr von Josef und dass Ägypten ihm, einem Immigranten, so viel zu verdanken hat. Der Beitrag der Fremden zu Wohlstand und Fortschritt ist nicht mehr im Blick. So gewinnt Angst die Oberhand: Die Angst vor Überfremdung. Die Angst vor den Fremden in der eigenen Mitte. Und so schreibt der Pharao in sein Regierungsprogramm: „Egypt first!“

Ich bin Ägypten. 
Und auf dem Thron meines Herzens residiert ein Pharao.
Aber er hat Angst!

In mir, in jeder und jedem von uns wohnt eine Angst vor dem Fremden im eigenen Innern. Denn wir kennen auch Gefühle und Verhaltensmuster, die uns manchmal überkommen und vor denen wir erschrecken. Wir sagen dann: „Ich kenne mich selbst nicht mehr wieder!“ Denn da bricht plötzlich ein ungeahnter Zorn in mir auf. Oder ich weiß nicht, warum ich mich über eine bestimmte Situation derart aufrege. Manchmal ahne ich, wo der Ursprung von Hass, Gewaltphantasien oder Vorurteilen liegt. Oft aber bleiben mir solche Emotionen rätselhaft und fremd. Sie passen so gar nicht in das schöne Bild, das ich von mir selber habe. Sie stören das Image, das ich vor mir selbst und vor anderen pflege.

Aber vielleicht kann ich genau auf diese Gefühle und Verhaltensweisen hören, die mich so befremden. Sie können mir eine Geschichte erzählen, die ich wohl vergessen habe. Oder verdrängt, weil sie so unangenehm ist.

Als kleines Kind war ich naturgemäß sehr ohnmächtig und daher völlig abhängig von der Zuwendung und Fürsorge meiner Eltern. Manchmal stresste ich die Erwachsenen durch meine spontanen Gefühlsregungen, durch meine Wildheit, meinen Zorn. Doch diese Gefühle passten nicht immer zur Situation der Erwachsenen. Ihre negative Reaktion lehrte mich, dass ich manche Gefühle nicht zeigen oder ausleben darf. Ich musste mich anpassen und daher manche Emotionen in mir selbst verstecken und vergraben. Und so entstand ein Fremdland in meinem eigenen Innern. Eine Art Verlies, in das ich die ungeliebten und stressigen Gefühle verbannte. Sie führen dort ein Schattendasein. Und dort können sie sich sogar noch vermehren – und machen mir dann noch mehr Angst.
Manchmal meldet sich dieses Fremde wieder, völlig überraschend und erschreckend. Da tauchen Gefühle in mir auf wie Hass, Eifersucht, Wut, Aggression – und ich schiebe sie schnell wieder in das Versteck zurück.

Liebe Schwestern und Brüder,
wenn ein Mensch ein solches ungeliebtes inneres Fremdland in sich trägt, so läuft er oder sie Gefahr, dass diese Angst vor dem Fremden in mir auf die Fremden im Außen übertragen wird. Wer das Fremde in sich selbst abwehrt, hat auch Angst vor den Fremden, die in seiner Umgebung auftauchen. Sie wirken bedrohlich, weil sie an das Abgespaltene und Verdrängte im eigenen Herzen erinnern. Die Asylanten oder fremdsprachige Menschen könnten das Verdrängte in meiner eigenen Mitte antriggern. Und darum meide ich sie, wehre sie ab, packe sie in Schubladen, um sie mir vom Leib zu halten. Und so kann Fremdenhass entstehen, weil man vergessen und verdrängt hat, was im eigenen Innern passiert ist.
Der Pharao in mir kann oder will nicht wahrhaben, dass in meinem eigenen Herzen Fremdes wohnt, das von Anfang zu mir gehört. Das aber kein Lebensrecht erhielt und daher ins innere Exil abgewandert ist. So gilt auch hier: Es herrscht ein Pharao, der von Josef nichts mehr wusste.

Wir sind Ägypten.
Und auf dem Thron unseres Herzens residiert ein Pharao.
Aber er hat Angst.

Ängste sind Alarmglocken. Wir sollten uns von ihnen nicht ins Boxhorn jagen lassen. Vielmehr wie bei einem Warnsignal wach werden für das, was gerade passiert. Wachsam und achtsam sein, um dann in guter und angemessener Form handeln zu können.
Wenn Ängste vor dem Fremden auftauchen, so ist es gut, diese Ängste in Ruhe anzuschauen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen: Woher kommst du? Woher kenne ich dich? Welche Geschichte erzählst du mir? 
Vielleicht kann manches, was ins Unbewusste abgeschoben wurde, sich wieder zeigen. Die Fremden und Asylanten, sie können an das Fremde erinnern, das in mir selber wohnt. Auch Gefühle wie Eifersucht, Neid oder Zorn haben ein Heimatrecht, denn sie gehören zu mir. Aber ich gehöre nicht ihnen! Und daher ist es hilfreich, sie zu benennen und vielleicht sogar mit anderen über sie zu reden. Dann üben sie nicht mehr so viel Macht über mich aus. Sie besetzen meinen inneren Thron nicht mehr, sondern finden den Platz, der ihnen gebührt.
Wer diese Schritte geht, für den sind auch die Fremden und Asylanten, die zu uns kommen, nicht mehr so bedrohlich. Wir können vielmehr unsere gemeinsame Geschichte entdecken. Denn wir alle sind ja Abkömmlinge von Migranten.

Im Gedicht „Herbergssuche“ heißt es:

wir sind vertriebene von anfang an 

den migrationshintergrund in den genen

irrend durch raum und zeit

wir die wohnmobilen

flüchten vor der gefühlten kälte

obdachlos noch in der herzkammer

wir im nachtasyl

der heimwehkranken

frostiges fremdeln vor uns selbst

(aus: A. Knapp, Heller als Licht, Echter-Verlag, 44)

Wir alle stammen aus dem Migrationszusammenhang der Menschheit. Zu unseren Vorfahren gehören Sammler und Jäger, Nomaden und Hirten. Wir sind Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und auch von Josef, der als Fremder für seine neue Heimat so wichtig wurde und sie vor einer Hungerkatastrophe bewahrt hat.
Erinnern wir den Pharao in uns daran, dass alle Menschen durch die Migrationsgeschichte verbunden sind. Wir können uns gegenseitig stützen und uns durch unsere verschiedenen Gaben für eine bessere Zukunft vorbereiten. So wie Josef einst Ägypten seine neue Heimat gerettet hat. Wenn wir uns füreinander interessieren und uns öffnen, können wir auch im eigenen Herzen mehr Frieden schließen mit den befremdlichen Anteilen, die in uns selber wohnen. 
Wenn es uns gelingt, die Ängste vor dem Fremden in unserer Mitte, im eigenen Herzen und in unserer Gesellschaft abzubauen, so können wir immer mehr entdecken, dass wir als Kinder des einen Vaters Schwestern und Brüder sind. Gott hat uns gegenseitig zum Geschenk gemacht, als Bereicherung und Unterstützung. Und so können wir uns auch gegenseitig ein Zuhause schenken auf dem Weg zu jener Heimat, die Gott selbst für uns sein will.

Amen.